L 2 P 1/12

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 P 30/11
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 1/12
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Zur fehlenden Aktivlegimitation der Pflegeperson für die Geltendmachung des Anspruchs auf Pflegegeld in eigenem Namen.
2. Aus einer Patientenverfügung oder Betreuungsverfügung kann eine Sonderrechtsnachfolge nicht abgeleitet werden.
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 25. Oktober 2011 wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Der Streitwert wird auf 1.519,33 EUR festgesetzt.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Der Kläger begehrt die Gewährung von Pflegegeld nach der Pflegestufe II für die Zeit vom 20. Dezember 2010 bis März 2011 für die Pflege seines Stiefvaters. Er war Betreuer des 1929 geborenen und 2011 verstorbenen C., der sein Stiefvater war.
Der bei der Beklagten versicherte B. beantragte am 20. Dezember 2010 die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung.
Die Beklagte holte ein Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes vom 7. Februar 2011 ein. Der Versicherte lebe allein in einer 4-Zimmer-Altbauwohnung in A-Stadt. Die Wohnung befinde sich in einem desolaten Zustand. Die Pflegeperson - der Kläger - übernehme die hauswirtschaftliche und bei Bedarf die pflegerische Versorgung. Zurzeit könne er diese Aufgaben nur eingeschränkt übernehmen. Als pflegebegründende Diagnose bestehe eine altersabhängige Abnahme kognitiver Funktionen sowie ein Immobilitätssyndrom. Der zeitliche Bedarf in der Grundpflege betrage 60 Minuten, in der Hauswirtschaft 45 Minuten. Mit zunehmendem kognitiven und körperlichen Abbau sei mittelfristig zu rechnen. Allerdings könne die derzeitige Pflegeperson die nötige Versorgung nicht erbringen. Die vorgesehene Einschaltung eines ambulanten Dienstes erscheine nicht ausreichend.
Mit Bescheid vom 3. März 2011 lehnte die Beklagte, obwohl die Voraussetzungen der Pflegestufe I vorlägen, die Gewährung von Pflegegeld ab, da die Pflege und Versorgung durch die Pflegeperson nicht ausreichend sichergestellt sei. Den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 21. März 2011 zurück.
Mit der am 20. April 2011 beim Sozialgericht Augsburg eingegangenen Klage hat der Kläger die Zahlung von Pflegegeld der Pflegestufe II im Zeitraum vom 20. Dezember 2010 bis März 2011 verfolgt. Der Kläger hat mitgeteilt, dass er durch den Versicherten nicht wesentlich unterhalten worden sei und er und alle Erben nach dessen Tod die Erbschaft ausgeschlagen hätten. Er habe bis zum Tod des Versicherten ausschließlich die Pflegeleistungen erbracht. Der Stiefvater habe ab 2. Januar 2011 bei ihm und von Ende März 2011 bis April 2011 in C. gewohnt. Das Pflegegeld stehe deshalb ihm und nicht den Erben zu. Das Sozialgericht hat darauf hingewiesen, dass das Pflegegeld nach § 37 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI) dem Pflegebedürftigen und nicht der Pflegeperson zustehe.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 25. Oktober 2011 abgewiesen und den Streitwert auf 1.519,33 EUR festgesetzt. Nach dem Tod des pflegebedürftigen Versicherten sei der Kläger nicht berechtigt, den Anspruch gegen die Beklagte geltend zu machen. Er sei weder Sonderrechtsnachfolger seines verstorbenen Stiefvaters nach § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I) geworden noch habe er seinen Stiefvater beerbt. Zur Zeit des Todes habe der Kläger nicht mit seinem Stiefvater in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Dabei sei auf die letzte, auf Dauer gerichtete Änderung der maßgeblichen Verhältnisse abzustellen, die ohne den Tod wahrscheinlich fortbestanden hätten. Vorliegend sei der Stiefvater am 5. April 2011 von seiner Nichte zu sich nach C. genommen worden. Diese Änderung sei auf Dauer angelegt gewesen. Auch zuvor habe der Kläger nur vorübergehend mit seinem Stiefvater in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Wesentlich unterhalten worden sei der Kläger von seinem Stiefvater nach eigenen Angaben nicht. Schließlich habe der Kläger auch das Erbe ausgeschlagen. Die Kostenentscheidung beruhe auf der anzuwendenden Regelung des § 197 a Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Das Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 10. November 2011 zugestellt worden. Am Montag, den 12. Dezember 2011, ist die Berufung beim Bayer. Landessozialgericht eingegangen (Az. zunächst: L 2 KN 7/11 P). Durch eine als "Patientenverfügung" bezeichnete Erklärung des verstorbenen Versicherten vom 5. Mai 2001 in Verbindung mit der Ergänzung vom 17. November 2009, die vorgelegt wurden, habe dieser festgelegt, dass seine Betreuung und Pflege durch den Kläger erfolgen solle. Darüber hinaus habe der Kläger die Pflege auch tatsächlich in dem geltend gemachten Zeitraum vorgenommen. Es widerspreche dem Grundgedanken aller billig und gerecht Denkenden, wenn derjenige, der die Pflegeleistungen tatsächlich erbracht habe, hierfür nicht die Leistungen der Pflegeversicherung erhalten würde. Da die weiteren Erben nicht ohne Weiteres greifbar seien, könnten die erbrechtlichen Angelegenheiten nicht vorab geklärt werden. Sich hinter einer fehlenden Aktivlegitimation "verstecken" zu wollen, widerspreche den guten Sitten.
Die Beklagte hat sich auf die fehlende Aktivlegimitation des Klägers bezogen.
Auf den gerichtlichen Hinweis zur Begründung der Aktivlegitimation hat der Kläger zuletzt mitgeteilt, dass die Berufung mit der bisherigen Begründung aufrecht erhalten werde.
Das Gericht hat mit Schreiben vom 24. Mai 2012 die Beteiligten zur beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG angehört und Gelegenheit zur Äußerung bis 22. Juni 2012 eingeräumt. Die Beklagte hat einer Entscheidung durch Beschluss mit Schriftsatz vom 6. Juni 2012 zugestimmt.

