L 11 AS 282/12 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 AS 248/12 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AS 282/12 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Rechtmäßigkeit einer Sanktion wegen eines Verstoßes gegen die Festlegungen eines die Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsaktes.
I. Der Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 21.03.2012 wird teilweise aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 03.04.2012 gegen den Sanktionsbescheid vom 16.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.03.2012 wird angeordnet.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache dem Antragsteller für die Zeit vom 01.03.2012 bis 31.05.2012 monatlich jeweils 112,20 EUR zu zahlen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner hat 1/4 der außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.



Gründe:


I.

Streitig sind verschiedene Sanktionsbescheide sowie die Zahlung ungekürzter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld - Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes.

Der Antragsteller (ASt) bezieht Alg II vom Ag. Wegen der Nichtbefolgung einer Meldeaufforderung vom 06.12.2011 im Hinblick auf einen Vorsprachetermin am 09.01.2012 minderte der Ag mit Sanktionsbescheid vom 13.01.2012 das Alg II für die Zeit vom 01.02.2012 bis 30.04.2012 im Umfang von 37,40 EUR monatlich (10 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs). Die Kürzung wurde auch im Bewilligungsbescheid vom 13.01.2012 idF der Änderungsbescheide vom 16.02.2012 und 29.02.2012 für die Neubewilligung von Alg II ab 01.02.2012 berücksichtigt. Einen Antrag des ASt auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom 31.01.2012 gegen den Sanktionsbescheid vom 13.01.2012 hat das Sozialgericht Nürnberg (SG) mit Beschluss vom 22.02.2012 (Az: S 19 AS 141/12 ER) abgelehnt.

Nachdem Verhandlungen zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung (EGV) scheiterten, ersetzte der Ag mit Bescheid vom 08.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2011 die in der EGV zu bestimmenden Regelungen durch Verwaltungsakt. Die Festlegungen sollten für die Zeit vom 08.08.2011 bis 07.02.2012 gelten, soweit nicht zwischenzeitlich anderes vereinbart würde. Unter Ziffer 2. regelte der Ag u.a. die vom ASt geforderten Bemühungen wie folgt:

" ... Sie unternehmen während der Gültigkeitsdauer der Eingliederungsvereinbarung im Turnus von wöchentlich - beginnend mit dem Datum der Unterzeichnung - jeweils mindestens 2 Bewerbungsbemühungen um sozialversicherungspflichtige und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse und legen hierüber monatlich bis zum 5. des Folgemonats unaufgefordert folgende Nachweise vor: Kopien der Bewerbungsanschreiben und Vorlage der Antwortschreiben der Firmen ..."

Nachdem der ASt keine Bewerbungsnachweise für August und September 2011 vorlegte, minderte der Ag mit Bescheid vom 06.12.2011 das Alg II für die Zeit vom 01.01.2012 bis 31.03.2012 im Umfang von 112,20 EUR monatlich (30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs). Nachdem auch für Oktober und November 2011 keine Bewerbungsnachweise vorgelegt wurden, minderte der Ag mit Bescheid vom 09.01.2012 das Alg II für die Zeit vom 01.02.2012 bis 30.04.2012 im Umfang von 112,20 EUR (30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs). Jeweils mit Bescheid vom 16.02.2012 nahm der Ag die Sanktionsbescheide vom 06.12.2011 und 09.01.2012 wieder zurück.

Mit drei Sanktionsbescheiden vom 16.02.2012 minderte der Ag jeweils das Alg II für die Zeit vom 01.03.2012 bis 31.05.2012 im Umfang von 112,20 EUR monatlich (30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs), da der ASt für die Zeiten September 2011, Oktober und November 2011 sowie Dezember 2011 keine Nachweise über Eigenbemühungen vorgelegt habe. Mit Änderungsbescheid vom 29.02.2012 hob der Ag zwei Sanktionsbescheide vom 16.02.2012 im Hinblick auf die Eigenbemühungsnachweise für Oktober und November 2011 sowie Dezember 2011 wieder auf und änderte die ursprüngliche Leistungsbewilligung des Bewilligungsbescheides vom 13.01.2012 dementsprechend auch unter Berücksichtigung der verbliebenen Sanktion ab. Den gegen den Sanktionsbescheid vom 16.02.2012 im Hinblick auf die Eigenbemühungsnachweise für September 2011 vom ASt eingelegten Widerspruch wies der Ag mit Widerspruchsbescheid vom 26.03.2012 zurück. Über die dagegen beim SG erhobene Klage (Az: S 10 AS 423/12) ist bislang nicht entschieden.

