L 6 R 868/08

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 14 RJ 1369/02 A
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 6 R 868/08
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Fortgeltung des Abkommens vom 12.10.1968 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Förderation Republik Jugoslawien über Soziale Sicherheit (Abk. Jugosl. Soz.Sicher) in der Republik Bosnien und Herzegowina.
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 29. Dezember 2004 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Streitig ist, ob die Beklagte der Klägerin ihre zur deutschen Rentenversicherung geleisteten Beiträge zu erstatten hat.

Die Klägerin ist 1950 in Bosnien-Herzegowina geboren und besitzt die entsprechende Staatsangehörigkeit. In der Zeit vom 04.03.1970 bis 31.03.1973 entrichtete sie aufgrund versicherungspflichtiger Beschäftigungen in Deutschland insgesamt 35 Rentenpflichtbeiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter. Im April 1973 kehrte sie in die Heimat zurück.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 11.02.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2002 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 07.02.2002 auf Beitragserstattung im Wesentlichen mit der Begründung ab, die Klägerin sei nach Art.3 Abs.1 des im Verhältnis zur Republik Bosnien und Herzegowina fort geltenden Sozialversicherungsabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien vom 12.10.1968 berechtigt, sich in der deutschen Rentenversicherung freiwillig zu versichern (§ 7 Abs.1 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch, SGB VI). Damit seien die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Beitragserstattung nach § 210 SGB VI nicht erfüllt.

Die hiergegen am 29.10.2002 zum Sozialgericht Landshut (SG LA) erhobene Klage begründete die Klägerin im Wesentlichen damit, dass sie keinen Anspruch auf eine deutsche Rente habe und sie das Geld für eine Auswanderung nach Österreich benötige.

Nach entsprechender Anhörung der Beteiligten hat die 14. Kammer des SG LA die Klage durch Gerichtsbescheid vom 29.12.2004 im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, das deutsch-jugoslawische Abkommen finde durch Notenwechsel zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bosnien-Herzegowina vom 13.11.1992 weiterhin Anwendung, so dass die Klägerin nach Art.3 Abs.1 des Abkommens über Soziale Sicherheit vom 12.10.1968 berechtigt sei, sich feiwillig zu versichern. Der Gerichtsbescheid ist der Klägerin am 17.01.2005 zugestellt worden.

Am 10.02.2005 ist beim SG LA ein Schreiben der Klägerin eingegangen, in dem sie mitgeteilt hat, dass sie aus sprachlichen Gründen den Inhalt des Gerichtsbescheides nicht verstehe. Hierauf hat das SG mit Schreiben vom 28.02.2005 der Klägerin in bosnischer Sprache dargelegt, dass mit dem Gerichtsbescheid die Klage abgewiesen worden sei und die Möglichkeit bestehe, hiergegen Berufung einzulegen. Ein Hinweis auf die in Kürze ablaufende Berufungsfrist ist nicht erfolgt.

Am 24.10.2005 ist beim SG eine "Beschwerde" der Klägerin gegen die Entscheidung vom 29.12.2004 eingegangen, mit der sie ihr Unverständnis mit der ergangenen Entscheidung zum Ausdruck gebracht und zugleich einen Antrag auf Rentengewährung gestellt hat.

Das SG hat jeweils mit Schreiben vom 21.11.2005 der Beklagten den Rentenantrag sowie dem Bayer. LSG die "Berufungsschrift" (erfasst mit dem Az.: L 6 R 832/05) übersandt.

Mit Bescheid vom 07.12.2005 hat die Beklagte den Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung mit der Begründung abgelehnt, auf die Wartezeit seien nur zwei Jahre und elf Monate anrechenbar.

Der Senat hat der Beklagten mit Schreiben vom 22.03.2006 mitgeteilt, dass der Klägerin Wiedereinsetzung bezüglich der versäumten Berufungsfrist zu gewähren sei, da sie mit Schreiben des SG keinen Hinweis auf die Berufungsfrist erhalten habe. Die Klägerin ist mit Schreiben vom 22.03.2006 darauf hingewiesen worden, dass sie auch mit bosnischen Versicherungszeiten die Wartezeit noch erfüllen könne. Hierauf hat die Klägerin angegeben, dass sie nach dem Krieg in Bosnien drei Jahre lang gearbeitet habe.
Im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des 13. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23.05.2006 hat der Senat das Verfahren mit Beschluss vom 06.07.2007 ausgesetzt. Nachdem das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 25.08.2008 (2 BvM 3/06) die Erledigung des Vorlagebeschlusses des BSG festgestellt hatte, hat der Senat dem Antrag der Beklagten entsprochen und das Verfahren (unter dem neuen Az.: L 6 R 868/08) wieder aufgenommen.
Mit Schreiben vom 28.12.2010 hat die Beklagte schließlich mitgeteilt, dass der bosnische Versicherungsträger die in Bosnien zurückgelegten Zeiten jetzt bestätigt habe, wodurch insgesamt 66 auf die Wartezeit anrechenbare Monate nunmehr anzuerkennen seien.Mit weiterem Schreiben vom 28.07.2011 hat die Beklagte dargelegt, dass sich der gesamte Erstattungsbetrag auf 1.395,87 EUR belaufe und die monatliche Rentenanwartschaft derzeit 50,21 EUR betrage. Regelaltersrente könne die Klägerin ab 01.10.2015 beanspruchen.

