L 2 P 82/10

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 14 P 105/09
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 82/10
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ob Pflegebedürftigkeit vorliegt, richtet sich danach, inwieweit die Ausführung der gewöhnlichen und wieder kehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens krankheits- oder behinderungsbedingt eingeschränkt oder aufgehoben ist und ein Bedarf an Hilfeleistungen besteht.
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 23. August 2010 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Zwischen den Beteiligten sind Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe II in Form von Leistungen der voll stationären Pflege streitig.

Der 1943 geborene Kläger ist bei der Beklagten als Rentner pflegeversichert und bezieht seit 27.06.2007 Leistungen der Pflegestufe I für stationäre Pflege (Bescheid vom 11.07.2007). Er steht unter Betreuung und leidet u. a. an einem hirnorganischen Psychosyndrom.

Am 30.07.2009 beantragte die Betreuerin des Klägers bei der Beklagten erneut die Höherstufung in Pflegestufe II. Daraufhin ließ die Beklagte den Kläger durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Bayern begutachten. In dem Gutachten vom 13.08.2009, das die Pflegefachkraft Frau G. J. nach Hausbesuch im Pflegeheim des Klägers am 12.08.2009 erstattete, kam die Sachverständige zum Ergebnis, dass beim Kläger ein täglicher Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 57 Minuten (Körperpflege 27 Minuten, Ernährung 10 Minuten, Mobilität 20 Minuten) sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von täglich 45 Minuten bestehe. Die Alltagskompetenz des Klägers sei in erhöhtem Maße eingeschränkt im Sinne des § 45 a Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI). Mit Bescheid vom 18.08.2009 lehnte die Beklagte die Einstufung in Pflegestufe II ab.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren holte die Beklagte ein weiteres Gutachten nach Hausbesuch durch die Pflegefachkraft A. M. ein. Der Gutachter ermittelte einen grundpflegerischen Hilfebedarf des Klägers von 65 Minuten (32/10/23 Minuten) sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von täglich 45 Minuten. Mit Widerspruchsbescheid vom 09.12.2009 wurde der Widerspruch daraufhin zurückgewiesen.

Hiergegen legte der Kläger am 21.12.2009 Klage beim Sozialgericht Würzburg (SG) ein. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers erheblich verschlechtert habe, weshalb ihm ab April 2009 das Merkzeichen "RF" bewilligt worden sei. Auch sei der Besuch des Gutachters nicht rechtzeitig schriftlich (zwei bis drei Wochen vorher) angekündigt worden. Deshalb leide das Gutachten unter einem erheblichen Verfahrensmangel.

Das SG zog im Rahmen der Ermittlungen die Schwerbehindertenakte des Klägers vom Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) Würzburg bei, des Weiteren ärztliche Unterlagen des Hausarztes Dr. C. vom 07.05.2010. Im Anschluss daran wurde der Internist und Sozialmediziner Dr. D. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Er kam am 10.07.2010 nach Hausbesuch zum Ergebnis, dass beim Kläger ein Hilfebedarf von täglich 56 Minuten (38 Minuten/12 Minuten/6 Minuten) bestehe. Gegenüber dem Vorgutachten aus dem Jahr 2007 sei keine wesentliche Änderung festzustellen. Die Alltagskompetenz des Klägers sei in erhöhtem Maße eingeschränkt. Die Betreuerin wendete hiergegen ein, dass der Sachverständige weder die Pflegedokumentation bzw. die Pflegeplanung eingesehen habe noch die Begleitung einer Pflegefachkraft in Anspruch genommen habe. Auch seien keinerlei Angaben zum Pflegebedarf beim diensthabenden Pflegepersonal eingeholt worden. Dem Kläger stünden die Merkzeichen "H" und "RF" zu.

Nach Anhörung wies das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 23.08.2010 ab. Es stützte sich im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr. D ...

Hiergegen hat der Kläger am 04.10.2010 Berufung eingelegt. Mit Schreiben vom 17.11.2010 hat der Senat der Betreuerin mitgeteilt, dass ein Gutachten von Amts wegen nicht eingeholt werde. Die Betreuerin hat erneut darauf hingewiesen, dass der Sachverständige Dr. D. keine individuellen Ermittlungen des Pflegebedarfs durchgeführt habe. Er habe weder Einsicht in die Pflegedokumentation genommen noch eine Schilderung des Tagesablaufs durch die Stationsschwester abgefragt. Der Sachverständige hat am 04.01.2011 eine ergänzende Stellungnahme dahingehend abgegeben, dass er die Pflegedokumentation eingesehen habe, allerdings nicht in Anwesenheit der Pflegedienstleitung. Des Weiteren habe er auf die Begleitung einer Pflegefachkraft mangels Erfordernis verzichtet.

Auf Antrag des Klägers hat der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. C. ein Gutachten nach Hausbesuch erstattet. Er ist am 04.11.2011 zum Ergebnis gekommen, dass beim Kläger ein Hilfebedarf von 34 Minuten besteht (26/5/3). Im Bereich der Körperpflege bestehe ein Hilfebedarf von 26 Minuten für Ganzkörperwäsche viermal pro Woche, von vier Minuten für dreimal wöchentliches Duschen sowie von sechs Minuten täglich für die Zahnpflege. Des Weiteren fielen eine Minute für Kämmen, fünf Minuten für Rasieren, drei Minuten für Wasserlassen, eine Minute für Stuhlgang an. Im Bereich der Ernährung seien die mundgerechte Zubereitung der Nahrung mit zwei Minuten sowie die Aufnahme der Nahrung (Getränke mit drei Minuten) mit fünf Minuten anzurechnen. Im Bereich der Mobilität ergebe sich für das Ankleiden ein Zeitbedarf von drei Minuten. Ansonsten fiele insoweit kein Hilfebedarf an.