Der ASt hat beim SG einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt und dabei die Feststellung der Nichtigkeit der Bescheide vom 06.12.2011, 09.01.2012 und 13.01.2012, sowie hilfsweise die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Widersprüche gegen die Sanktionsbescheide beantragt. Er sei chronisch krank. In dem die EGV ersetzenden Verwaltungsakt sei seine Arbeitsunfähigkeit nicht berücksichtigt und sie sei zudem nicht von ihm unterzeichnet worden. Wegen seiner Krankschreibung habe er auch eine Zuwiderhandlung nicht verschuldet. Im Hinblick auf die Meldepflichtverletzung sei seine Krankheit und Bettlägerigkeit zu berücksichtigen.

Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 21.03.2012 abgelehnt. Im Hinblick auf die Bescheide vom 06.12.2011 und 09.01.2012 fehle es an einem Rechtsschutzbedürfnis. Auch hinsichtlich des Bescheides vom 13.01.2012 sei der Antrag unzulässig, da insoweit vom SG bereits mit rechtskräftigem Beschluss vom 22.02.2012 entschieden worden sei. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 16.02.2012 sei nicht anzuordnen, da dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht rechtswidrig sei. Atteste, die eine Arbeitsunfähigkeit für August und September bescheinigen würden, lägen nicht vor. Im Übrigen hätte sich der ASt auch schriftlich um den Nachweis von Arbeitsstellen bemühen können.

Gegen den Beschluss hat der ASt Beschwerde beim Bayerischen Landessozialgericht eingelegt und die Zurückverweisung der Eilsache an das SG, hilfsweise gemäß den Anträgen beim SG zu entscheiden, insbesondere den Ag zur Nachzahlung der einbehaltenen Leistungen für März bis Mai 2012 zu verpflichten, beantragt. Es habe Erörterungsbedürftigkeit bestanden. Durch seine unverschuldete Abwesenheit im vom SG anberaumten Erörterungstermin habe er nichts mehr vorbringen können, weshalb das rechtliche Gehör verletzt worden sei. Zum Zeitpunkt des Sanktionsbescheides sei die Geltungsdauer der EGV bereits abgelaufen gewesen. Er sei arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Der Kürzungsbescheid mit einer Kürzung um 30% sei ihm nicht zugestellt worden.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die beigezogene Verwaltungsakte des Ag, die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Akten des SG in den Verfahren S 19 AS 141/12 ER und S 10 AS 423/12 Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerechte Beschwerde ist zulässig (§§ 172 Abs 1, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und teilweise begründet. Die aufschiebende Wirkung der Klage des ASt gegen den Sanktionsbescheid vom 16.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.03.2012 ist anzuordnen und die einbehaltenen Leistungen sind (vorläufig) nachzuzahlen. Der Beschluss des SG ist folglich insoweit aufzuheben. Im Hinblick auf die übrigen Sanktionsbescheide und die beantragte Zurückverweisung ist die Beschwerde unbegründet.

Die vom ASt beantragte Zurückverweisung an das SG kommt vorliegend nicht in Betracht. Bei entsprechender Anwendung des § 159 SGG liegen dessen Voraussetzungen jedenfalls nicht vor. So hat das SG in der Sache entschieden (§ 159 Abs 1 Nr 1 SGG) und selbst bei Annahme eines wesentlichen Verfahrensmangels würde es zumindest an der Notwendigkeit einer umfassenden und aufwändigen Beweisaufnahme fehlen (§ 159 Abs 1 Nr 2 SGG), die im Hinblick auf die regelmäßige Eilbedürftigkeit des einstweiligen Rechtsschutzes allenfalls auf einfache und zeitnahe Beweiserhebungsmöglichkeiten beschränkt ist. Im Übrigen steht es im Ermessen des SG, ob es die Durchführung einer mündlichen Verhandlung oder eines Erörterungstermins für notwendig hält. Voraussetzung für die Beschlussfassung ist dies jedenfalls nicht. Im vom SG aufgerufenen Erörterungstermin wurde auch nicht zur Sache verhandelt und insbesondere vom Ag keine neuen Punkte vorgebracht. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs des ASt ist damit nicht ersichtlich.

