L 15 SB 53/12 B PKH

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 SB 68/12
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 SB 53/12 B PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
wegen Prozesskostenhilfe
1. Das Rechtsschutzbedürfnis einer Klage kann nicht deshalb verneint werden, weil keine wirtschaftlichen oder rechtlichen Vorteile bei Erlangung des angestrebten höheren GdB ersichtlich sind.
2. Behauptungen ins Blaue hinein oder wissentlich falsche Behauptungen können zwar Ermittlungen des Gerichts nach sich ziehen; derartig bedingte Ermittlungen begründen aber keinen Anspruch auf PKH.
I. Der Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 27. März 2012 wird aufgehoben.

II. Der Klägerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Augsburg, Az.: S 8 SB 68/12, Prozesskostenhilfe bewilligt. Beigeordnet wird Herr Rechtsanwalt B., B-Straße, A-Stadt. Ratenzahlungen sind nicht zu erbringen.

Gründe:

I.
Zugrunde liegt ein Rechtsstreit aus dem Schwerbehindertenrecht. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Bf) begehrt die Feststellung eines Grads der Behinderung (GdB) von 50.

Mit Änderungsbescheid vom 30.06.2011 wurde bei der Bf ein GdB von 40 festgestellt, wobei als Gesundheitsstörungen eine Hüftdysplasie beidseits, künstlicher Gelenkersatz beider Hüften (Einzel-GdB 20), eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, Bandscheibenschäden (Einzel-GdB 20) und eine depressive Verstimmung (Einzel-GdB 20) zugrunde gelegt wurden. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 12.01.2012).

Am 14.02.2012 hat die Bf Klage zum Sozialgericht Augsburg erhoben und Prozesskostenhilfe (PKH) sowie Beiordnung ihres Bevollmächtigten beantragt. Der Bevollmächtigte hat die Klage ausführlich begründet und aufgezeigt, warum aus klägerischer Sicht die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Bf bislang unterbewertet seien. Weiter hat er eine Sachverhaltsaufklärung mittels ärztlicher Gutachten angeregt.

Das Sozialgericht hat noch vor Eingang der Beklagtenakte die Bf zur Benennung der behandelnden Ärzte aufgefordert.

Ohne weitergehende Ermittlungen durchgeführt zu haben, hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 27.03.2012 den Antrag auf PKH und Beiordnung des Bevollmächtigten abgelehnt. Es bestünden - so das Sozialgericht - keine hinreichenden Erfolgsaussichten. Zum einen sei die Klage unzulässig, da nicht ersichtlich sei, welcher nennenswerte Vorteil der Bf aus der Höherbewertung des GdB zukommen sollte. Sie sei selbstständig und beziehe aufstockende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch; von einer Altersrente für Schwerbehinderte sei sie noch weit entfernt. Zum anderen seien auch keine Erfolgsaussichten in der Sache anzunehmen. Aufgrund der vorliegenden Befunde sei nicht davon auszugehen, dass es zu einer Erhöhung des GdB kommen werde; eine Beweisaufnahme erscheine insofern nicht erforderlich.

Dagegen hat die Bf am 02.04.2012 Beschwerde erhoben. Die Annahme eines fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses - so der Bevollmächtigte - sei rechtlich nicht haltbar. Was die Bewertung der Gesundheitsstörungen und des GdB angehe, verweise er auf die Klagebegründung; weitere medizinische Ermittlungen seien durchaus angezeigt.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Die Feststellung des Sozialgerichts, dass eine hinreichende Aussicht auf Erfolg des Rechtsschutzbegehrens nicht gegeben sei, ist nicht tragfähig. Der Bf ist daher PKH unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten zu gewähren.

Nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Das Tatbestandsmerkmal der hinreichenden Aussicht auf Erfolg ist unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Bezüge auszulegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes geboten. Das ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, das in Art. 19 Abs. 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet (vgl. Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 13.06.1979, Az.: 1 BvL 97/78). Verfassungsrechtlich ist es zwar nicht zu beanstanden, wenn die Gewährung von PKH davon abhängig gemacht wird, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Aussicht auf Erfolg soll aber nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der PKH vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das bedeutet, dass PKH nur verweigert werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Aussicht auf Erfolg aber nur eine entfernte ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.03.1990, Az.: 2 BvR 94/88). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann nicht nur die Behandlung schwieriger Rechtsfragen im PKH-Verfahren zu einer unzulässigen Vorwegnahme des Hauptsacheverfahrens führen. Auch Beweiserhebungen oder Beweiswürdigungen müssen daraufhin untersucht werden, ob sie den Rahmen des PKH-Verfahrens sprengen. So darf PKH nicht verweigert werden, wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Betroffenen ausgehen wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.02.2008, Az.: 1 BvR 1807/07).

