L 15 VJ 9/09

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 14 VJ 1/05
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 VJ 9/09
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Entgegen dem Wortlaut von § 61 Satz 1 IfSG genügt als Beweismaßstab für die Kausalität im Impfschadensrecht insgesamt - also für haftungsbegründende und haftungsausfüllende - deren Wahrscheinlichkeit.
2. Es ist unzulässig, in jedem impfschadensrechtichen Fall zu verlangen, es müsse eine deutlich wahrnehmbare und fixierbare Primärschädigung festgestellt werden.
3.Die Kausalitätsbeurteilung im Impfschadensrecht hat in Form einer Gesamtabwägung aller relevanten Umstände zu erfolgen.
4. Die in Impfschadensstreitigkeiten von Klägerseite häufige Präsentation von erdachten Kausalzusammenhängen, mit denen untermauert werden soll, dass ein Impfschaden aber doch "nicht auszuschließen" sei, verkennt den rechtlich vorgegebenen Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit.
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg
vom 20. August 2009 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Die Parteien streiten wegen einer Versorgung nach dem Impfschadensrecht. Der Kläger macht eine Funktionsstörung des rechten Beins (Quadrizepsathrophie) als Impfschaden geltend.

Der 1976 geborene Kläger wurde am 05.08.1982 gegen Masern und Mumps geimpft (MM-Impfung); es handelt sich dabei seit jeher um eine Lebendimpfung. Nähere Informationen lassen sich dem Impfbuch nicht entnehmen; weder sind darin Impfstoff und Chargennummer noch die Impfstelle am Körper vermerkt. Nach den Angaben des Klägers wurde der Impfstoff in den rechten Oberschenkel injiziert. Er selbst hat im Lauf des Verfahrens entweder geäußert, die Impfung sei unkompliziert verlaufen (vor dem Psychiater H.), oder aber, er besitze keine Erinnerung an eventuelle negative Begleitumstände. Die Mutter des Klägers hat indes in einem Schreiben vom 29.02.2008, das sie in Zusammenhang mit der Begutachtung durch Dr. K. erstellt hat, angegeben, der Kläger habe bei der Impfung im Oberschenkel große Schmerzen gehabt.

In der Folgezeit trat beim Kläger eine Quadrizepsathrophie auf. Zur der Frage, wann zum ersten Mal eine Veränderung am rechten Bein bemerkt worden war, divergieren die Angaben erheblich. In einem Bericht des H. Kinderspitals, B-Stadt, vom 10.10.1985 über einen stationären Aufenthalt vom 25. bis 30.08.1985 ist vermerkt, der Mutter des Klägers sei im Frühjahr 1984 aufgefallen, dass dessen rechter Oberschenkel dünner sei; das bestätigte der Kläger im Versorgungsantrag vom 06.06.2003 und davon ist auch der Sachverständige Dr. H. ausgegangen. Eine erste fachärztlich-neurologische Untersuchung erfolgte im September 1984. Im Rahmen einer medizinischen Rehabilitation vom 30.07. bis 27.08.1986 im Neurologischen Rehabilitationskrankenhaus für Kinder und Jugendliche in G. trugen die Eltern des Klägers vor, bereits im Mai 1983, als der Junge angefangen habe, kurze Hosen zu tragen, sei aufgefallen, dass der rechte Oberschenkel dünner sei. Bei den ärztlichen Untersuchungen im Rahmen der Begutachtungen nach Einleitung des Versorgungsverfahrens gab der Kläger jeweils an, ein Nachbar habe 1983 bemerkt, dass der rechte Oberschenkel dünner sei als der linke (vor dem Psychiater H.: etwa ein Jahr nach der Impfung; vor Dr. B.: im März 1983). In dem besagten Schreiben, das die Mutter des Klägers in Zusammenhang mit der Begutachtung durch Dr. K. erstellt hat, wird angegeben, neun Monate nach der Impfung sei eine Verschmächtigung aufgefallen.

Die Quadrizepsathrophie als solche verlief nicht progredient. Allerdings kam es durch sie zu Funktionsstörungen des rechten Knies, der Wirbelsäule und der Hüfte. Die exakte Ursache der Quadrizepsathrophie hat bis heute nicht festgestellt werden können. Der aktuelle Grad der Behinderung nach dem Schwerbehindertenrecht beträgt 30.

