L 16 AS 202/11

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
16
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 52 AS 1676/08
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 16 AS 202/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 AS 51/12 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Wenn einem Antrag auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II Rückwirkung zukommt, so ist für die Abgrenzung zwischen Einkommen und Vermögen nicht der Zeitpunkt der Antragstellung, sondern der Beginn des Leistungszeitraums maßgeblich.
2. Deshalb sind Zuflüsse von Geld oder Geldewert, die zwar vor Antragstellung aber innerhalb des von der gesetzlichen Rückwirkung des Antrags erfolgten Zeitraums erfolgen, als Einkommen i.S.v. § 11 SGB II und nicht als Vermögen i.S.v. § 12 SGB II zu beurteilen.
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 07.10.2009 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ein noch vor Antragstellung, aber schon am Tag der Antragstellung ausgezahltes Gehalt als Einkommen oder als Vermögen zu berücksichtigen ist. Konkret geht es darum, ob das am 01.04.2008 dem Konto des Klägers (Kl.) gutgeschriebene Einkommen für den Monat März 2008 als Einkommen für den Monat April 2008 zuzurechnen war oder Vermögen darstellte.

Der Kläger (Kl.) hatte bis zum 31.03.2008 eine Beschäftigung und bekam sein letztes Gehalt für den Monat März 2008 in Höhe von 1.189,45 EUR netto am 01.04.2008 (Tag der Wertstellung laut Kontoauszug) auf seinem Konto bei der C. in C-Stadt gutgeschrieben. Ebenfalls am 01.04.2008 stellte er bei der Agentur für Arbeit B-Stadt einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 22.04.2008 für den Monat April 2008 mit der Begründung abgelehnt, dass der Kl. angesichts des Zuflusses von 1.189,45 EUR in diesem Monat nicht hilfebedürftig sei. Den dagegen am 27.05.2008 eingelegten Widerspruch wies die Bundesagentur für Arbeit, die frühere Beklagte (Bekl.), mit Widerspruchsbescheid vom 01.06.2008 als unbegründet zurück. Der Kl. sei nicht hilfebedürftig, weil ihm am 01.04.2008 das Märzgehalt zugeflossen sei. Dieses Gehalt sei gemäß § 2 Abs. 2 Arbeitslosengeld II/ Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V) unter Berücksichtigung der Kfz-Versicherung, Werbungskostenpauschale und Freibeträge nach § 30 SGB II in Höhe von 909,45 EUR anzurechnen.

Hiergegen hat der Kl. am 11.07.2008 beim Sozialgericht München (SG) Klage eingereicht.

Der Kl. hat in der mündlichen Verhandlung vom 07.10.2009 beim SG beantragt,
den Bescheid vom 22.04.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.06.2008 aufzuheben und die frühere Bekl. zu verpflichten, dem Kl. für April 2008 Leistungen nach dem SGB II ohne Anrechnung des Märzgehaltes zu zahlen.

Die frühere Bekl. hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Das SG hat mit Urteil vom 07.10.2009 (Az. S 52 AS 1676/08) entsprechend dem gleich lautenden Klageantrag des Kl. den Bescheid vom 22.04.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.06.2008 aufgehoben und die frühere Bekl. verpflichtet, dem Kl. für April 2008 Leistungen nach dem SGB II ohne Anrechnung des Märzgehaltes zu zahlen. In der Rechtsmittelbelehrung hat das SG darauf hingewiesen, dass das Urteil nicht mit der Berufung angefochten werden könne, weil sie gesetzlich ausgeschlossen und vom SG nicht zugelassen worden sei. Das Urteil ist der früheren Bekl. am 15.10.2009 zugestellt worden.

Das SG hat sein Urteil damit begründet, dass der Zufluss auf dem Konto am 01.04.2008 um 0.01 Uhr erfolgt sei, die Antragstellung jedoch erst später zu den gewöhnlichen Öffnungszeiten der Agentur für Arbeit. Damit sei der Zufluss noch vor Antragstellung erfolgt, und das zugeflossene Geld sei als Vermögen und nicht als Einkommen zu qualifizieren.

Am 10.11.2009 hat die frühere Bekl. gegen das Urteil Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Sie hat geltend gemacht, soweit das Urteil des SG nach der Uhrzeit differenziere, zu der das Geld zugeflossen und der Antrag gestellt worden sei, stehe es im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sowie des Bayerischen Landessozialgerichts, wonach der Tag der Antragstellung unabhängig von der Uhrzeit der Antragstellung als Ganzer zum Leistungszeitraum zähle. Außerdem handle es sich um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Schließlich liege ein Verfahrensfehler vor, weil der Landkreis B-Stadt notwendig beizuladen gewesen wäre.

Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat mit Beschluss vom 28.02.2011 (Az. L 16 AS 767/09 NZB) die Berufung zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe.

Auf Anfrage des LSG hat die W. Bank mit Schreiben vom 28.04.2011 mitgeteilt, dass die Gutschrift des Betrages von 1.189,45 EUR am 01.04.2008 um 10.50 Uhr erfolgt sei. Ab diesem Zeitpunkt hätte der Kl. über den Betrag verfügen können.

Das LSG hat das Schreiben der Bank zunächst nicht an die Parteien weitergeleitet, sondern bei diesen angefragt, zu welcher Uhrzeit der Kl. am 01.04.2008 seinen Leistungsantrag gestellt habe. Der Kl. hat hierzu mit Schreiben vom 01.06.2011 mitgeteilt, er sei am 01.04.2008 um die Mittagszeit (ca. 11.30 Uhr bis 12.00 Uhr) bei der Agentur für Arbeit gewesen und habe dabei den Leistungsantrag gestellt. Die frühere Bekl. hat mit Schreiben vom 10.05. und vom 21.06.2011 mitgeteilt, hierzu keine Angaben machen zu können, da die Uhrzeit der Antragstellung in den Akten nicht dokumentiert werde; die fragliche Dienststelle der Agentur für Arbeit B-Stadt in der T. Straße habe ab 7.30 Uhr geöffnet gehabt. Erst nach Eingang dieser Stellungnahmen hat das LSG die Auskunft der W. Bank vom 28.04.2011 an die Parteien weitergeleitet.

Der Bekl. beantragt,
das Urteil des SG vom 07.10.2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kl. beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Berufung hat der Senat mit Beschluss vom 28.02.2011 (Az. L 16 AS 767/09 NZB) zugelassen.

Zum 01.12.2012 hat auf der Beklagtenseite gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB II ein Parteiwechsel kraft Gesetzes stattgefunden. Mit der Verordnung vom 14.04.2011 (BGBl. I S. 645) ist die Anlage zu § 1 Kommunalträger-Zulassungsverordnung mit Wirkung zum 01.01.2012 dahingehend geändert worden, dass der jetzige Beklagte, der Landkreis B-Stadt, als Träger der Leistung nach § 6 Abs. 11 Satz 1 Nr. 1 SGB II zugelassen worden ist und insoweit für sein Gebiet an die Stelle der Bundesagentur für Arbeit getreten ist. Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB II ist damit der Landkreis B-Stadt in allen laufenden Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, die entsprechende Leistungen betreffen, an die Stelle der Bundesagentur für Arbeit getreten (zum gesetzlichen Beteiligtenwechsel siehe BSG, Urteil vom 18.01.2011, Az. B 4 AS 90/10 R, Rdnr. 11 bei juris).

Die Berufung des Bekl. ist begründet. Zu Unrecht hat das SG den Bescheid vom 22.04.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.06.2008 aufgehoben und die Bundesagentur für Arbeit, an deren Stelle der Bekl. im Verfahren getreten ist, verurteilt, dem Kl. für April 2008 Leistungen nach dem SGB II ohne Anrechnung des Märzgehaltes zu zahlen.

Die Gehaltszahlung für den Monat März 2008, die am 01.04.2008 auf dem Konto des Kl. gutgeschrieben worden ist, stellte im Monat April 2008 Einkommen des Kl. im Sinne von § 11 SGB II dar, das die hier streitgegenständliche Regelleistung des Klägers überstieg. Dem steht nicht entgegen, dass die Antragstellung am 01.04.2008 zeitlich erst nach der Gutschrift des Betrages auf dem Konto des Kl. erfolgte. Denn bei der Abgrenzung von Einkommen und Vermögen gilt ein Zufluss an Geld oder Geldeswert, der am Tag der Antragstellung erfolgt, als Vermögen und nicht als Einkommen unabhängig von der Frage, ob der Zufluss vor oder nach der am selben Tag erfolgten Antragstellung erfolgt ist.