Der Kläger beantragte gemäß Schriftsatz vom 12. Dezember 2011,
unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 25. Oktober 2011 den Bescheid der Beklagten vom 3. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2011 aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung von Pflegegeld der Pflegestufe II im Zeitraum vom 20. Dezember 2010 bis März 2011 zu verurteilen.

Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 3. Januar 2012,
die Berufung zurückzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf die Akte der Beklagten, des Sozialgerichts sowie der Berufungsakte verwiesen.



Entscheidungsgründe:


Der Senat konnte durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG entscheiden, da er diese einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten erhielten vorher Gelegenheit zur Äußerung. Eine Zustimmung der Beteiligten ist nicht erforderlich.
Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig; insbesondere ist diese auch fristgerecht innerhalb der Monatsfrist nach Zustellung des Urteils des Sozialgerichts eingelegt, da der Ablauf der Monatsfrist am 10. Dezember 2011 auf einen Samstag gefallen ist, so dass der Eingang der Berufung am Montag, den 12. Dezember 2011, fristgerecht war (§ 64 Abs. 3 SGG).
Zugunsten des Klägers war eine Betreuung nach §§ 1896 ff BGB bestellt worden, so dass grundsätzlich eine gerichtliche Vertretung des Versicherten durch den Kläger nach § 1902 BGB erfolgte. Am Tag der Klageerhebung (20. April 2011) war der Versicherte aber bereits verstorben. Die Betreuung endete mit dem Tod des Betreuten (vgl. hierzu: §§ 1896, 1908 i Abs. 1 S. 1, 1893 Abs. 1, 1698 b Bürgerliches Gesetzbuch - BGB), so dass auch die gerichtliche Vertretungsbefugnis nach § 1902 BGB erloschen war. Dies hat zur Folge, dass der Kläger in eigenen Namen auf Leistung an sich klagt.
Zutreffend hat das Sozialgericht das Vorliegen einer Aktivlegitimation des Klägers für die Gewährung von Pflegegeld durch die Beklagte verneint. Zur Erhebung einer zulässigen Klage müssen die allgemeinen Prozessvoraussetzungen gegeben sein. Hierzu gehört die Prozessführungsbefugnis, d.h. das Recht, einen Prozess als richtiger Beteiligter in eigenem Namen zu führen. Ist der Kläger materiell berechtigt, ist er für das gerichtliche Verfahren als Beteiligter (§ 69 Nr. 1 SGG) aktiv legitimiert (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leithe-rer, SGG, 10. Aufl., § 69 Rdnr. 4 m.w.N.). Es handelt sich insoweit um eine in allen Verfahrensordnungen gültige Frage; Raum für einen Verstoß gegen die guten Sitten, wie vom Kläger vorgebracht, besteht nicht. Vielmehr sind die allgemeinen Prozessvoraussetzungen in allen Rechtsinstanzen vorab vom Gericht von Amts wegen zu prüfen. Im Hinblick auf die Aktivlegitimation ist das Interesse der Beklagten, nicht mehrfach einem Anspruch ausgesetzt zu sein, zu schützen.
Grundsätzlich steht der hier geltend gemachte Anspruch auf Pflegegeld nicht der Pflegeperson, sondern dem versicherten Pflegebedürftigen zu; gemäß § 37 Abs. 1 S. 1 SGB XI können nämlich Pflegebedürftige anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen. Pflegebedürftig war vorliegend der Versicherte C ...
Eine Sonderrechtsnachfolge nach § 56 SGB I - hier in Bezug auf den Stiefvater nach § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 SGB I - ist vorliegend nicht eingetreten. Dies würde voraussetzen, dass der Kläger mit dem Pflegebedürftigen zur Zeit des Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelegt hat oder von ihm wesentlich unterhalten wurde. Der Kläger hat angegeben, nicht von seinem Stiefvater unterhalten worden zu sein. Zutreffend hat das Sozialgericht auch ausgeführt, dass er zur Zeit des Todes nicht mit diesem in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat. Vielmehr lebte der Pflegebedürftige seit 30. März bzw.