Mit Antrag vom 06.06.2003 begehrte der Kläger, die Verschmächtigung des rechten Oberschenkels als Impfschaden anzuerkennen und ihm Versorgung zu gewähren. In dem Antrag schrieb der Kläger, durch die Injektion in den rechten Oberschenkel sei der Nervus femoralis verletzt worden. Er wurde vom Psychiater H. versorgungsmedizinisch begutachtet. Im Rahmen der Anamnese gab der Kläger an, er halte es für möglich, dass bei der Impfung der Nerv geschädigt worden sei. Vor der Impfung sei er beim Laufen mit Gleichaltrigen immer der Schnellste gewesen, danach der Langsamste. Herr H. stellte eine deutliche Atrophie der Quadrizepsmuskulatur des rechten Oberschenkels bei zugrunde liegender Schädigung des Nervus femoralis fest. Eine direkte Schädigung durch den Impfvorgang hielt er für äußerst unwahrscheinlich, weil die Impfung an der Außenseite des Oberschenkels erfolgt war, der Nervus femoralis aber an der Innenseite verläuft. Aufgrund dessen lehnte die Beklagte den Antrag auf Impfschadensausgleich mit Bescheid vom 14.07.2004 ab.

Auf den Widerspruch des Klägers vom 23.07.2004 hin zog der Beklagte erneut seinen ärztlichen Dienst hinzu. Von dort (Frau M.) wurde ausgeführt, bei der vom Kläger mitgeteilten Einstichstelle am oberen lateralen Drittel des rechten Oberschenkels sei eine Schädigung des Nervenhauptstamms ausgeschlossen. Selbst bei der Annahme einer Verletzung eines seitlich am Oberschenkel verlaufenden Astes des Nervus femoralis würde daraus keine Atrophie des Oberschenkelstreckmuskels resultieren. Eine mechanische Nervenschädigung scheide als Ursache der ausgeprägten Atrophie aus. Zu dem Vortrag des Klägers, die MM-Impfung habe eine serogenetische Polyneuritis ausgelöst, die wiederum für die Beschwerden verantwortlich sei, schrieb Frau M., eine auf das Mumps-Impfvirus zurückzuführende serogenetische Polyneuritis sei sehr unwahrscheinlich. Daraufhin wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 06.04.2005 zurück.

Am 28.04.2005 hat der Kläger beim Sozialgericht Regensburg Klage erhoben. Der Betriebsmediziner, Umweltmediziner und Facharzt für das öffentliche Gesundheitswesen Dr. H. K. hat ein Gutachten nach § 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nach persönlicher Untersuchung erstellt (Gutachten vom 21.04.2008). Die MM-Impfstoffe, so Dr. K., seien zwar gut verträglich, grundsätzlich könnten jedoch in sehr seltenen Fällen auch durch das Impfvirus die gleichen Komplikationen auftreten wie bei der eigentlichen Infektionskrankheit. Eine isolierte Quadrizepsatrophie sei bisher nach Masern oder Mumps nicht beschrieben worden. Unabhängig davon seien jedoch nach MM-Impfungen im zeitlichen Zusammenhang neurologische Erkrankungen aufgetreten (Neuritis, aufsteigende Lähmungen einschließlich Guillain-Barré-Syndrom). Nach der Fachliteratur würden solche Komplikationen aber wenige bis mehrere Tage nach der Impfung auftreten, d.h. in deutlich engerem zeitlichem Zusammenhang als hier und nicht erst nach Monaten. Im vorliegenden Fall müsse ein zeitlicher Zusammenhang angezweifelt werden. Eine Meningitis oder Enzephalitis sei beim Kläger zu keiner Zeit diagnostiziert worden. Eine mechanische oder mechanisch-toxische Schädigung des Nervus femoralis sei praktisch ausgeschlossen. Zusammenfassend hat Dr. K. konstatiert, nach heutigem Wissensstand seien die beim Kläger bestehende isolierte Quadrizepsathrophie rechts nach Femoralisparese sowie die Folgeerkrankungen nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit Folge der MM-Impfung. Zwar sei ein Verursachungszusammenhang nicht auszuschließen, jedoch spreche mehr dagegen als dafür. Als mögliche Krankheitsursache hat der Sachverständige eine Neuroborreliose diskutiert.

