L 3 U 335/10

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 U 263/09
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 335/10
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine medizinische Sachverhaltsaufklärung im Einzelfall kann unterbleiben, wenn das Vorliegen einer Berufskrankheit nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV (Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule ...) bereits deswegen ausgeschlossen ist, weil die arbeitstechnischen Voraussetzungen auf Grund der Untersuchung des hälftigen Mindestbelastungswertes nach dem Mainz-Dortmund-Dosismodell (MDD) nicht gegeben sind (Bestätigung von BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R).
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 18.06.2010 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Der Kläger begehrt Leistungen nach dem Siebten Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII). Streitig zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen einer Berufskrankheit (BK) nach der Nr.2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV): Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Der Facharzt für Neurochirurgie Dr.L. zeigte unter dem 31.03.2008 an, dass der 1963 geborene Kläger u.a. an einem Bandscheibenprolaps C6/7 links, einem Nervenwurzelreizsyndrom C7 links und chronischen Cervikobrachialgien links leide. Da der Kläger seit 18 Jahren in der Firma E. GmbH in W. arbeite, werde die Abklärung einer Berufskrankheit angeregt.

Der Kläger gab im Fragebogen vom 21.04.2008 an, er sei seit dem 05.05.1991 als Arbeiter/Maschinist in der oben genannten Großbäckerei tätig. Er habe schwere Lasten heben, über Treppen tragen und schieben müssen. So habe er 5- bzw. 40-mal pro Arbeitsschicht Zucker und Fett mit einem Gewicht von 20 bis 50 kg beidhändig bzw. 5- bis 6-mal pro Arbeitsschicht Mehl und Altbrot mit einem Gewicht von 15 bis 50 kg mit einem Hubwagen getragen. Außerdem habe er Paletten von 600 kg mit einem Hubwagen und Kessel mit einer Last von 400 bis 450 kg gezogen.

Dr.L. teilte mit Arztbrief vom 17.05.2008 mit, der Kläger habe ihn erstmalig am 10.03.2008 wegen Wirbelsäulenbeschwerden in Anspruch genommen. Er leide seit 5 Monaten unter Schmerzen von der linken Schulter in den Oberarm ausstrahlend mit Taubheit am linken 1. und 2. Finger. Im Übrigen habe er einen Bandscheibenprolaps C6/7 links sowie ein C7-Nervenwurzelreizsyndrom links festgestellt.

Dr.S. wies mit Arztbrief vom 22.05.2008 auf einen Bandscheibenvorfall L4/L5 mit operativer Prolapsentfernung vom 03.04.2000 hin. Beigefügt war der Arztbrief des Dr.S. vom 03.12.2007. Dieser hatte ein rezidivierendes C6-Wurzelreizsyndrom und sensible Druckschädigung bei linksmediolateralem Prolaps diagnostiziert. Dabei sei die C7-Wurzel nicht beteiligt gewesen.

Der Arbeitgeber des Klägers teilte unter dem 30.05.2008 mit, dass dieser während seiner beruflichen Tätigkeit Lasten von bis zu 10 kg gehoben habe. Dabei habe er keine größeren Entfernungen zurücklegen müssen. Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung seien von dem Kläger nicht durchzuführen gewesen. Ihm hätten vor allem die Bedienung und das Überwachen von Produktionsanlagen in der Bäckerei oblegen.

Ausweislich des Befundberichtes des Klinikums A. vom 11.06.2008 litt der Kläger seit 1999 an Lumboischialgien. Ein großer mediolateraler nach kaudal sequestrierter Bandscheibenvorfall L4/L5 rechts sei im MRT der Lendenwirbelsäule vom 16.02.2000 festgestellt worden.

Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten ermittelte bei der Firma E. GmbH, dass der Kläger seit 1991 bis jetzt als Produktionsmitarbeiter 8 Stunden täglich im 2-Schichtbetrieb in der oben genannten Großbäckerei mit automatischem Prozessablauf beschäftigt war. Als Maschinenbediener an verschiedenen Anlagen war er für Überwachungsaufgaben und Gewichtskontrollen zuständig. Meistens wurden Brot und Brötchen produziert. Dabei wurden von dem Kläger Teigkessel gezogen oder geschoben. Überwiegend in den Monaten Januar und Februar musste bei der Krapfenproduktion 1- bis 3-mal pro Tag Zucker in einen 50-kg-Sack aufgefüllt werden. Sporadisch waren beispielsweise Backzutaten wie ein Karton Fritierfett à 10 kg bzw. 20 kg sowie im etwa 2-stündigen Rhythmus ein Sack Hefe à 15 kg zu heben. Weitere nennenswerte Hebe- und Tragetätigkeiten seien hierbei nicht anfallen. Die Häufigkeit der lediglich sporadisch anfallenden Hebe- bzw. Tragetätigkeiten während der Schicht lasse sich nach Angaben des Betriebsleiters nicht beziffern.