5. April 2011 bei der Nichte in C. und nicht mehr beim Kläger.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der im Berufungsverfahren vorlegten "Patientenverfügung" des Pflegebedürftigen vom 5. Mai 2001 in der Fassung vom 17. November 2009. Eine Erklärungsvorsorge ist u.a. in Form einer Patientenverfügung oder einer Betreuungsverfügung möglich. Dabei bezieht sich eine Patientenverfügung gemäß der Legaldefinition des § 1901 a Abs. 1 S. 1 BGB auf die Einwilligung oder Untersagung von Heilbehandlungen oder ärztlichen Eingriffen. Vorliegend hat der Verstorbene eine Regelung zur Pflegeperson getroffen, so dass das Vorliegen einer Betreuungsverfügung mit einem Wunsch zur Lebensgestaltung (§§ 1897 Abs. 4, 1901 Abs. 3 S. 2 BGB) nahe liegt. Tatsächlich erfolgte die Pflege im April 2011 durch die Nichte - auch wenn dies nicht dem Wortlaut der Erklärungsvorsorge entsprach. Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden, da die gemäß § 1901 Abs. 3 BGB geäußerten Wünsche eines Betreuten rechtlich keine Außenwirkung haben (Palandt-Diederichsen, Bürgerliches Gesetzbuch, 71. Aufl., § 1901 Rdnr. 2). Insbesondere ist eine Abtretung etwaiger Pflegegeldansprüche nach § 398 BGB in der "Patientenverfügung" nicht enthalten.
Insoweit ist im Rahmen des § 56 SGB I auf die tatsächliche Situation zum Zeitpunkt des Todes bzw., wie das Sozialgericht ausführte, auf die letzte, auf Dauer gerichtete Änderung der maßgeblichen Verhältnisse (Baier, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, § 56 SGB I Rdnr. 22) abzustellen.
Da der Kläger nach eigenen Angaben das Erbe ausgeschlagen hat, scheidet auch eine Prozessführungsbefugnis nach § 58 SGB I, § 1922 BGB aus. Die Ausschlagung ist unabhängig davon, wie schwierig die Feststellung der Erben im Übrigen ist.
Schließlich ist auch eine gewillkürte Abtretung des Anspruchs durch die Erben bzw. die Nichte nach § 398 BGB nicht vorgetragen oder ersichtlich.
Nach Überzeugung des Senats ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden und widerspricht auch nicht dem Grundsatz von Treu und Glauben entsprechend § 242 BGB, dass der Kläger den Pflegegeldanspruch nicht geltend machen kann. Der Gesetzgeber hat mit der Regelung des § 37 SGB XI das Selbstbestimmungsrecht des Pflegebedürftigen maßgebend beachtet. Dieser kann frei über die Verwendung des Pflegegeldes entscheiden (vgl. Udsching, SGB XI, 3. Aufl., § 37 Rdnr. 3). Das Pflegegeld stellt keine zweckbezogene Geldleistung dar, die zwangsläufig der Pflegeperson zufließen muss. Der Gesetzgeber respektierte damit gerade die Würde des Pflegebedürftigen nach Art. 1 des Grundgesetzes (GG) und dessen Selbstbestimmungsrecht nach Art. 1, 2 GG. Dabei ist vorliegend außerdem zu berücksichtigen, dass der Verstorbene noch kurz vor seinem Tod zu der Nichte umgezogen ist und diese tatsächlich die Pflege übernommen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG in Verbindung mit §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und berücksichtigt, dass die Berufung zurückzuweisen war. Der Kläger und die Beklagte gehören nicht zu den in § 183 SGG genannten Personen, so dass das sozialgerichtliche Verfahren kostenpflichtig ist. Eine Sonderrechtsnachfolge im Sinne des § 183 S. 1 SGG, § 56 SGB I besteht, wie dargelegt, nicht.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197 a Abs. 1 S. 1 SGG in Verbindung mit § 52 Gerichtskostengesetz (GKG). Da der geltend gemachte Anspruch im Hinblick auf die Höhe des Pflegegeldes (430.- EUR monatlich) und die Dauer (Zeitraum vom 20. Dezember 2010 bis März 2011) bezifferbar ist, ist der Streitwert gemäß § 52 Abs. 3 auf diesen Betrag (1.519,33 EUR) festzusetzen.
Rechtskraft
Aus
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