Sodann hat Dr. K. H. ein Gutachten nach persönlicher Untersuchung gemäß § 109 SGG erstellt. In seinem Gutachten vom 03.09.2008 (mit ergänzender Stellungnahme vom 08.10.2008) hat Dr. H. konstatiert, Schmerzen oder Symptome hätten auch im Frühjahr 1984, als die Oberschenkelverschmächtigung entdeckt worden sei, nicht bestanden. Das Krankheitsbild, so Dr. H., sei nicht progredient gewesen. Eine traumatische Ursache, eine Infektion oder Intoxikation würden als Schadensursachen ausscheiden. Am wahrscheinlichsten sei die Nervenschädigung durch eine immunologisch vermittelte Neuritis bedingt, hier eine multifokale motorische Neuritis (MMN) mit anschließender Neuropathie. Bei immunologisch vermittelten Erkrankungen des peripheren Nervensystems komme es zu einem Angriff des Immunsystems auf die Nervenfasern mit einer Entzündungsreaktion (Neuritis). Beim Kläger sei die Krankheit aufgrund der fehlenden Schmerzsymptomatik im akuten Stadium unbemerkt geblieben, erst viel später seien die Auswirkungen sichtbar geworden. Ob Symptome wie Muskelzittern vorgelegen hätten, sei nicht erinnerlich. Die im Frühjahr 1984 bemerkte Verschmächtigung des rechten Oberschenkels habe sich sicherlich über mehrere Monate hingezogen. Von der MMN sei bekannt, dass bei dieser wiederum einige Monate bis zur massiven Schädigung des Nervs vergehen könnten. Insgesamt sei der zeitliche Verlauf für die Auslösung der Erkrankung durch die MM-Impfung als plausibel zu betrachten. In Beantwortung der Beweisfragen hat Dr. H. geschrieben, die Neuritis sei wahrscheinlich durch die MM-Impfung ausgelöst worden; die anderen Gesundheitsstörungen seien direkte Folge dieser Nervenschädigung. Der Grad der Schädigung betrage 30.

Dazu hat Dr. K. eine ergänzende Stellungnahme vom 19.03.2009 vorgelegt. Objektivierbar sei, so Dr. K., eine isolierte Muskelatrophie des rechten Oberschenkels auf dem Boden einer Neuritis bzw. Neuropathie. Hierfür kämen zahlreiche Ursachen in Betracht (infektiöse, toxische, degenerative, traumatische, ischämische, neuroallergische, dystrophische oder idiopathische). Eine MMN sei unwahrscheinlich. Die Erkrankung beginne meist zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr mit asymmetrischen Paresen und Atrophien der kleinen Handmuskeln (80 %), nur selten an den Beinen. Im Verlauf der meist langsam fortschreitenden, selten schubförmigen Erkrankung kämen weitere Paresen dazu, ebenso Muskelzuckungen und Muskelkrämpfe. Ohne Therapie sei der Verlauf progredient. Beim Kläger sei es jedoch spontan zu einem Stillstand, sogar zu einer Besserung gekommen. Außerdem sei signifikant nur ein einziger Nerv beteiligt. Zudem hat Dr. K. auf die extreme Seltenheit einer Mononeuritis nach MM-Impfungen hingewiesen.

Mit Urteil (nach § 124 Abs. 2 SGG) vom 20.08.2009 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und sich in der Begründung dem Gutachten des Dr. K. angeschlossen.

Am 12.10.2009 hat der Kläger Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er auf die Fachinformation des Impfstoffherstellers verwiesen, die eine Neuritis als mögliche Nebenwirkung aufführe; auch die aktuellen Hinweise der STIKO für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Nebenwirkungen bei Schutzimpfungen würden eine Neuritits nennen. Die von Dr. K. als mögliche Ursache genannte Borreliose sei spekulativ. Ein plausibler zeitlicher Rahmen zwischen Impfung und Auftreten der Beschwerden liege vor.