Dies bedeutet im Gegenschluss, dass die Gewährung von PKH wegen fehlender hinreichender Aussicht auf Erfolg dann abzulehnen ist, wenn unter Zugrundelegung objektiver Maßstäbe die Beweisaufnahme nach Lage der Dinge mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem für den Betroffenen negativen Ergebnis führen wird oder wenn die Beweisaufnahme bereits abgeschlossen ist und alles auf ein Scheitern des Begehrens in der Sache hindeutet. Gleiches gilt, wenn nach objektivem Maßstab eine Beweisaufnahme überhaupt nicht erforderlich ist und das Ergebnis des Verfahrens für den Betroffenen mit hoher Wahrscheinlichkeit negativ sein wird.

Das Sozialgericht ist im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis gekommen, dass eine hinreichende Aussicht auf Erfolg sowohl aus einem formellen als auch einem materiellen Grund nicht bestehe, und hat dies mit den Gesichtspunkten des
1. fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses und der
2. in der Sache selbst fehlenden Aussicht auf Erfolg, da eine Beweisaufnahme nicht erforderlich erscheine und mit einer mit der Klage angestrebten Höherbewertung des GdB nicht zu rechnen sei,
begründet.

Bei beiden Gesichtspunkten kann der Einschätzung des Sozialgerichts nicht gefolgt werden. Vielmehr liegt eine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinn des PKH-Rechts vor.

Zu 1. (fehlendes Rechtsschutzbedürfnis)

Die Aussicht der Klage auf Erfolg kann entgegen der Annahme des Sozialgerichts nicht an einem fehlenden Rechtsschutzbedürfnis scheitern.

Dem System des Schwerbehindertenrechts ist es fremd, die Beantragung eines höheren GdB an das Vorhandensein wirtschaftlicher oder rechtlicher Vorteile für den Fall der Erhöhung zu knüpfen. Ob - auch nur geringfügige - Erhöhungen des GdB - unabhängig, ob über oder unterhalb des die Schwerbehinderteneigenschaft begründenden GdB von 50 - für den Betroffenen wirtschaftlich oder/und rechtlich nutzlos sind, ist ohne jede rechtlich relevante Bedeutung und braucht daher nicht ermittelt zu werden. Denn der Gesetzgeber hat dieser Frage generell keine Entscheidungsrelevanz zugemessen. Vielmehr ist es so, dass nach dem System des Schwerbehindertenrechts im SGB IX jeder behinderte Mensch Anspruch auf Feststellung des für ihn zutreffenden GdB hat, auch wenn er daraus keine weitergehenden - vor allem wirtschaftliche - Vorteile ziehen kann. Ein spezifisches Feststellungsinteresse (Rechtsschutzbedürfnis) ist für die Feststellung eines höheren GdB nicht erforderlich (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 24.04.2008, Az.: B 9/9a SB 8/06 R).

Zu 2. (keine Erforderlichkeit einer Beweisaufnahme, keine hinreichende Aussicht auf einen höheren GdB)

Auf der Grundlage der bisher bekannten Tatschen erscheint weder eine Beweisaufnahme durch das Sozialgericht entbehrlich noch lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein für die Bf negatives Ergebnis der Beweisaufnahme antizipieren. Vom Fehlen einer hinreichenden Aussicht auf Erfolg kann daher derzeit nicht ausgegangen werden.

Allgemein kann von einer hinreichenden Aussicht auf Erfolg nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - wie oben ausgeführt - schon dann, aber auch nur dann ausgegangen werden, wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen wird (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 19.02.2008; Az.: 1 BvR 1807/07; vom 20.02.2002, Az.: 1 BvR 1450/00; vom 12.01.1993, Az.: 2 BvR 1584/92).