In der Stellungnahme vom 17.06.2008 kam der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten zu dem Ergebnis, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK nach der Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV nicht gegeben seien. Es seien nur sporadisch Lasten in geringem Umfang vom Kläger gehoben und getragen worden. Es fehle damit an einer gewissen Regelmäßigkeit, weshalb eine Berechnung nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) unterbleiben könne. Als Maschinenbediener an verschiedenen Anlagen sei der Kläger vorrangig für Überwachungsaufgaben und Gewichtskontrollen zuständig gewesen. Auch der Arbeitsmediziner Dr.K. empfahl in der gewerbeärztlichen Stellungnahme vom 09.09.2008, das Vorliegen einer BK nach der Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV abzulehnen.

Dementsprechend lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16.09.2008 ab eine Berufskrankheit (BK) nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV festzustellen. Der Bescheid wurde am 17.09.2008 zur Post gegeben.

Nachdem sich die behandelnde Ärztin des Klägers Dr.S. mit Schreiben vom 13.10.2008 hiergegen wandte, wurde der Präventionsdienst der Beklagten um Stellungnahme gebeten. Dieser gelangte unter dem 18.02.2009 erneut zu dem Ergebnis, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK nach der Nr.2109 der Anlage 1 zur BKV nicht vorlägen (Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch längeres Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können). Der Kläger sei zwischen dem 11.03.1991 und November 2007 an 5 Tagen pro Woche (bei Bedarf auch an 6 Tagen pro Woche) als Produktionsmitarbeiter in der Großbäckerei beschäftigt gewesen. Als Maschinenführer habe er an diversen Bäckereimaschinen gearbeitet. Diese habe er überwacht bzw. sei für deren Beschickung zuständig gewesen. Täglich würden 20- bis 30-mal mit Rädern ausgestattete Kessel mit 300 kg Teig von ihm geschoben.
2-mal pro Woche würde der Rest der Teigaufarbeitung aus dem Kessel in gebückter Haltung gekratzt. In der Müsliproduktion würden im halbstündigen Rhythmus letzte Teigreste in gebückter Körperhaltung aus dem Kneter gekratzt. Alle 2 bis 3 Wochen würden 16 bis 18 Big Bags mit einem Gewicht von 500 kg mittels Handhubwagen gezogen. In der Tiefkühlbrötchenproduktion würden 3- bis 4-mal pro Woche etwa 30 bis 40 Kessel auf Rädern mit einem Gewicht von 300 kg gezogen oder geschoben. Bei der Brotproduktion würde der Restteig nach Anheben und Kippen der Kessel mittels Schaber in gebückter Haltung ausgekratzt. Es würden Lasten von ca. 25 kg und 50 kg gehoben und über eine Wegstrecke von 2 bis 3 m getragen. Auf der Schulter habe der Kläger Kartons von Fett mit einem Gewicht von 15 kg getragen. Bei der Teigproduktion seien 15 kg schwere Hefegebinde und Fettkartons von einer Platte genommen und in die Teigmaschine gegeben worden.

Der Klägerbevollmächtigte legte am 21.07.2009 gegen den Bescheid vom 16.09.2008 Widerspruch ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Widerspruchsfrist.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 26.08.2009 zurück.

Hiergegen hat der Bevollmächtigte des Klägers am 25.09.2008 Klage beim Sozialgericht Augsburg (SG) erhoben mit dem Ziel der Gewährung einer Verletztenrente anlässlich der BK nach der Nr.2108 und der im Parallelverfahren S 5 U 152/10 geltend gemachten BK nach der Nr.2109. Der Kläger sei bei der Ermittlung des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten zur Arbeitsplatzexposition nicht beteiligt worden. Die ermittelten Expositionen entsprächen nicht den tatsächlichen Gegebenheiten.