Der Senat hat ein medizinisches Gutachten nach persönlicher Untersuchung vom Neurologen Dr. B. (F.-Institut der L.-Universität B-Stadt) eingeholt. Im Gutachten vom 11.05.2012 hat Dr. B. folgende aktuellen Gesundheitsstörungen diagnostiziert:
- Atrophie des Musculus quadriceps mit resultierender hochgradiger Kniestreckerschwäche und fettig-degenerativem Umbau aller vier muskulären Anteile, verursacht durch eine axonale Schädigung des Nervus femoralis rechts,
- Umfangsminderung der Wadenmuskulatur rechts ohne manifeste Schwäche mit geringgradigem chronisch-neurogenem Umbau,
- Kniebeugekontraktur rechts,
- Beinverkürzung rechts mit Beckentiefstand rechts,
- Verkürzung der Achillessehne rechts,
- milde thorakolumbale Skoliose.

Die Atrophie als Erstsymptom sei frühestens im Mai 1983 bemerkt worden. Jedoch bestehe Unklarheit darüber, wann genau erstmals die Verschmächtigung des Oberschenkels aufgetreten sei. In diesem Zusammenhang hat Dr. B. die Frage aufgeworfen, warum die erste fachärztliche Diagnostik erst im September 1984 angestellt worden sei, wenn doch die Verschmächtigung schon im Mai 1983 aufgefallen sei. Dr. B. geht davon aus, die Symptome hätten sich langsam entwickelt; eine schnelle Entwicklung hätte nicht so gut kompensiert werden können. Abgesehen von der Impfung selbst, so der Sachverständige, dürften zu keinem Zeitpunkt Schmerzen bestanden haben. Eine relevante Sensibilitätsstörung lasse sich damals wie heute nicht sicher nachvollziehen. Die aktuellen Befunde belegten eine rein motorische Schädigung, nicht aber eine der sensiblen Fasern des Nervus femoralis. Für eine Demyelinisierung (Schädigung der Nervenhülle) gebe es keinerlei Hinweise, nur für eine massive Schädigung des eigentlichen Nervenkabels. Somit bestehe eine rein motorische, primär axonale Mononeuropathie. Bei axonalen Schädigungen würden Schwäche und Atrophie gleichzeitig ablaufen; das sei hier der Fall. Bei demyelinisierenden Schädigungen entstehe zunächst eine Schwäche ohne Atrophie; die Atrophie erfolge mit deutlicher Verzögerung. Vom Zeitpunkt des erstmaligen Bemerkens der Atrophie könne nicht zuverlässig auf den Schädigungszeitpunkt geschlossen werden. Angesichts der langsamen Krankheitsentwicklung könne der Schädigungszeitpunkt vor, nahe um, aber auch noch nach dem Impftermin gelegen haben.

Auf dem Boden der vorliegenden Erkenntnisse - nämlich nicht progredient, schmerzlos, rein motorisch, primär axonal - ließen sich, so Dr. B. weiter, die bisher gestellten Diagnosen wie MMN oder sonstige Immunneuropathien verwerfen. Für die MMN sei der Nachweis der Schädigung der Myelinschicht eine der Grundbedingungen für die Diagnose einer Erkrankung. Gegen das Ergebnis des Dr. H. spreche auch, dass nur ein Nerv betroffen gewesen sei; das typische klinische Erscheinungsbild der MMN habe zu keinem Zeitpunkt vorgelegen. Ein Erkrankungsbeginn bei einem sechsjährigen Kind wäre eine absolute Rarität. Allgemein sei zwischen einer MMN - obwohl diese Erkrankung gut untersucht sei - und einer Impfung kein Zusammenhang bekannt. Sonstige Neuritiden kämen ebenfalls nicht in Betracht. Diese gingen klassischerweise mit Schmerzen und Sensibilitätsstörungen sowie Nervenwasserveränderungen einher. Auch immunvermittelte Gefäßentzündungen (Vaskulitiden) seien zu verneinen.

