L 9 AL 254/11

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 36 AL 1324/09
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AL 254/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 11 AL 64/12 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts München vom 30.08.2011 insoweit abgeändert,
als die Klage als unzulässig zu verwerfen war. Im Übrigen wird
die Berufung zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Zustimmung der Beklagten vom 02.06.2009 zu einer Massenentlassung, die dadurch erforderlich wurde, dass die D. AG der Fa. "D. GmbH & Co. OHG" (Fa. D.) die Räumlichkeiten im Bereich des Hauptbahnhofs B-Stadt gekündigt hatte, wodurch eine Betriebsstilllegung erforderlich wurde.

Die Klägerin war Arbeitnehmerin der Fa. D., welche am 29.05.2009 gegenüber der Beklagten die bevorstehende Entlassung von 42 Arbeitnehmern zum 31.12.2009 anzeigte.

Nach einer in den Akten der Beklagten vorhandenen, an den zuständigen Betriebsrat der Fa. D. gerichteten Information vom 14.04.2009, sollten die Kündigungen im Juni 2009 ausgesprochen und zum 31.12.2009, in Abhängigkeit der geltenden Kündigungsfristen ggf. auch später, wirksam werden. Mit dem Betriebsrat sei ein Interessenausgleich und Sozialplan verhandelt worden.

Die Beklagte erteilte mit Bescheid vom 02.06.2009 die Zustimmung zu den von der Fa. D. angezeigten Entlassungen.

Die Klägerin legte am 15.09.2009, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, Widerspruch gegen den Bescheid vom 02.06.2009 ein. Durch den Bescheid vom 02.06.2009 werde auch das Arbeitsverhältnis der Klägerin betroffen. Ihr stehe eine Anfechtungs- und Klagebefugnis zu, da der Bescheid vom 02.06.2009 privatrechtsgestaltende Wirkung habe. Der Ausschluss einer Anfechtungsmöglichkeit würde auch der Richtlinie des Rates 75/129/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Massenentlassungen vom 17.02.1975 widersprechen. Der Bescheid vom 02.06.2009 sei wegen eines Ermessensfehlers rechtswidrig. Die §§ 17 ff des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) würden auch individuelle Interessen schützen. Die berechtigten Belange der Klägerin seien nicht berücksichtigt und eine Anhörung nicht durchgeführt worden.

Die Beklagte verwarf den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10.12.2009 als unzulässig. Dem einzelnen Arbeitnehmer stehe nach herrschender Rechtsauffassung kein Widerspruchs- und Klagerecht zu, da er am Verfahren nicht beteiligt sei und der Kündigungsschutz des § 17 KSchG ihm nur mittelbar zugute komme.

Hiergegen ließ die Klägerin am 15.12.2009, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, Klage zum Sozialgericht München erheben. Durch den Bescheid vom 02.06.2009 werde auch das Arbeitsverhältnis der Klägerin betroffen. Ihr stehe eine Anfechtungs- und Klagebefugnis zu, da der Bescheid vom 02.06.2009 privatrechtsgestaltende Wirkung habe. Der Ausschluss einer Anfechtungsmöglichkeit würde auch der Richtlinie des Rates 75/129/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Massenentlassungen vom 17.02.1975 widersprechen. Der Bescheid vom 02.06.2009 sei wegen eines Ermessensfehlers rechtswidrig, §§ 17 ff. KSchG würden auch individuelle Interessen schützen. Die berechtigten Belange der Klägerin seien nicht berücksichtigt, eine Anhörung der Klägerin nicht durchgeführt worden.

Das Sozialgericht München (SG München) hat die Klägerin mit Schreiben vom 30.03.2011, 09.05.2011 und 21.06.2011, dieses dem Bevollmächtigten der Klägerin gemäß Postzustellungsurkunde am 24.06.2011 zugestellt, aufgefordert mitzuteilen, wann und zu welchem Beendigungstermin die Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin erfolgt sei und gebeten, eine Kopie der Kündigung vorzulegen. Dieser Aufforderung ist die Klägerin nicht nachgekommen.