Soweit der ASt hilfsweise die Feststellung der Nichtigkeit der Bescheide vom 06.12.2011 und 09.01.2012 begehrt, ist der Antrag ebenfalls unzulässig, da diese Bescheide vom Ag bereits mit den Bescheiden vom 16.12.2012 wieder aufgehoben wurden und ein Fortsetzungsfeststellungsantrag im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nicht zulässig ist (vgl Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl, § 86b Rn 9b). Im Hinblick auf die Sanktionsbescheide vom 13.01.2012 und 16.02.2012, die nicht aufgehoben worden sind, sind die Feststellungsanträge ebenfalls unzulässig, da diese in der Hauptsache gegenüber kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklagen subsidiär sind (Keller aaO § 55 Rn 19). Das Rechtsschutzziel des ASt, nämlich Aufhebung der Sanktionen und Zahlung der ungekürzten Leistungen, wäre mit Letzteren erreichbar. Dementsprechend ist vorliegend ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz in Form eines Feststellungsbeschlusses nicht statthaft.

Soweit der ASt weiter jedenfalls sinngemäß die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs oder einer Klage gegen den Sanktionsbescheid vom 13.01.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2012 beantragt, ist der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz insoweit ebenfalls unzulässig. Diesbezüglich hatte der ASt bereits am 09.02.2012 beim SG einen entsprechenden Antrag (Az: S 19 AS 141/12 ER) gestellt, der mit Beschluss vom 22.02.2012 abgelehnt worden ist. Beschwerde dagegen ist nicht erhoben worden. Die ablehnenden Beschlüsse nach § 86b Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind der Rechtskraft fähig (vgl Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 10. Aufl, § 86b Rn 19a mwN) und binden die Beteiligten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache. Sie stehen damit erneuten Anträgen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung entgegen. Einen Antrag nach § 86b Abs 1 Satz 4 SGG auf Abänderung des Beschlusses des SG vom 22.02.2012 hat der ASt nicht gestellt. Für eine diesbezügliche Entscheidung wäre zudem das SG als Hauptsachegericht zuständig.

Zulässig ist dagegen der Antrag des ASt auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in Bezug auf die sich durch den Sanktionsbescheid vom 16.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2012 ergebende Kürzung des Alg II-Anspruches für den Zeitraum vom 01.03.2012 bis 31.05.2012. Den Minderungsbetrag wegen des Eintritts einer Sanktion hat der Ag auch bereits im Bewilligungsbescheid vom 13.01.2012 (bereits hierin waren dem ASt nur gekürzte Leistungen im Hinblick auf später wieder aufgehobene Sanktionen bewilligt worden) idF des Änderungsbescheides vom 29.02.2012 berücksichtigt. Insoweit überschneiden sich die Regelungsbereiche der Bescheide, nämlich in Bezug auf die Auszahlung der beantragten Leistungen, so dass diese ebenfalls Gegenstand des Widerspruchverfahrens und anschließenden Klageverfahrens gegen den Sanktionsbescheid vom 16.02.2012 geworden sind. Demnach ist das Begehren des ASt - im Hinblick auf die wegen der Sanktion einbehaltenen Leistungen - dahingehend auszulegen, dass zunächst die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Sanktionsbescheid vom 16.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2012 und im Hinblick auf die zusätzliche teilweise Leistungsablehnung im Bewilligungsbescheid vom 13.01.2012 bzw Änderungsbescheid vom 29.02.2012 daneben ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Verpflichtung des Ag zur vorläufigen Zahlung des Alg II in voller Höhe erfolgen soll. Die Umstellung des ursprünglichen Antrages auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs in den - nunmehr nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2012 und Erhebung einer dagegen gerichteten Klage (Az: S 10 AS 423/12) - statthaften Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist entsprechend § 99 Abs 3 Nr 2 SGG ohne weiteres zulässig (Keller aaO § 86b Rn 9b mwN).