Dr. B. ist zum Ergebnis gekommen, eine mechanische Verletzung durch die Impfinjektion sei auszuschließen. Eine spinale Muskelatrophie oder andere Motoneuronerkrankungen oder Poliomyelitis seien nicht gegeben. Tragfähige Hinweise auf eine Neuroborreliose gebe es nicht. Im Zusammenhang mit Alternativursachen hat Dr. B. auf im Computertomogramm nachgewiesene Substanzminderungen im Kleinhirn hingewiesen. Weil auch Probleme mit dem Unterschenkel existierten und auch die rechte Beckenseite dysplas-tisch verändert sei, erscheine eine kindliche Entwicklungsstörung nicht unwahrscheinlich; schon der behandelnde Arzt Dr. M. habe eine geburtstraumatische Schädigung in Betracht gezogen. Die exakte ursächliche Einordnung sei extrem schwierig und wohl auch nicht mehr möglich. In der Gesamtschau aller vorliegenden Informationen sei eine Verursachung der Nervenschädigung durch eine impfvermittelte oder impfgetriggerte Reaktion nicht wahrscheinlich. Dr. B. hat die Frage des Senats, ob in der medizinischen Wissenschaft bezüglich der (allgemeinen) Ursache des beim Kläger vorliegenden Leidens Ungewissheit - diesen Begriff hat der Senat mit "keine einheitliche, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen" erläutert - bestehe, verneint. Es fehle auch an der "guten Möglichkeit" einer Verursachung.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 20. August 2009 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 14. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. April 2005 zu verurteilen, als Schädigungsfolge nach dem Infektionsschutzgesetz eine axonale Schädigung des Nervus femoralis rechts sowie eine Quadrizepsatrophie mit Folgeerkrankung anzuerkennen und Versorgung nach dem Infektionsschutzgesetz zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, insbesondere wegen des Inhalts medizinischer Berichte, Gutachten und Unterlagen, wird auf die Akten des Beklagten, des Sozialgerichts und des Bayerischen Landessozialgerichts verwiesen. Diese haben allesamt vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.



Entscheidungsgründe:


Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Streitgegenstand ist das Begehren des Klägers, die Feststellung einer axonalen Schädigung des Nervus femoralis rechts sowie einer Quadrizepsatrophie samt Folgeerkrankungen als Impfschaden sowie die Zuerkennung eines Versorgungsanspruchs zu erreichen. Das Begehren des Klägers wird im Folgenden ausschließlich nach den einschlägigen Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) beurteilt. Denn der Versorgungsantrag wurde erst im Juni 2003 gestellt, also bereits unter der Geltung des IfSG. Ein Tatbestand, der die Rückwirkung einer Versorgungsgewährung vor die Zeit der Antragstellung zur Folge haben könnte, ist nicht zu erkennen. Damit bleiben keine "Anspruchsreste", die materiell nach den bis Ende 2000 geltenden Bestimmungen des Bundesseuchengesetzes (BSeuchG) zu beurteilen wären (vgl. dazu BSG SozR 4-3851 § 20 Nr. 1, Rn. 6).

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG erhält bei einem Impfschaden u.a. Versorgung, wer durch eine Schutzimpfung, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Nach § 61 Satz 1 IfSG genügt zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinn des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann gemäß § 61 Satz 2 IfSG mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinn des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG anerkannt werden. Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

Dahin stehen kann, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG im Übrigen erfüllt sind. Jedenfalls scheitert das Begehren des Klägers auf eine Versorgung nach dem IfSG daran, dass einerseits zwischen der angeschuldigten Impfung und der beim Kläger bestehenden Nervenerkrankung kein Kausalzusammenhang im versorgungsrechtlichen Sinn wahrscheinlich ist (dazu unten 1.) und andererseits auch die Voraussetzungen für die so genannte Kann-Versorgung nicht vorliegen (dazu unten 2.).

1. Versorgung aufgrund mit Wahrscheinlichkeit erwiesenen Kausalzusammenhangs zwischen Impfung und Gesundheitsschaden

Ein kausaler Zusammenhang zwischen Impfung und bestehendem Gesundheitsschaden des Klägers ist nach Überzeugung des Senats nicht wahrscheinlich.