Nach Anhörung vom 19.07.2011 hat das SG München die Klage durch Gerichtsbescheid vom 30.08.2011 abgewiesen.

Das SG München hat darin ausgeführt, dass eine Anfechtungsklage nur zulässig sei, wenn die Klägerin behaupte, durch den Verwaltungsakt beschwert zu sein. Dies setze voraus, dass die Verletzung eigener oder der in zulässiger Prozessstandschaft vertretenen Rechte eines Dritten geltend gemacht werden und die Verletzung dieser Rechte danach auch möglich erscheine. Die Klagebefugnis fehle, wenn nach dem Klagevorbringen eine Verletzung derartiger Rechte nicht in Betracht komme.

Eine Verletzung von Rechten der Klägerin sei nach den dem Sozialgericht bekannten Tatsachen nicht gegeben. Gemäß § 20 Abs. 1 S. 1 KSchG treffe die Entscheidungen der Agentur für Arbeit nach § 18 Abs. 1 und 2 KSchG deren Geschäftsführung oder ein Ausschuss (Entscheidungsträger). Nach § 18 Abs. 1 KSchG würden Entlassungen, die nach § 17 KSchG anzuzeigen sind, vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige nur mit Zustimmung der Agentur für Arbeit wirksam. Nach § 18 Abs. 2 KSchG könne die Agentur für Arbeit im Einzelfall bestimmen, dass die Entlassungen nicht vor Ablauf von längstens zwei Monaten nach Eingang der Anzeige wirksam würden.

Die Klägerin habe trotz Aufforderungen des Gerichts vom 30.03.2011, 09.05.2011 und 21.06.2011 nicht mitgeteilt, wann und zu welchem Beendigungstermin die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses erfolgt sei. Nach den von der Fa. D. im Rahmen des Anzeigeverfahrens nach § 17 KSchG bei der Beklagten vorgelegten Unterlagen sollten die betroffenen Arbeitnehmer der Fa. D. zum 31.12.2009 gekündigt werden.

Unabhängig von der Entscheidung der Beklagten, die Zustimmung zu Entlassungen nach § 18 Abs. 1 KSchG zu erteilen, hätte das Arbeitsverhältnis der Klägerin aufgrund einer durch die Fa. D. ausgesprochenen Kündigung erst nach Ablauf der Sperrfrist des § 18 Abs. 1 KSchG geendet, so dass die Dauer des Arbeitsverhältnisses der Klägerin von der Zustimmung der Beklagten nach § 18 Abs. 1 KSchG nicht betroffen gewesen sei.

Nach § 18 Abs. 1 KSchG würden Entlassungen, die nach § 17 KSchG anzuzeigen sind, vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige nur mit Zustimmung der Agentur für Arbeit wirksam. Bis zum Ablauf der gesetzlichen Frist könne eine vom Arbeitgeber erklärte Kündigung keine Wirkung entfalten. Die Kündigung nach Anzeigenerstattung bleibe aber als Rechtsgeschäft grundsätzlich wirksam; sie beende das Arbeitsverhältnis, sofern dieses Ende vor dem Ende der Sperrfrist liegen sollte, nur nicht zu dem in der Kündigungserklärung genannten Zeitpunkt. Ausgehend von der Anzeige der Entlassungen nach § 17 KSchG am 29.05.2009 gelte eine einmonatige Sperrfrist vom 30.05.2009 bis 29.06.2009. Innerhalb dieser Frist sollte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin nicht beendet werden. Die Klägerin habe auch nicht vorgetragen, dass das Arbeitsverhältnis bis zum 29.06.2009 durch Kündigung wirksam beendet worden wäre.