a) Als Einkommen sind gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu berücksichtigen Einnahmen in Geld oder Geldeswert. Das Bundessozialgericht entscheidet seit seinem Urteil vom 30.07.2008 (Az. B 14 AS 43/07 R, info also 2009, 38; im Anschluss daran auch der 4. Senat mit Urteil vom 30.09.2008 Az. B 4 AS 57/07 R = SozR 4-4200 § 11 Nr. 16, Rdnr. 18) in ständiger Rechtsprechung (z. B. Urteil vom 07.05.2009 Az. B 14 AS 13/08 R = SozR 4-4200 § 22 Nr. 22, Rdnr. 19; BSG, Urteil vom 24.02.2011 Az. B 14 AS 45/09 R = SozR 4-4200 § 11 Nr. 36, Rdnr. 19), dass der maßgebliche Zeitpunkt für die Unterscheidung von Einkommen i. S. d. § 11 SGB II und Vermögen i. S. d. § 12 SGB II der Zeitpunkt der Antragstellung ist: Einkommen ist grundsätzlich alles das, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu erhält, und Vermögen das, was er vor Antragstellung bereits hatte.

b) Im vorliegenden Fall erfolgte der Zufluss durch Gutschrift auf dem Konto des Kl. am 01.04.2008 laut Auskunft der Bank um 10.50 Uhr. Dagegen hat der Kl. nach seinen Angaben erst in der Mittagszeit zwischen 11.30 und 12.00 Uhr den Leistungsantrag gestellt. Die Aussage des Kl. ist glaubhaft, weil sie in Unkenntnis der Bankauskunft über den Zeitpunkt der Gutschrift erfolgte; das Gericht hatte die Auskunft der Bank vom 28.04.2011 bewusst nicht an die Parteien weitergeleitet, bevor deren Stellungnahme zum Zeitpunkt der Antragstellung eingegangen war. Der Bekl. hat dieser Aussage nichts entgegensetzen können, weil die Uhrzeit der Antragstellung in den Akten nicht dokumentiert wird.

c) Obwohl der Zeitpunkt des Zuflusses an Geld oder Geldeswert vor dem der Antragstellung lag, ist der Zufluss als Einkommen und nicht als Vermögen zu qualifizieren, weil er am selben Tag wie die Antragstellung erfolgte und die Antragstellung bis zum Beginn des Tages der Antragstellung zurückwirkte. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende wurden nach § 37 Abs. 1 SGB II in der bis zum 31.03.2010 geltenden Fassung (= § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der ab dem 01.01.2011 geltenden Fassung) auf Antrag erbracht. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II werden Leistungen nicht für Zeiten vor der Antragstellung erbracht. Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts besteht gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB II für jeden Kalendertag. Aufgrund der kalendertäglichen Bestimmung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II und des Leistungsbeginns ab Antragstellung entspricht es einhelliger Auffassung, dass der Tag der Antragstellung (und nicht erst der darauffolgende Tag) zum Leistungszeitraum gehört. Damit kommt jedem Leistungsantrag, der nicht exakt um 0.00 Uhr gestellt wird, eine Rückwirkung bis zum Beginn des Tages der Antragstellung zu.

Die oben zitierte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist nach Auffassung des Senats wie folgt fortzuentwickeln: Wenn einem Antrag auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II Rückwirkung zukommt, so ist für die Abgrenzung zwischen Einkommen und Vermögen nicht der Zeitpunkt der Antragstellung, sondern der Beginn des Leistungszeitraums maßgeblich. Deshalb sind Zuflüsse von Geld oder Geldeswert, die zwar vor Antragstellung, aber innerhalb des von der gesetzlichen Rückwirkung des Antrags erfolgten Zeitraums erfolgen, als Einkommen i. S. v. § 11 SGB II und nicht als Vermögen i. S. v. § 12 SGB II zu beurteilen.

Hierfür sprechen folgende Argumente:

- Zwar ist die Qualifizierung eines Geldzuflusses als Einkommen statt als Vermögen in der Regel für den Leistungsberechtigten von Nachteil, weil er damit nicht in den Genuss der Vermögensfreibeträge nach § 12 Abs. 2 SGB II kommen kann. Die Rückwirkung der Antragstellung stellt eine Privilegierung des Leistungsberechtigten dar, die es rechtfertigt, ihm auch den damit verbundenen "Nachteil", dass ein Geldzufluss im Rückwirkungszeitraum als Einkommen betrachtet wird, aufzubürden.