Im Rahmen der Kausalität zwischen Impfung und Gesundheitsschaden ist vom Grundsatz her zwischen der haftungsbegründenden (zwischen Impfung und Primärschädigung) und der haftungsausfüllenden (zwischen Primärschädigung und Folgeschaden) zu unterscheiden. Das ergibt sich aus der Struktur von § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG (vgl. dazu BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R, Rn. 36). Erste Voraussetzung ist danach die Durchführung einer speziellen Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe. Der Betroffene muss zweitens eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben (auch wenn diese vielleicht nicht eindeutig zu identifizieren und zeitlich zu fixieren sein mag); dabei muss es im haftungsbegründenden Tatbestand unabdingbar zu einer gesundheitlichen Schädigung (= Primärschädigung) gekommen sein, rein wirtschaftliche Nachteile genügen insoweit nicht. Zum haftungsbegründenden Tatbestand gehört auch, dass die Primärschädigung im Sinn von § 2 Nr. 11 IfSG über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgeht. Drittens ist zur Haftungsbegründung notwendig, dass die gesundheitliche Schädigung durch die Schutzimpfung verursacht ist (so genannte haftungsbegründende Kausalität, vgl. zum Begriff BSG SozR 3-3200 § 81 Nr. 16, S. 74 f. m.w.N.). Der Impfschaden im Sinn von § 2 Nr. 11 IfSG bildet das letzte Glied der Prüfungskette, nämlich die verbliebene Minderung an relevanten Rechtsgütern (im gesundheitlichen und wirtschaftlichen Bereich); unter dem Reglement des BSeuchG war unter Impfschaden dagegen die Primärschädigung zu verstehen (vgl. BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R, Rn. 36). Aus der Passage in § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG "wegen des Impfschadens" ergibt sich, dass zwischen der Primärschädigung und dem Impfschaden ebenfalls ein kausaler Zusammenhang bestehen muss (so genannte haftungsausfüllende Kausalität).

Wie auch sonst im Versorgungsrecht gilt für beide Kausalverläufe die Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. dazu BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R, Rn. 37). Im Rahmen der Kausalität ist eine Ursache dann rechtlich wesentlich, wenn sie wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie nach der versorgungsrechtlichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 08.08.1974 - 10 RV 209/73) rechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs "annähernd gleichwertig" sind. Was unter "annähende Gleichwertigkeit" zu verstehen ist, ist in der angeführten Entscheidung und auch in anderen neueren Entscheidungen nicht näher präzisiert. Die ständige unfallversicherungsrechtliche Rechtsprechung (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R) hält demgegenüber den Begriff der "annähernden Gleichwertigkeit" für nicht geeignet zur Abgrenzung, da er einen objektiven Maßstab vermissen lasse und missverständlich sei, und sieht eine versicherte Ursache dann als rechtlich wesentlich an, wenn nicht eine alternative unversicherte Ursache von "überragender Bedeutung" ist. Letzteres entspricht im Ergebnis auch der versorgungsrechtlichen Rechtsprechung des BSG, das, wie z.B. dem Urteil vom 14.07.1955 - 8 RV 177/54 zu entnehmen ist, von einer "annähernd gleichwertigen" Bedeutung einer von mehreren Ursachen solange ausgeht, als nicht einer Ursache eine "überragende Bedeutung" zukommt. Eine Abweichung von unfallversicherungsrechtlicher und versorgungsrechtlicher Rechtsprechung zum Kausalitätsbegriff, wie sie sich aufgrund der Differenzen zum Begriff der "annähernden Gleichwertigkeit" aufdrängen könnte, besteht somit nicht (vgl. Senatsurteile vom 19.07.2011 - L 15 VS 7/10 und L 15 VG 20/10). Der Senat geht daher in Übereinstimmung mit der versorgungs- und unfallversicherungsrechtlichen Rechtsprechung davon aus, dass eine vom Schutzbereich des IfSG umfasste Ursache immer dann rechtlich wesentlich ist, wenn nicht die andere(n), nicht dem Schutzbereich des IfSG unterfallende(n) Ursache(n) eine überragende Bedeutung hat (haben).