Bei der Prüfung der hinreichenden Aussicht auf Erfolg darf kein zu strenger Maßstab angelegt werden, damit das Hauptsacheverfahren nicht in das PKH-Verfahren vorverlagert wird. Auf der anderen Seite verkennt der Senat nicht, dass nicht mit jeder "gut gemachten" Klagebegründung und der bloßen Behauptung erfolgsdienlicher Tatsachen quasi automatisch eine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne der PKH generiert werden kann. So ist das Aufstellen einer Behauptung ins Blaue hinein oder sogar einer wissentlich falschen Behauptung nicht geeignet, eine hinreichende Aussicht auf Erfolg zu erzeugen, auch wenn das Gericht diese Behauptungen zunächst ernst nimmt und ihnen deshalb nachgeht. Die auf diese unlautere Art veranlassten Ermittlungen sind keine, die nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung einen Anspruch auf PKH nach sich ziehen. Denn das Bundesverfassungsgericht setzt als Vergleichsmaßstab immer einen vernünftig handelnden nicht Bedürftigen voraus (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.06.1979, Az.: 1 BvL 97/78); dieser würde aber nicht auf solche Behauptungen gestützt ins gerichtliche Verfahren ziehen. Derart missbräuchliches Prozessverhalten darf nicht mit der Bewilligung von PKH "honoriert" werden. Derjenige, der sich solcher unlauteren Mittel nicht bedienen würde, wäre schlechter gestellt. Das wäre nicht nur rechtlich inakzeptabel, sondern würde auch Anreize für eine destruktive Prozessführung setzen.

Im vorliegenden Fall existieren indes keine Hinweise für ein treuwidriges Prozessverhalten. Die Entscheidung des Sozialgerichts ist nicht vertretbar. Der Beweisprognose, auf die das Sozialgericht die Ablehnung des Antrags auf PKH gestützt hat, liegen keine hinreichend konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte für die Annahme zugrunde, dass eine Beweisaufnahme mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Nachteil der Bf ausgehen werde bzw. überhaupt nicht erforderlich sei. Allein mit dem Hinweis auf die vorliegenden ärztlichen Befunde, die vom Beklagten eingeholt worden sind, kann im vorliegenden Fall die Prognose des Sozialgerichts, dass das Klageverfahren mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil der Bf ausgehen werde, nicht begründet werden. Beispielsweise fällt bei den vorliegenden Befundberichten auf, dass die letzten Befunde zu der im April 2011 durchgeführten Hüft-TEP links vom Juni 2011 (Arztbrief Dr. R. vom 15.06.2011) datieren, obwohl offenbar später weitere Untersuchungen durchgeführt worden sind (vgl. Bericht des Herrn I. vom 05.12.2011). Insofern ist fraglich, ob der im Juni 2011 erhobene Befund bereits einen Dauerzustand und damit eine verlässliche Bewertungsgrundlage darstellt. Auf diesen Gesichtspunkt hat im Übrigen auch der versorgungsärztliche Dienst in seiner Stellungnahme vom 06.09.2011 hingewiesen. Dass der bei der Bf für die beidseitige Hüftendoprothese angesetzte GdB von 20, der nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen, Teil B, Nr. 18.12, den Mindestwert für einen derartigen Gesundheitsschaden darstellt, tatsächlich zutreffend ist, ist zwar durchaus möglich; ohne Weiteres auf der Hand liegt es aber nicht. Weiter fällt auf, dass zum psychischen Gesundheitszustand der Bf lediglich zwei Arztbriefe vom Februar und April 2010 vorliegen, in denen über jeweils einmalige Untersuchungen berichtet worden ist. Irgendwelche weiteren Ermittlungen hinsichtlich der offenbar stattgefundenen psychotherapeutischen Behandlungen hat der Beklagte nicht durchgeführt. Eine Entscheidung allein auf der Basis der bislang vorliegenden Erkenntnisse würde einen Verstoß gegen die gemäß § 103 SGG bestehende Aufklärungspflicht, wonach alle entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln sind, darstellen. Im Übrigen deutet auch die Tatsache, dass das Sozialgericht in Kenntnis der Klagebegründung von der Bf Angaben zu den behandelnden Ärzten angefordert hat, darauf hin, dass das Sozialgericht eine weitere Sachaufklärung - anders als im Beschluss vom 27.03.2012 formuliert - nicht für fernliegend hält. Der aufgezeigte Ermittlungsbedarf liegt unabhängig von der Klagebegründung auf der Hand, sodass es letztlich im vorliegenden Fall bei der Beurteilung der Aussicht auf Erfolg im Rahmen der PKH-Prüfung auf die Klagebegründung nicht entscheidend ankommt.

Angesichts der finanziellen Situation der Bf ist eine Ratenzahlung nicht anzuordnen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m.127 Abs. 4 ZPO).

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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