Die Beklagte hat am 29.01.2010 einen Bescheid erlassen, mit welchem sie es abgelehnt hat, ihren Bescheid vom 16.09.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.08.2009 nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zurückzunehmen. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 15.04.2010 zurück. In beiden Bescheiden verneinte sie die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BK Nr.2108.

Nach entsprechender Ankündigung hat das SG die Klage gegen die Bescheide vom 16.09.2008 und 29.01.2010 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 26.08.2009 und 15.04.2010 mit Gerichtsbescheid vom 16.06.2010 abgewiesen. Dem Begehren des Klägers auf Feststellung einer BK nach der Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV und auf Gewährung einer entsprechenden Verletztenrente sei nicht zu entsprechen. Es fehle bereits an den hierfür erforderlichen arbeitstechnischen Voraussetzungen. Würden die Orientierungswerte wie hier so deutlich unterschritten, dass das Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht werde, sei eine BK nach Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV zu verneinen, ohne dass es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang im Einzelfall bedürfe. Der untere Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der Lendenwirbelsäule ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden könne, sei auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 MNh, also auf 12,5 MNh, herabzusetzen. Nach den nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten vom 17.06.2008 erfülle der Kläger die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK nach der Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV nicht. Er sei während seiner beruflichen Tätigkeit als Arbeiter in der Großbäckerei der Firma E. GmbH einer Gesamtdosisbelastung nach dem MDD von mindestens 12,5 MNh nicht ausgesetzt gewesen. Denn gefährdend seien regelmäßig nur manuelle Lastenhandhabungen von ca. 250 Hebe- oder Umsetzvorgängen oder einer Gesamttragedauer von 30 Minuten pro Arbeitstag. Einer solchen Arbeitsplatzexposition sei der Kläger nach seinen eigenen Angaben nicht ausgesetzt gewesen.

Mit der hiergegen eingelegten Berufung vom 22.07.2010 beantragen die Bevollmächtigten des Klägers die Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Augsburg vom 18.06.2010 und der zu Grunde liegenden Bescheide der Beklagten sowie die Bewilligung einer Rente wegen Berufskrankheit ab dem 21.11.2007, hilfsweise ab dem 31.03.2008: Der Kläger leide nicht nur an einer Funktionsstörung der Halswirbelsäule, sondern auch an erheblichen Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule (lumbale Bandscheibenoperation LWK 4/5). Auf die Stellungnahmen des Dr.L., des Klinikums A., Dr.S., Dr.S., Dr.S. und Dr.S. werde verwiesen. Zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen habe der Kläger im Fragebogen vom 21.04.2008 angegeben, dass er 5-mal pro Tag an 5 Tagen die Woche Zuckersäcke mit einem Gewicht zwischen 20 kg und 50 kg über eine Strecke von 2 m alleine beidhändig trage. Darüber hinaus seien 40-mal täglich an 5 Tagen die Woche Gebinde mit Fett mit einem jeweiligen Gewicht von 20 kg über eine Tragestrecke von 1 m beidhändig getragen worden. Auch habe er angegeben, Mehlsäcke mit einem Gewicht zwischen 25 kg und 50 kg in einer 5-Tage-Woche täglich 5-mal über eine Wegstrecke von 50 m mit einem Hubwagen gezogen zu haben. Diese Säcke hätten zunächst auf- und sodann wieder abgeladen werden müssen. Zudem habe er Altbrot zwischen 15 kg und 20 kg an 5 Tagen die Woche 6-mal über eine Wegstrecke von 150 m mit dem Hubwagen transportiert und täglich 40 Teige mit je 300 kg angesetzt. Diese Teige seien schließlich durch ihn zum Lastenaufzug transportiert worden. Sie hätten zusammen mit dem Kessel ein Gesamtgewicht von 400 kg gehabt. Schließlich habe er die jeweiligen Teigkessel in gebückter Rumpfbeugehaltung auskratzen müssen. Er habe Paletten mit einer Last von etwa 400 kg zu ziehen gehabt. Diese belastenden Tätigkeiten hätten die Lebensbelastungsdosis bei Weitem überstiegen. Nach den Angaben des Arbeitgebers vom 30.05.2008 hätte der Kläger überwiegend im Stehen gearbeitet und dabei von Hand Gegenstände bis zu 10 kg gehoben. Angaben über den Umfang der Hebetätigkeiten seien dagegen nicht gemacht worden, Tragetätigkeiten und Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung seien ebenfalls durch den Arbeitgeber verneint worden. Diese Angaben würden nicht stimmen. Dementsprechend seien auch die Feststellungen des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten unzutreffend.