Da sich der ASt mithin gegen einen Sanktionsbescheid wendet, mit dem das Alg II abgesenkt worden ist, stellt § 86b Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGG die maßgebliche Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dar, denn das Rechtsmittel (bzw der Rechtsbehelf) gegen einen Bescheid, der die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt, hat keine aufschiebende Wirkung, § 86a Abs 2 Nr 4 SGG iVm § 39 Nr 1 SGB II.

Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen, § 86b Abs 1 Nr 2 SGG. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage ist nur möglich, wenn das besondere Interesse des ASt an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung das vom Gesetz vorausgesetzte Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt, wobei bei der Prüfung der Interessen zuerst auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abzustellen ist.

Unter Berücksichtigung des § 39 Nr 1 SGB II ist von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten des Suspensiveffektes auszugehen, da der Gesetzgeber die sofortige Vollziehung zunächst angeordnet hat. Davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten feststellbar ist (vgl Beschluss des Senats vom 18.11.2008 - L 11 B 948/08 AS ER). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme bleiben (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl, § 86b Rn 12a). Ist der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und ist der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt, wird ausgesetzt, weil dann ein überwiegendes öffentliches Interesse oder Interesse eines Dritten an der Vollziehung nicht erkennbar ist. Ist die Klage aussichtslos, wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet. Sind die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, bleibt eine allgemeine Interessenabwägung, wobei die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens und die Entscheidung des Gesetzgebers in § 39 Nr 1 SGB II mitberücksichtigt werden (vgl zum Ganzen: Keller aaO Rn 12f; Beschluss des Senats aaO).

Die aufschiebende Wirkung ist demnach vorliegend hinsichtlich der Klage gegen den Sanktionsbescheid vom 16.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2012 anzuordnen, da der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist.

Bei einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II mindert sich das Alg II in einer ersten Stufe um 30 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs (§ 31a Abs 1 Satz 1 SGB II). Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung mindert sich das Alg II um 60 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs (§ 31a Abs 1 Satz 2). Voraussetzung für die vom Ag insofern festgestellte Minderung des Auszahlungsanspruchs ist jeweils eine Pflichtverletzung iSv § 31 SGB II. Hieran fehlt es vorliegend.

Nach § 31 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB II verletzen erwerbsfähige Leistungsberechtigte u.a. ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis sich weigern, in der EGV oder in dem diese ersetzenden Verwaltungsakt nach § 15 Abs 1 Satz 6 SGB II festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen. Voraussetzung ist dabei aber jedenfalls, dass die "festgelegte Pflicht" des Leistungsberechtigten hinreichend bestimmt ist. Dies wiederum ist nur der Fall, wenn die Pflicht dem Leistungsberechtigten nach Maßgabe seines Empfängerhorizontes das ihm abverlangte Verhalten unzweifelhaft erkennbar macht, wobei Unklarheiten zu Lasten des Ag gehen (vgl LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.02.2007 - L 28 B 166/07 AS ER - juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.10.2006 - L 1 B 27/06 AS ER; Münder in: LPK-SGB II, 4. Aufl, § 31 Rn 20; Rixen in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl, § 31 Rn 13).

Die in dem die EGV ersetzenden Verwaltungsakt vom 08.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2011 festgelegten, vom ASt geforderten Bemühungen genügen diesen Vorgaben nicht. Es ist unklar, ab wann seine Verpflichtung zu wöchentlich mindestens zwei Bewerbungen beginnen soll. Zunächst heißt es, die Festlegungen würden für die Zeit vom 08.08.2011 bis 07.02.2012 gelten, soweit nicht zwischenzeitlich anderes vereinbart werde. Dann wird bei aber konkret bei den Bewerbungsbemühungen ausgeführt, die Verpflichtung beginne mit dem "Datum der Unterzeichnung". Eine "Unterzeichnung" erfolgte vorliegend aber gerade gar nicht, da es sich nicht (mehr) um eine EGV handelte, die von beiden Beteiligten unterzeichnet wird, sondern um einen diese ersetzenden Verwaltungsakt. Mangels Unterzeichnung des Bescheides vom 08.08.2011 durch den ASt würde aber die Pflicht um Eigenbemühungen gar nicht beginnen. Dieser Umstand hätte bei der Ersetzung der EGV durch den Verwaltungsakt vom 08.08.2011 berücksichtigt werden müssen. Letztlich bleibt damit - jedenfalls aus Sicht des ASt - unklar, ab wann er nunmehr verpflichtet sein soll, mindestens zwei Bewerbungen wöchentlich vorzunehmen und entsprechende Nachweise zu erbringen hat.