Nach Ladung zur mündlichen Verhandlung ist am 23.08.2011 die schriftliche Mitteilung der Klägerin eingegangen, dass sie die in deutscher Sprache abgefassten Schreiben der Beklagten und des Gerichts nicht verstehe. Zur mündlichen Verhandlung ist für die Klägerin niemand erschienen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Beklagte, unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des SG Landshut vom 29.12.2004 und des Bescheides der Beklagten vom 11.02.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2002, zu verurteilen, die in der Zeit von März 1970 bis März 1973 von ihr entrichteten Rentenbeiträge zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Entscheidungen aus den hierin dargelegten Gründen für zutreffend.
Im Übrigen wird auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie den der Akten des SG und des LSG Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG Landshut vom 29.12.2004 ist zulässig, sachlich aber unbegründet.

Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass die Klägerin "ohne Verschulden" verhindert war, die Berufungsfrist von drei Monaten nach Zustellung des angefochtenen Gerichtsbescheides einzuhalten. Denn auf ihr bereits am 10.02.2005 beim SG LA eingegangenes Schreiben wäre eine umfassende Belehrung, nicht nur zur Möglichkeit der Berufungseinlegung, sondern auch zur Berufungsfrist, angezeigt gewesen. In ihrem weiteren am 24.10.2005 beim SG LA eingegangenen Schreiben kommt hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass die Klägerin eine gerichtliche Überprüfung des Gerichtsbescheides begehrt. Damit sind die Fristen des § 67 Sozialgerichtsgesetz (SGG), insbesondere auch die Jahresfrist des § 67 Abs.3 SGG, eingehalten. Einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und einer Entscheidung des Senats in der Hauptsache steht damit - nach erfolgter Anhörung der Beteiligten - kein Hindernis entgegen (vgl. auch Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. A., § 67 Rdnr.18).

Die somit zulässige Berufung ist jedoch unbegründet. Denn zu Recht haben die Beklagte und das SG den in der Hauptsache erhobenen Anspruch auf Erstattung der Arbeitnehmeranteile verneint.

Gemäß § 210 Abs.1 Nrn.1 und 2, Abs.2 und Abs.3 Satz 1 SGB VI in der zum Antragszeitpunkt maßgebenden Fassung werden Versicherten Beiträge in der Höhe erstattet, in der sie diese getragen haben (d.h. die Arbeitnehmeranteile), wenn seit dem endgültigen Ausscheiden aus der Versicherungspflicht 24 Kalendermonate abgelaufen sind und die Versicherten nicht das Recht zur freiwilligen Versicherung haben oder die Regelaltersgrenze erreicht, aber die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt haben.

Die Klägerin, die (nach wie vor die Regelaltersgrenze nicht erreicht und die allgemeine Wartezeit zudem erfüllt hat), ist seit mehr als 24 Kalendermonaten aus der Versicherungspflicht ausgeschieden; sie ist jedoch zur freiwilligen Versicherung berechtigt: Die in §§ 7, 232 SGB VI geregelte Berechtigung zur freiwilligen Versicherung wird durch die Regelungen in einzelnen Sozialversicherungsabkommen ergänzt (KassKomm-Wehrhahn,
§ 210 SGB VI Rdnr.6). Vorliegend ist das deutsch-jugoslawische Sozialversicherungsabkommen von 1968 maßgebend, da dieses Abkommen laut Vereinbarung, die Deutschland mit Bosnien-Herzegowina getroffen hat, weiterhin Anwendung findet.

Die Fortgeltung des deutsch-jugoslawischen Sozialversicherungsabkommens für die Republik Bosnien-Herzegowina wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein verbindlicher völkerrechtlicher Vertrag laut Vorlagebeschluss des 13. Senats des BSG vom 23.05.2006 (B 13 RJ 17/05 R) noch nicht vorliegt, solange die zwischenstaatliche Vereinbarung nicht in dem Verfahren nach Art.59 Abs.2 Satz 1 GG in innerstaatliches Recht transformiert worden ist. Dies gilt auch unter Beachtung des verfassungsrechtlich geregelten Gesetzesvorbehaltes (Art.20 Abs.3 GG), in seiner konkreten Ausgestaltung durch § 31 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch, SGB I. Denn für alle abgespaltenen Nachfolgestaaten der ehemaligen Föderativen Republik Jugoslawien hat sich ein entsprechendes Völkergewohnheitsrecht (vgl. hierzu Vorlagebeschluss des 13. Senats des BSG vom 23.05.2006, a.a.O.) herausgebildet, wonach jedenfalls das hier entscheidungserhebliche Sozialversicherungsabkommen - gegebenenfalls bis zum Abschluss eines neuen Sozialversicherungsabkommens (wie z.B. mit Slowenien, Kroatien und Mazedonien) - Fortgeltung finden soll.