Hinsichtlich des Beweismaßstabs genügt für die Kausalität insgesamt deren Wahrscheinlichkeit. Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spricht (vgl. BSGE 60, 58; BSG SozR 3850 § 51 Nr. 8, 10; § 52 Nr. 1; BSG, Urteil vom 27.08.1998 - B 9 VJ 2/97 R; BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R, Rn. 38). Auch nach Ablösung der entsprechenden Regelungen des BSeuchG durch §§ 60, 61 IfSG geht der Senat davon aus, dass für beide Komponenten der Kausalität der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit greift (vgl. LSG Bayern, Breithaupt 2012, S. 51 ). Nach der Rechtsprechung des BSG zum Entschädigungsanspruch nach dem BSeuchG musste sowohl die haftungsbegründende als auch die haftungsausfüllende Kausalität nur wahrscheinlich sein (vgl. BSG, Urteil vom 27. August 1998 - B 9 VJ 2/97 R); diese Rechtsprechung ließ sich zwanglos mit dem Wortlaut von § 52 Abs. 2 BSeuchG vereinbaren. § 61 Satz 1 IfSG unterscheidet sich jedoch von § 52 Abs. 2 BSeuchG erheblich. Nimmt man die Regelung wörtlich, scheint sie die bloße Wahrscheinlichkeit nur für die Kausalität zwischen gesundheitlicher Schädigung und dem Gesundheitsschaden genügen lassen zu wollen, während der ebenfalls notwendige Kausalzusammenhang zwischen Impfung und gesundheitlicher Schädigung außen vor bleibt. Zu Gunsten des Klägers nimmt der Senat an, dass sich entgegen dem Wortlaut von § 61 Satz 1 IfSG an der Rechtslage, die unter dem Reglement des BSeuchG durch das BSG geprägt worden ist, nichts ändern soll. Dafür spricht, dass nach der Begründung zum Gesetzentwurf (BTDrs 14/2530, S. 88) § 61 IfSG lediglich an die entsprechenden Vorschriften des BVG angepasst worden sei, um eine einheitliche Sprachregelung im Entschädigungsrecht zu erreichen, indem wie in den anderen Gesetzen der sozialen Entschädigung zwischen der (primären) gesundheitlichen Schädigung und dem verbleibenden Schaden (Gesundheitsschaden) unterschieden werde. Zudem könnte eine derartige Verschärfung der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen - zumindest in Fällen, in denen der Versorgungsantrag noch unter dem Reglement des BSeuchG gestellt worden ist - nach Ansicht des Senats erhebliche verfassungsrechtliche Probleme im Hinblick auf den Vertrauensschutz aufwerfen. An dieser Stelle soll nicht beleuchtet werden, ob ein unter dem BSeuchG entstandener Entschädigungsanspruch unter den Schutz von Art. 14 des Grundgesetzes fällt, oder ob sich ein möglicher Vertrauensschutz vorrangig aus dem Rechtsstaatsprinzip nach den Grundsätzen der unechten Rückwirkung ergibt. Denn mit der vom Senat gewählten Auslegung, dass auch die haftungsbegründende Kausalität von der Erleichterung im Beweismaßstab erfasst wird, wird von vornherein vermieden, dass es überhaupt zu einer Rechtsverschlechterung kommen kann. Nicht zuletzt hat das BSG jüngst die Beweiserleichterung des § 61 Satz 1 IfSG für beide Kausalstränge angewandt, allerdings ohne auf das Problem einzugehen (vgl. BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R, Rn. 38).