Der Technische Aufsichtsdienst hat in der Stellungnahme vom 05.10.2010 die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BK 2108 wieder verneint. Danach hat der Kläger im Zeitraum 11.03.1991 bis 01.12.2007 über 16,73 Jahre sowohl Mehlsäcke mit 20 kg als auch Mehlsäcke mit 50 kg beidseitig gehoben. Dies erfolgte 5-mal pro Schicht über je 5,0 Sekunden bzw. 7,5 Sekunden. Weiterhin wurde der Transport von 20 kg Fett in 5 Schichten pro Woche berücksichtigt, ebenso das Auf- und Abladen von Mehlsäcken auf Hubwagen mit einem Gewicht von 20 kg bzw. 50 kg (beidhändiges Heben 3-mal pro Schicht mit einer Dauer des Hebevorgangs von je 5 Sekunden. Entsprechendes gilt für das Auf- und Abladen von Altbrot auf den Hubwagen (20 kg; beidhändiges Heben, 6-mal pro Schicht je 5,0 Sekunden). Hiervon ausgehend hat der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten eine Gesamtdosis von ca. 10,11 MNh errechnet, welches einem Prozentsatz von 40 % des Orientierungswertes der Gesamtdosis von 25 MNh entspricht.

Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Schriftsatz vom 29.03.2011 erwidert, dass die dem MDD zugrunde liegenden Mindestwerte pro Arbeitsgang bei Männern nach unten auf 2.700 N zu korrigieren seien. Zudem habe der Kläger auch erhebliche Gewichte mit dem Hubwagen transportiert, täglich 40 Teige mit je 300 kg angesetzt, die Teige in dem Kessel (Gesamtgewicht von ca. 400 kg) zum Lastenaufzug transportiert und schließlich den jeweiligen Teigkessel in gebückter Rumpfbeugehaltung ausgekratzt. Unberücksichtigt sei auch das Ziehen von Paletten mit einer Last von etwa 600 kg geblieben.

In der vierten Stellungnahme (21.11.2011) kommt der Technische Aufsichtsdienst auf Grund der vom Kläger angegebenen Tätigkeiten und Lastgewichte zu dem Ergebnis, dass die Gesamtbelastungsdosis 9,4 x 106 Nh beträgt.

In der mündlichen Verhandlung vom 28.02.2012 stellt die Bevollmächtigte des Klägers den Antrag:
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 18.06.2010 und die Bescheide der Beklagten vom 16.09.2008 und 29.01.2010 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 26.08.2009 und 15.04.2010 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger vom 21.11.2007, hilfsweise ab 31.03.2008, Rente wegen der Berufskrankheit nach der Nr.2108 zu bezahlen.

Der Bevollmächtigte der Beklagten beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Im Übrigen auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, des SG und des BayLSG sowie der vorbereitenden Schriftsätze Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144,Abs.1 Satz 2, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG); sie ist jedoch nicht begründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung, dass die bei ihm vorliegende Funktionsstörung der Lendenwirbelsäule eine Berufskrankheit nach der Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV ist, und dementsprechend keinen Anspruch auf Verletztenrente.

Nach § 44 Abs.1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten Letzterer aufzulösen. Bei Überprüfungsanträgen nach § 44 SGB X ist entsprechend dem Umfang des Vorbringens des Versicherten eine erneute Prüfung erforderlich (Bundessozialgericht - BSG, Urteil vom 05.09.2006 - B 2 U 24/05 R - BSGE 97, 54).

Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 Sozialgesetzbuch VII (SGB VII) begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs.1 Satz 1 i.V.m. § 193 Abs.8 SGB VII).

Hierzu gehören nach der Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV (Art.1 Gesetz vom 07.08.1996, BGBl I S. 1254) bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Mit der Aufnahme einer Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten wird indes nur die mögliche Ursächlichkeit einer beruflichen Schädigung generell anerkannt und die Erkrankung als solche für entschädigungswürdig befunden. Im Einzelfall ist für das Vorliegen des Tatbestands der Berufskrankheit ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit ausreicht (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.2000 - B 2 U 29/99 R - SGb 2000, 540). Nach dem in der Unfallversicherung geltenden Prinzip der wesentlichen Mitverursachung ist nur diejenige Bedingung als ursächlich für eine Berufskrankheit anzusehen, die im Verhältnis zu anderen Umständen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg und dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs ist gegeben, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände die auf die berufliche Verursachung bedeutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann. Eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach geltender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden. Die für den Kausalzusammenhang sprechenden Umstände müssen die gegenteiligen dabei deutlich überwiegen (vgl. Bereiter/Hahn/ Mehrtens, § 8 SGB VII Anm.10.1 mit weiteren Nachweisen).