Der Auffassung, dass die Kündigung als Rechtsgeschäft auch innerhalb der Sperrfrist des § 18 Abs. 1 KSchG wirksam bleibe, stehe auch nicht die Richtlinie 98/59/EG vom 20.07.1998 (Massenentlassungsrichtlinie - MERL) entgegen. Diese Richtlinie habe die vorangegangene Richtlinie RL 75/129/EWG, auf welche sich der klägerische Bevollmächtigte beruft, abgelöst. Nach der Entscheidung des EuGH vom 27.01.2005 (Az. C-188/03 - [Junk] EuGHE I 2005, 885) stehe Art. 3 und Art. 4 MERL einer Kündigung von Arbeitsverhältnissen während des durch sie geregelten Verfahrens nicht entgegen, sofern diese Kündigung nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde erfolge. Daraus folge, dass eine Kündigung nach Anzeigenerstattung innerhalb der Sperrfrist erfolgen dürfe, die betroffenen Arbeitnehmer aber nicht vor Ablauf der
Monatsfrist des § 18 Abs. 1 KSchG - oder im Fall des § 18 Abs. 2 KSchG der längstens zweimonatigen Frist - aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden würden.

Die Beklagte habe daher mit Bescheid vom 02.06.2009 keine das Arbeitsverhältnis der Klägerin berührende Entscheidung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bis 29.06.2009 getroffen, obwohl mit diesem Bescheid eine Zustimmung nach § 18 Abs. 1 KSchG erteilt worden sei. Wie bereits dargelegt, habe das Arbeitsverhältnis der Klägerin nicht bis 29.06.2009 geendet, so dass die Zustimmung der Beklagten nach § 18 Abs. 1 KSchG, Arbeitsverhältnisse bis 29.06.2009 zu beenden, nicht das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit der Fa. D. betroffen habe. Auf eine Zustimmung der Beklagten zu Entlassungen, die zum 31.12.2009 wirksam werden sollen, komme es nach den Bestimmungen der §§ 17, 18 KSchG für die Wirksamkeit der Kündigungen nicht an, so dass für die Klägerin auch hinsichtlich einer allgemeinen Zustimmung der Beklagten zur Massenentlassung keine Beschwer ableitbar sei.

Die Abweisung der Klage als unzulässig bedeute auch keine Verletzung des allgemeinen Justizgewährleistungsanspruchs nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz - GG -. Die Klägerin habe auch unter Berücksichtigung des Art. 19 Abs. 4 GG keinen Anspruch, jede Entscheidung der Beklagten überprüfen zu lassen, wenn sie durch diese nicht selbst in eigenen Rechten betroffen werde (unter anderem BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26.04.2010, Az. 2 BvR 2179/049).

Hiergegen hat die Klägerin mit Eingang am 31.08.2011 Berufung beim SG München einlegen lassen. Am 05.09.2011 ist die Berufung der Klägerin beim Bayerischen Landessozialgericht eingegangen. Bei dem Bescheid vom 02.06.2009 handele es sich um einen privatrechtsgestaltenden Verwaltungsakt mit belastender Drittwirkung. Aus diesem Grund könne der Klägerin eine Anfechtungs- und Klagebefugnis nicht abgesprochen werden.

Die Klägerin beantragt:
1. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 30.08.2011 wird aufgehoben.
2. Der Bescheid der Beklagten vom 02.06.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2009 wird aufgehoben.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

In ihrer Berufungserwiderung vom 27.01.2012 hat die Beklagte auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid sowie auf den Gerichtsbescheid des SG München verwiesen.

Am 07.02.2012 erklärte sich die Klägerin mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden. Das Einverständnis der Beklagten ging am 04.05.2012 ein.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet.

Es kann offen bleiben, ob der Bescheid vom 02.06.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2009 rechtswidrig ist oder nicht, jedenfalls wird hierdurch nicht in die Rechte der Klägerin eingegriffen, so dass die vor dem SG München erhobene Klage unzulässig und daher zu verwerfen war.