Daraufhin hat die Bevollmächtigte des Klägers auf ein Gutachten der Sachverständigen N. F. vom 01.04.2009 für das Bayer. Landessozialgericht in dem Verfahren L 15 SB 47/08 hingewiesen. Des Weiteren hat sie mitgeteilt, dass der Kläger in den letzten Monaten von seinem Taschengeld sowie von den Rücklagen seinen täglichen Alkohol- und Zigarettenverbrauch finanzieren konnte. Mittlerweile seien alle Rücklagen aufgebraucht. Deshalb könne der Alkohol- und Zigarettenkonsum nicht mehr im bisherigen Rahmen finanziert werden. Der Verbleib des pflegebedürftigen Suchtkranken sei im nicht mehr zu gewährleisten. Der Kläger müsse kurzfristig in einem Krankenhaus untergebracht und dort gepflegt werden (Selbstgefährdung). Zur Vermeidung weiterer Streitigkeiten mit sonstigen Pflegeheimen, Suchteinrichtungen etc. werde deshalb eine Entscheidung des Bayer. Landessozialgerichts hinsichtlich der Festsetzung der Pflegestufe des Klägers erbeten.

Mit Schreiben vom 07.02.2012 hat die Betreuerin mitgeteilt, dass sie den Termin vom 08.02.2012 aus gesundheitlichen Gründen absagen müsse. Ein Antrag auf Vertagung ist nicht gestellt worden.

Die Bevollmächtigte des Klägers beantragte sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 23.08.2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18.08.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.12.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Leistungen der Pflegestufe II zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Der Senat konnte den Rechtsstreit entscheiden, obwohl die Betreuerin des Klägers nicht anwesend war, da diese in der Ladung darauf hingewiesen worden war (§ 110 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Eine Vertagung war nicht beantragt.

Da der Senat die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurückweist, wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf eine weitere Darstellung der Entscheidungsgründe verzichtet.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der auf Antrag des Klägers ernannte Sachverständige Dr. C. in seinem Gutachten vom 04.11.2011 zum Ergebnis gekommen ist, dass beim Kläger ein Hilfebedarf von 34 Minuten besteht. Dies bedeutet, dass nach diesem Gutachten nicht einmal die Voraussetzungen von Pflegestufe I erfüllt sind. Es ist zu beachten, dass der Kläger tagsüber fast völlig teilnahmslos im Bett liegt, den Fernseher laufen lässt und ansonsten in Ruhe gelassen werden will. Dies bedeutet, dass beim Kläger Pflegeverrichtungen im Bereich der Mobilität nur in sehr geringem Maße anfallen. Dies wurde auch schon im Gutachten des Dr. D. für das Sozialgericht vom Juli 2010 deutlich. Auch zu diesem Zeitpunkt hat der Anteil der Pflege im Bereich der Mobilität nur noch sechs Minuten betragen; der zeitliche Hilfebedarf für die Grundpflege wurde auf 56 Minuten eingeschätzt, so dass nur die Voraussetzungen der Pflegestufe I anzunehmen waren.

Unzweifelhaft ist der Kläger schwer krank. Deshalb wurden ihm auch die Merkzeichen "H" und "RF" aufgrund des zitierten Gutachtens der Frau F. für das Bayer. Landessozialgericht bewilligt. Allerdings haben die Merkzeichen im Schwerbehindertenrecht keine automatische Wirkung für die Pflegeversicherung. Das Bundessozialgericht hat mit seinem Urteil vom 26.11.1998 (B 3 P 20/97 R) entschieden, dass unabhängig vom Grad der Behinderung die Zuordnung zu der Pflegestufe gesondert zu prüfen ist. Dies bedeutet einerseits, dass eine hilflose Person nicht in jedem Falle Pflegestufe II oder III erreicht. Andererseits kann aber auch eine Person, die Pflegestufe I hat, hilflos nach dem Schwerbehindertenrecht sein. Damit kann das Gutachten der Frau F. nicht die Gutachten des Dr. C. bzw. des Dr. D. entkräften. Es handelt sich um eine völlig andere Fragestellung.

Nicht mehr nachvollziehbar ist die Argumentation der Betreuerin im Berufungsverfahren, dass keine Senioreneinrichtung den Kläger aufnimmt, wenn er nur Pflegestufe I hat. Schon Dr. D. hat darauf hingewiesen, dass das für den Kläger nicht geeignet ist. Die Pflegeversicherung hat nicht die Aufgabe, über die Pflegestufe einen Menschen attraktiv zu machen, damit ihn eine Pflegeeinrichtung behält. Völlig neben der Sache liegt die Einlassung der Bevollmächtigten, dass der Kläger jetzt seinen Zigaretten- und Alkoholkonsum nicht mehr bedienen könne und deshalb aggressiv sei. Es ist nicht Aufgabe der Pflegeversicherung diesen Konsum zu finanzieren.

Im Ergebnis ist deshalb die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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