- Manipulationen durch bewusste Hinauszögerung der Antragstellung, um einen erwarteten Geldzufluss - insbesondere bei einmaligen Einnahmen, die sonst über mehrere Monate zu verteilen wären - als Vermögen statt als Einkommen zu qualifizieren, sind bereits aufgrund der jetzigen höchstrichterlichen Rechtsprechung möglich, würden aber ein noch wesentlich breiteres Anwendungsfeld bekommen, wenn bei der Rückwirkung des Antrags nicht auf den Beginn des Leistungszeitraums abgestellt würde. Zwar waren die Fälle der Antragsrückwirkung nach der im streitgegenständlichen Zeitraum geltenden Rechtslage noch äußerst begrenzt und beschränkten sich auf den hier vorliegenden Fall der Rückwirkung bis zum Beginn des Tages der Antragstellung sowie auf die Rückwirkung nach § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II a. F. auf einen Tag, an dem der zuständige Leistungsträger nicht geöffnet hatte, bei unverzüglicher Antragsnachholung. Jedoch sind die Fälle der Rückwirkung durch den zum 01.01.2011 in Kraft getretenen § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II deutlich erweitert worden, wonach der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf den Ersten des Monats zurückwirkt. Gerade die letztgenannte Regelung zeigt, dass es bei der Rückwirkung eines Antrags für die Abgrenzung von Einkommen und Vermögen auf den Beginn des Leistungszeitraums ankommen muss, um willkürliche Manipulationen zu vermeiden. Ansonsten wäre nach der neuen Rechtslage jeder schlecht beraten, der über nicht bedarfsdeckendes Einkommen verfügt (und sei es nur in Form von Kindergeld) und nicht bis zum Ende des Monats wartet, um seinen Antrag zu stellen. Auf diese Weise würden alle Einnahmen des ersten Leistungsmonats zu Vermögen und damit leistungsunschädlich, sofern die Vermögensfreibeträge nicht überschritten sind. Selbst wenn das zu berücksichtigende Einkommen den Bedarf vollständig decken oder überschreiten würde, könnte sich für den ersten Monat ein ungeschmälerter Leistungsanspruch ergeben, wenn Einkommen, das vor Antragstellung zugeflossen wäre, als Vermögen zu bewerten wäre.

Ein solches Ergebnis ließe sich auch kaum mit den Vorstellungen des Gesetzgebers vereinbaren. Aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt sich, dass der Gesetzgeber die Schaffung des § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II in der seit dem 01.01.2011 geltenden Fassung mit der Erwartung verband, dass damit Einnahmen, die vor Antragstellung im Antragsmonat zufließen, künftig als Einkommen bei der Feststellung des Leistungsanspruchs zu berücksichtigen sind (BT-Drs. 17/3404 S. 114 zu § 37). Diese Erwartung beruht unausgesprochen auf der Prämisse, dass für die Abgrenzung zwischen Einkommen und Vermögen nicht die Antragstellung, sondern der Beginn des Leistungszeitraums entscheidend ist.

- Die Modifizierung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts für Fälle der rückwirkenden Antragstellung steht auch mit deren eigenen Grundgedanken in Einklang: Das BSG wollte nämlich in seinem Urteil vom 30.07.2008 (Az. B 14 AS 43/07 R) im Grundsatz an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Sozialhilferecht anknüpfen, des den Beginn der Bedarfszeit für die Abgrenzung von Einkommen und Vermögen für maßgeblich hielt: Danach sei Einkommen alles das, was jemand in der Bedarfszeit wertmäßig dazu erhält, und Vermögen das, was er in der Bedarfszeit bereits hat (BSG, aaO., Rdnr. 24 unter Berufung auf BVerwGE 108, 296 ff. und BVerwG, NJW 1999, 3137 f.). Diese Rechtsprechung hat das BSG für das SGB II nur deshalb insoweit modifiziert, als es den Zeitpunkt der Antragstellung für maßgeblich erklärte, weil § 37 SGB II ein konstitutives Antragserfordernis statuiere, so dass Leistungen erst ab Antragstellung zustünden, während nach § 5 Bundessozialhilfegesetz die Leistungsgewährung keinen Antrag voraussetzte, sondern die Kenntnis des Leistungsträgers vom Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen den Leistungszeitraum begründete (BSG, aaO., Rdnr. 26). Dieser Argumentation lässt sich entnehmen, dass es dem BSG grundsätzlich darum ging, den Beginn des Leistungszeitraums als maßgeblichen Zeitpunkt für die Abgrenzung zwischen Einkommen und Vermögen anzusehen. Aufgrund der Regelung des § 37 SGB II a. F. sah es im SGB II den Beginn des Leistungszeitraums als mit der Antragstellung identisch an. Das BSG meinte, die nach § 37 SGB II a. F. seltenen und begrenzten Fälle einer Antragsrückwirkung, wie er hier vorliegt, vernachlässigen zu können. Der vorliegende Fall verlangt aber diesbezüglich nach einer Entscheidung, und erst recht gilt dies für die seit dem 01.01.2011 geltende Rechtslage, für die § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II die Rückwirkung des Antrags zum Monatsersten vorsieht und damit die Rückwirkung für die Erstanträge zum Regelfall macht. Da das BSG nur deshalb auf die Zeit der Antragstellung abstellte, weil diese aus seiner Sicht den Beginn des Leistungszeitraums definierte, und im Übrigen an die Rechtsprechung des BVerwG, das den Beginn des Bedarfszeitraums für maßgeblich hielt, anknüpfen wollte, ist davon auszugehen, dass es auch aus der Argumentation des BSG heraus konsequent ist, bei einer Rückwirkung der Antragstellung den Beginn des Leistungszeitraums für maßgeblich zu erachten.