Die Unzulässigkeit folgt daraus, dass die Klägerin nicht klagebefugt ist. Die Klägerin kann den o.g. Bescheid der Beklagten vom 02.06.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids nicht anfechten, denn die hierfür erforderliche Beschwer im Sinne von § 54 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann nicht vorliegen. Die angegriffenen Bescheide sind an die Beklagte und nicht an die Klägerin gerichtet. Dies schließt allerdings die Klagebefugnis noch nicht aus, denn auch Verwaltungsakte mit Drittwirkung können angefochten werden. Nach § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG ist die Anfechtungsklage zulässig, wenn die Klägerin behauptet, durch den angefochtenen Verwaltungsakt beschwert zu sein. Sie ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Ausgehend davon ist die Klagebefugnis nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gegeben, wenn nach der Behauptung der Klägerin der angefochtene Verwaltungsakt in ihre eigenen rechtlichen Interessen eingreift (BSG vom 06.02.1992, Az. 12 RK 15/90, Rz. 13 mit weiteren Nachweisen bei juris). Die Geltendmachung einer Verletzung rein finanzieller, wirtschaftlicher, ideeller oder lediglich berechtigter Interessen, wie sie nach § 75 Abs. 1 Satz 1 SGG für die (einfache) Beiladung genügen, reicht nicht aus. Es hängt von dem jeweiligen Rechtsgebiet ab, ob ein Verwaltungsakt mit Drittwirkung eine Klägerin in diesem Sinne betrifft, an den sich nicht der Verfügungssatz des Verwaltungsakts richtet. Hierzu muss die Möglichkeit bestehen, dass der angegriffene Verwaltungsakt gegen eine Rechtsnorm verstößt, die zumindest auch dem Schutz individueller Interessen dient. Die geltend gemachten rechtlichen Interessen der Klägerin müssen vom Schutzzweck der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm erfasst sein (BSG a.a.O). Unter Anwendung dieses Maßstabs ergibt sich, dass die Klägerin nicht in der nach § 54 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 SGG erforderlichen Weise beschwert sein kann.

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte am 02.06.2009 nach § 20 KSchG auf der Grundlage der Anzeige vom 29.05.2009 insgesamt 42 geplanten Kündigungen zum 31.12.2009 oder später zugestimmt. Aus diesem Grund musste die Beklagte auch keine Entlassungssperre nach § 18 Abs. 2 KSchG bestimmen, so dass insoweit auch kein Ermessen auszuüben war. Gegenüber dem Arbeitnehmer entfaltet die Zustimmung der Beklagten gegenüber dem Arbeitgeber keine Wirkung, so dass die Arbeitnehmerin gehalten ist, gegen die Wirksamkeit der Kündigung selbst arbeitsgerichtlich vorzugehen (vgl. Backmeister in Backmeister/Trittin/Mayer, Kündigungsschutzgesetz, 3. Auflage 2004, § 18 KSchG Rz 13). Die Zustimmung der Beklagten zu den vom Arbeitgeber geplanten Kündigungsmaßnahmen lässt die Rechtsstellung der Klägerin völlig unberührt. Die Zustimmung zu diesen Maßnahmen des Arbeitgebers führt weder zu einer Fiktion der Wirksamkeit möglicher Kündigungen, noch führt die fehlende Zustimmung zu einem Erfolg in einem entsprechenden Kündigungsschutzverfahren, wenn dies bzw. andere Unwirksamkeitsgründe nicht rechtzeitig nach Maßgabe der §§ 4, 7 und 13 KSchG geltend gemacht werden.

Da die Zustimmung der Beklagten das Rechtsverhältnis zur Klägerin nicht berührt, liegt auch kein Fall der sog. notwendigen Beiladung nach § 75 Abs. 2 Alt. 1 SGG vor.

Im Übrigen verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Gerichtsbescheides des SG München vom 30.08.2011, denen es sich vollumfänglich anschließt (§ 153 Abs. SGG).

Die Klage vor dem SG München war daher als unzulässig zu verwerfen.
Die Berufung war als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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