Der Senat hat keine verfassungsrechtlich (bzw. völkerrechtlich) begründeten Bedenken, eine entsprechende Fortgeltung des Sozialversicherungsabkommens anzuerkennen. Denn die Grundsätze der Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und Berechenbarkeit erfordern gleichsam die sozialrechtliche Kontinuität auch nach erfolgter Separation bzw. Dismembration (vgl. hierzu Vorlagebeschluss). Sowohl im Interesse der Vertragsstaaten als auch ihrer Angehörigen ist die Fortgeltung der Vertragsbeziehungen und der entsprechenden innerstaatlichen Sozialgesetze unerlässlich: Ein Automatismus dergestalt, dass durch eine Änderung der Verhältnisse eo ipso ein Gesetz obsolet würde ist unserer Rechtsordnung fremd. Rechtsstaatliche Grundsätze erfordern in der Regel einen Aufhebungsakt, der unter Beachtung der entsprechenden Formvorschriften - hier also des formellen Gesetzgebungsverfahrens - die bisherige Rechtslage rückgängig macht bzw. den geänderten Verhältnissen anpasst. Insofern kann auch aus der Regelung des Art. 59 Abs. 2
Satz 1 GG nicht unmittelbar abgeleitet werden, dass die Fortgeltung eines verfassungsrechtlich ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes nur dann anzunehmen sei, wenn es nach Änderung der Sachlage durch ein neues formelles Gesetz bestätigt oder ersetzt werde.

Darüber hinaus gebieten die Funktionsfähigkeit der neuen Teilstaaten des ehemaligen Jugoslawien, aber auch die Interessen der betroffenen Versicherten, die kontinuierliche Fortgeltung der bisherigen Anspruchsgrundlagen. Entsprechende Eingriffe in (eigentumsrechtlich geschützte) Anwartschaften sind wiederum nur unter dem Vorbehalt des Gesetzes möglich:
Das deutsch-jugoslawische Sozialversicherungsabkommen begründet in aller Regel rechtliche und wirtschaftliche Vorteile für die betroffenen Versicherten bzw. Anspruchsberechtigten. Dies gilt im Übrigen auch hinsichtlich des erhobenen Anspruchs (§ 123 SGG) auf Erstattung der Beiträge, die die Klägerin selbst getragen hat. Denn erstattet werden nur die Arbeitnehmeranteile; hierdurch erlischt der Rentenanspruch aber insgesamt, also auch die Anwartschaft aus den Arbeitgeberanteilen (vgl. § 210 Abs. 6 Sätze 2 und 3
SGB VI). Diese gesetzliche Regelung verstößt nicht gegen das Grundgesetz (vgl. hierzu z.B. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16.06.1981, 1 BvR 445/81 - in SozR 2200 § 1303 Nr.19). Auch unter diesem Gesichtspunkt können die abgespaltenen Staaten der ehemaligen Förderativen Republik Jugoslawien nicht daran interessiert sein, dass ihre Angehörigen sich im Ausland erworbene Rentenanwartschaften abgelten lassen. Denn mittel- und längerfristig entlasten die vollen Ansprüche ihrer Bürger (d.h. aus Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen) gegenüber dem ausländischen Versicherungsträger die Sozialkassen der neu gegründeten Staaten. Eine zum gänzlichen Verlust der Rentenanwartschaft führende Erstattung nur des halben Beitragswertes ist letztendlich sowohl für den Staat als auch für den Einzelnen nachteilig.

Aufgrund der fort geltenden Gleichstellung mit deutschen Staatsangehörigen gemäß
Art. 3 Abs. 1 des deutsch-jugoslawischen Sozialversicherungsabkommens ist die Klägerin mithin zur freiwilligen Beitragsentrichtung nach wie vor berechtigt und die Voraussetzungen für die Beitragserstattung gemäß § 210 SGB VI sind somit nicht erfüllt.

Der Klägerin ist unter den gegebenen Umständen anheim zu stellen, rechtzeitig vor Erreichung der Regelaltersgrenze (also spätestens im Juni 2015) die Regelaltersrente zu beantragen. Nachdem zwischenzeitlich auch die Erfüllung der Wartzeit festgestellt worden ist, kann die Klägerin von der Beklagten ferner eine Überprüfung des Ablehnungsbescheides vom 07.12.2005 gem. § 44 Sozialgesetzbuch,10.Buch,SGB X verlangen, wobei nach den vorliegenden Unterlagen eine Rentengewährung wegen Erwerbsminderung aufgrund der Nichterfüllung der zusätzlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (mindestens 36 Pflichtbeiträge im 5-Jahreszeitraum vor Eintritt des Leistungsfalls) weiterhin ausgeschlossen sein dürfte.

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG und folgt der Erwägung, dass die Klägerin auch im Berufungsverfahren unterlegen ist.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich, zumal die im Vorlagebeschluss des BSG noch angesprochenen rechtlichen Probleme - bezogen auf die Rechtsbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Bosnien-Herzegowina - mittlerweile hinreichend erörtert, praxisbezogen gelöst und gerichtlich entschieden worden sind.
Rechtskraft
Aus
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