Mangels einer konkreten Bestimmung von Pflichten des ASt fehlt es an einer Pflichtverletzung für den Sanktionsbescheid vom 16.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2012. Dieser ist mithin offensichtlich rechtswidrig und verletzt den ASt in seinen Rechten. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Sanktionsbescheid vom 16.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2012 war damit anzuordnen.

Ein Anspruch auf Auszahlung der im Hinblick auf diese Sanktion (112,20 EUR monatlich) gekürzten Leistungen fehlt für die Zeit vom 01.11.2011 bis 31.12.2011, da der diesbezügliche Bewilligungsbescheid vom 13.01.2012 idF des Änderungsbescheides vom 29.02.2012 nur gekürzte Leistungen berücksichtigt hat. Für das Ziel einer Auszahlung der Sanktionsbeträge bedarf es vorliegend folglich zudem einer Regelungsanordnung.

Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ist § 86b Abs 2 Satz 2 SGG.

Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn den ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1998 BVerfGE 79, 69 (74); vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166 (179) und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; Niesel/Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 5. Aufl, Rn 652).

Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den die ASt ihr Begehren stützen - voraus. Die Angaben hierzu haben die ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs 2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO -; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 9. Aufl, § 86b Rn 41).

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Sind hierbei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange der Ast zu entscheiden (vgl BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; zuletzt BVerfG vom 15.01.2007 - 1 BvR 2971/06 -). In diesem Zusammenhang ist eine Orientierung an den Erfolgsaussichten nur möglich, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist, denn soweit schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, darf die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern sie muss abschließend geprüft werden (vgl BVerfG vom 12.05.2005 aaO).

Wie oben ausgeführt, erfolgte die Leistungskürzung im Umfange von 112,20 EUR monatlich offensichtlich rechtswidrig. Die weiteren Leistungsvoraussetzungen sind nicht zweifelhaft. Dem Grunde nach hat der Ag auch Leistungen bewilligt. Es besteht mithin ein Anordnungsanspruch für die Zeit vom 01.03.2012 bis 31.05.2012 im Umfange der insoweit gekürzten Beträge iHv monatlich jeweils 112,20 EUR.

Im Rahmen einer Regelungsanordnung ist der Anordnungsgrund die Notwendigkeit, wesentliche Nachteile abzuwenden, um zu vermeiden, dass der ASt vor vollendete Tatsachen gestellt wird, ehe er wirksamen Rechtsschutz erlangen kann (vgl Keller aaO § 86b Rn. 27a). Charakteristisch ist daher für den Anordnungsgrund die Dringlichkeit der Angelegenheit, die in aller Regel nur in die Zukunft wirkt. Es ist rechtlich zwar nicht auszuschließen, dass auch für vergangene Zeiträume diese Dringlichkeit angenommen werden kann; diese überholt sich jedoch regelmäßig durch Zeitablauf. Ein Anordnungsgrund für Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung ist daher nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird, und ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht (vgl Beschluss des Senates vom 12.04.2010 - L 11 AS 18/10 B ER - juris).

Vorliegend war demnach im Hinblick auf die oben festgestellten rechtswidrigen Leistungskürzungen durch die Sanktion vom 16.02.2012 eindeutig davon auszugehen, dass dem ASt die Leistungen diesbezüglich ungekürzt zustehen, weshalb vorliegend eine vorläufige Verpflichtung des Ag zur Leistungsgewährung auch für abgelaufene Zeiträume auszusprechen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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