- Was den speziellen Fall der Rückwirkung des Antrags auf den Beginn des Tages der Antragsstellung betrifft, so spricht für die hier vertretene Auffassung auch der Gesichtspunkt der Praktikabilität. Die vom SG vertretene Auffassung, es komme für die Abgrenzung zwischen Einkommen und Vermögen auf die Uhrzeit von Gutschrift und Antragstellung an, geht an den Möglichkeiten der Verwaltungs- und Gerichtspraxis vorbei. Die Dokumentation von Uhrzeiten ist weder in Verwaltungsakten noch in Kontoauszügen üblich.

Demnach war die am 01.04.2008 um 10.50 Uhr erfolgte Gutschrift des Betrages von 1.189,45 EUR als Einkommen und nicht als Vermögen zu qualifizieren, weil der am selben Tag zwischen 11.30 Uhr und 12.00 Uhr gestellte Antrag bis zum Tagesbeginn zurückwirkte und somit der Leistungszeitraum am 01.04.2008 bereits um 0.00 Uhr und damit vor dem Zuflusszeitpunkt begonnen hatte. Da es sich um das letzte monatlich gezahlte Gehalt aus einer mehrere Monate währenden Beschäftigung handelte, lag eine laufende Einnahme vor, die gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 Arbeitslosengeld II/ Sozialgeld-Verordnung in der bis zum 31.03.2011 geltenden Fassung (= § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II n. F.) als Einkommen in dem Monat zu berücksichtigen war, in dem es zufloss.

Ein Fall der notwendigen Beiladung liegt nicht vor. Die von der Bundesagentur für Arbeit beantragte Beiladung des Landkreises B-Stadt hat sich schon dadurch erledigt, dass dieser aufgrund des gesetzlichen Parteiwechsels inzwischen selbst zum Beklagten geworden ist. Im Übrigen lag zu keinem Zeitpunkt ein Fall der notwendigen Beiladung nach § 75 Abs. 2 SGG vor. Klagegegenstand ist nach zutreffender Auslegung nur die Regelleistung für den Monat April 2008, nicht aber die Kosten für Unterkunft und Heizung. Denn für das Gebiet des Landkreises B-Stadt, in dem der Kl. seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, war eine gemeinsame Einrichtung im Sinne des § 44b SGB II nicht gebildet, so dass die Bundesagentur für Arbeit und der Landkreis B-Stadt ihre Aufgaben nach § 6 SGB II getrennt wahrnahmen. Die angefochtenen Bescheide der Bundesagentur konnten sich nach zutreffender Auslegung deshalb nur auf die von ihr geschuldeten Leistungsanteile beziehen. Die in den Zuständigkeitsbereich des jeweils anderen Trägers fallenden Leistungsanteile bildeten rechtlich verschiedene Ansprüche und getrennte Streitgegenstände, die weder im Verhältnis der Alternativität zueinander standen (§ 75 Abs. 2 2. Alt. SGG) noch aus rechtlichen Gründen eine einheitliche Entscheidung erforderten (§ 75 Abs. 2
1. Alt SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Zwar ist die Vorschrift des § 37 Abs. 2 SGB II über die Rückwirkung des Antrags zum 01.01.2011 neu gefasst worden. Allerdings hat sich dadurch die dem vorliegenden Rechtsstreit zugrunde liegende Rechtsfrage nicht erledigt, sondern wird sich in Zukunft in verschärfter Form stellen. § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II n. F. sieht nämlich eine Rückwirkung des Antrags auf den Ersten des Monats vor. Damit wird der Spielraum für Zuflüsse in Geld oder Geldeswert, die vor Antragstellung, aber nach Beginn des Leistungszeitraums eingehen, größer.
Rechtskraft
Aus
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