Die Bescheide der Beklagten vom 16.09.2008 und 29.01.2010 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 26.08.2009 und 15.04.2010 sind nicht zu beanstanden, da bei dem Kläger unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze keine Berufskrankheit nach der Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV vorliegt. Denn es fehlt bereits an den sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Entstehung einer entsprechenden bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule.

Das MDD legt für die Belastung durch Heben und Tragen keine Mindestwerte fest, damit ein erhöhtes Risiko von Bandscheibenschäden durch die berufliche Tätigkeit angenommen werden kann. Die auf Grund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder ermittelten Werte, insbesondere die Werte zur Gesamtbelastungsdosis, sind keine Grenzwerte, sondern Orientierungswerte oder -vorschläge. Hiervon geht auch das Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung aus (BArbBl 2006, Heft 10 S.30 ff.). Danach sind zwar die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK 2108 zu bejahen, wenn die Orientierungswerte erreicht oder überschritten werden. Umgekehrt schließt das Unterschreiten dieser Werte die BK nicht von vornherein aus (BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R = BSGE 99, 162 unter Fortführung von BSG vom 18.03.2003 - B 2 U 13/02 R = BSGE 91, 23; LSG Berlin-Brandenburg vom 03.11.2011 - L 3 U 229/08, zitiert nach juris).

Die Funktion von Orientierungswerten besteht in der Festsetzung von Größenordnungen, die erreicht werden müssen, damit die die Wirbelsäule belastenden Tätigkeiten als potentiell gesundheitsschädlich eingestuft werden können. Dies bedeutet aber nicht, dass die Orientierungswerte für den Nachweis der BK 2108 beliebig unterschritten werden können. Werden die Orientierungswerte so deutlich unterschritten, dass das Gefährdungsniveau auch nicht annährend erreicht wird, ist eine BK 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang bedarf (BSG vom 30.10.2007, a.a.O.; LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O.).

Mit den Entscheidungen vom 18.11.2008 (B 2 U 14/07 R = SGb 2009, 32, B 23 U 14/08 R = UV-Recht Aktuell 2009, 287) hat das BSG das MDD dementsprechend modifiziert. Die Mindestdruckkraft je Arbeitsvorgang bei Männern wird nunmehr mit 2700 N festgesetzt. Alle Hebe- und Tragebelastungen, die die o.g. Mindestbelastung von 2700 N bei Männern erreichen, sind entsprechend dem quadratischen Ansatz (Kraft mal Kraft mal Zeit) zu berechnen und zu addieren. Der untere Wert, bei dessen Unterschreiten nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der Lendenwirbelsäule ausgeschlossen und daher auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, ist auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 MNh, also auf 12,5 MHh herabgesetzt worden. Diesen Wert legt auch der Senat hier zu Grunde.

Das MDD ist nach o.g. Rechtsprechung (BSG vom 18.11.2008, a.a.O.) weiterhin eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der BKV Anlage Nr.2108 mit den unbestimmten Rechtsbegriffen "langjähriges" Heben und Tragen "schwerer" Lasten oder "langjährige" Tätigkeit in "extremer Rumpfbeugehaltung" nur richtungsweisend umschriebenen Einwirkungen.

Entgegen den klägerischen Ausführungen sind nicht sämtliche Krafteinwirkungen berücksichtigungsfähig, die auf irgendeine Art und Weise im Rahmen der beruflichen Tätigkeit des Klägers auf dessen Lendenwirbelsäule eingewirkt haben. Hierzu zählen vor allem die Zugbelastungen, die bei dem Ziehen schwerer Hubwagen entstanden sind (z.B. Transport teiggefüllter Kessel zum Lastenaufzug). Vielmehr steht das Ziehen eines auch schweren Hubwagens einem langjährigen Heben oder Tragen schwerer Lasten nicht gleich. Denn bei dem Ziehen (oder Schieben) auch von schweren Hubwagen wird der Körper insgesamt beansprucht und nicht die Lendenwirbelsäule einseitig belastet. Dies gilt auch für das Ziehen von Paletten mit einer Last von bis zu 600 kg, wie mit Schriftsatz vom 29.03.2011 vorgetragen. Denn in den vorstehend genannten Fällen ist lediglich der sogenannte "Rollwiderstand" zu überwinden.

Soweit der Kläger Teigkessel auskratzen bzw. säubern musste, hat es sich nicht um eine langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung gehandelt. Denn es ergibt sich bereits aus dem klägerischen Vorbringen, dass es sich hierbei nur um einen kleinen untergeordneten Teil seiner Tätigkeit gehandelt hat.

Bereinigt um die nicht berücksichtigungsfähigen Tätigkeiten entspricht die Stellungnahme des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten vom 21.11.2011 im Anschluss an die Stellungnahmen vom 17.06.2008, 11.07.2008 und 05.10.2010 den Vorgaben der Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV. Berücksichtigt worden sind in dem maßgeblichen Zeitraum 11.03.1991 bis 01.12.2007 (= 16,73 Jahre) das Heben und Tragen von Mehlsäcken mit einem Gewicht von 20 kg bzw. 50 kg, das Heben und Tragen von Fett mit 20 kg, das Auf- und Abladen von Mehlsäcken auf Hubwagen mit 20 kg bzw. 50 kg sowie das Auf- und Abladen von Altbrot auf Hubwagen mit 20 kg in dem jeweils genannten Umfang.

Wenn die Beklagte hierbei zugunsten des Klägers die tatsächlich auftretenden Hebekräfte von 3,300 N und 5,550 N berücksichtigt hat, ist dies nicht zu beanstanden. Denn das BSG hat mit Urteil vom 30.10.2007 (B 2 U 4/06 R - BSG 99, 162) ausgeführt, dass die durch die Deutsche Wirbelsäulenstudie gewonnenen neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einer Überprüfung des MDD führen müssen. Dennoch muss im Grundsatz am MDD als Maßstab zur Ermittlung der kritischen Belastungsdosis beim Heben und Tragen sowie beim Arbeiten in Rumpfbeugehaltung zunächst festgehalten werden, weil derzeit kein den Vorgaben der BK Nr.2108 gerecht werdendes Alternativmodell zur Verfügung steht. Die Weiterentwicklung des medizinischen Forschungszustands und die dabei sichtbar gewordenen Mängel des MDD erfordern aber Modifikationen in zweierlei Hinsicht: Zum einen müssen bei der Dosisberechnung auch Belastungen berücksichtigt werden, die in die Berechnung nach dem MDD keinen Eingang finden. Gleichzeitig müssen die Grenzwerte, ab denen von einem erhöhten Krankheitsrisiko durch die in der Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV genannten Einwirkungen auszugehen ist, deutlich niedriger als bisher angesetzt werden. Dabei hat es das BSG für sachgerecht gehalten, alle Hebe- und Tragebelastungen, die die aufgezeigte Mindestbelastung von 2.700 N bei Männern erreichen, entsprechend dem quadratischen Ansatz zu berechnen und aufzuaddieren, und eben diesem Erfordernis hat die aktuelle Stellungnahme des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten, vorgelegt mit Schriftsatz vom 05.10.2010, Rechnung getragen.

Schließlich ist der untere Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der Lendenwirbelsäule ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von
25 MNh herabzusetzen. Damit wird den Ergebnissen der Deutschen Wirbelsäulenstudie Rechnung getragen, die zur Empfehlung einer Absenkung der Schwellenwerte geführt und zugleich durch die Aufdeckung von Schwächen des MDD allgemein dessen Aussagewert als wissenschaftliche Basis für eine Quantifizierung der potentiell gesundheitsschädlichen Hebe- und Tragebelastungen gegenüber früheren Annahmen gemindert haben. Beides zusammen muss zu einer deutlichen Reduzierung der maßgeblichen Mindestbelastungsdosis führen (BSG, Urteil vom 30.10.2007 a.a.O.). Auch insoweit liegt die von dem Technischen Aufsichtsdienst nunmehr errechnete Gesamtdosis von 10,11 MNh unter der Hälfte des Orientierungswerts der Gesamtdosis in Höhe von 25 MNh. Die Beklagte wie auch das SG haben daher zutreffend darauf abgestellt, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit nach der Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV nicht erfüllt sind.

Nach alledem ist die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 18.06.2010 zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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