Aber auch diese Handhabung durch den Senat verhilft dem Kläger nicht zu dem begehrten Versorgungsanspruch. Ebenso wenig nützt ihm, dass der Senat nicht schon deswegen einen Anspruch auf Versorgung verneint, weil eine Primärschädigung als solche überhaupt nicht identifiziert werden kann. Zwar ist im IfSG, wie oben ausgeführt, eine dreistufige Prüfung (Impfung - Primärschädigung - verbliebener Schaden) angelegt. Es wäre allerdings realitätsfremd, in jedem impfschadensrechtlichen Fall zu verlangen, es müsse eine deutlich wahrnehmbare und fixierbare Primärschädigung festgestellt werden. Allgemein dient die Dreigliedrigkeit dazu, bestimmte Geschehnisabläufe bereits auf einer Vorstufe der Prüfung "auszusondern" und das Fehlen kausaler Zusammenhänge leichter erkennen zu können. Je mehr sich die Kausalitätsprüfung in gedankliche Zwischenschritte "zerlegen" lässt, desto objektivierbarer kann der Geschehnisablauf rechtlich aufgearbeitet werden (vgl. Kunze, Kausalität in der gesetzlichen Unfallversicherung, VSSR 2005, S. 299 ). Diese Differenzierung ist aber dann nicht möglich, wenn die Schädigung, also der (erste) Eingriff in das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, nicht deutlich zu Tage tritt, sondern wie hier im Verborgenen erfolgt (a.A. wohl Meßling in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 60 IfSG, Rn. 62). Zweifellos ist in solchen Fällen die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung schwieriger, weil sich der Verursachungspfad nicht klar abzeichnet. Dennoch darf nicht per se wegen der Nichterkennbarkeit einer Primärschädigung am Rechtsgut der körperlichen Gesundheit die Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs negiert werden. Vielmehr muss der Zusammenhang zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen "Etappe" beurteilt werden (vgl. LSG Bayern, Breithaupt 2012, S. 51 ).

Diese Beurteilung hat in einer Gesamtabwägung aller relevanten Umstände zu erfolgen (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977 - 10 RV 15/77). Die Gesamtabwägung vollzieht sich nicht ausschließlich auf der medizinischen Ebene, sondern ist - wie auch sonst Abwägungsvorgänge, z.B. im Recht der Fachplanung - erheblich rechtlich determiniert (vgl. LSG Bayern, Breithaupt 2012, S. 51 ). So müssen zunächst alle möglicherweise relevanten medizinischen Aspekte herausgearbeitet und gesammelt werden. Dabei handelt es sich einerseits um Tatsachen, die den konkreten Fall betreffen, so z.B. der beobachtete zeitliche Abstand zwischen Impfung und Auftreten relevanter Symptome oder eventuelle gesundheitliche Vorschädigungen. Andererseits spielen generelle Tatsachen eine eminent wichtige Rolle (vgl. zum Ganzen Lilienfeld in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 81 SVG, Rn. 135); dazu gehören beispielsweise die bisherigen Beobachtungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse in Bezug auf den Impfstoff. Auch die Gewichtung der einfließenden Aspekte bleibt nicht ausschließlich dem gut-achterlichen Ermessen überlassen. So muss die Aussagekraft der generellen Tatsachen nach deren Evidenz beurteilt werden. Zu diesem Zweck sind die Tatsachen gedanklich nach "Evidenzklassen" zu gliedern, in etwa vergleichbar dem Verfahren, das der Gemeinsame Bundesausschuss anwendet, wenn er die Zweckmäßigkeit einer medizinischen Methode beurteilt. Groß angelegte, nach wissenschaftlichen Grundätzen durchgeführte epidemiologische Studien haben grundsätzlich die größte Aussagekraft, jedenfalls soweit es darum geht, gerade das statistisch gesicherte Ergebnis der Studie zu verwerten.

Epidemiologische Studien, die unmittelbar die Wirkung des im vorliegenden Fall angeschuldigten Impfstoffs betreffen, existieren nicht. Somit muss das Ergebnis aus einer Zusammenschau aller relevanten Indizien gewonnen werden, wobei bei der Evaluierung der Indizientatsachen die Grundsätze der Schulmedizin anzuwenden sind. Sehr wichtige "Mosaiksteine" sind dabei die mehr oder weniger zeitnah zur Impfung beim Kläger beobachtete Symptomatik, das allgemein auftretende Bild eines Impfschadens mit einer Beteiligung eines peripheren Nerven, die Ätiologie des beim Kläger vorhandenen Krankheitsbilds, die Pathogenese in Bezug auf mögliche Alternativursachen.

Anhand dieses Maßstabs ist der Sachverständige Dr. B. zum nach Ansicht des Senats richtigen Ergebnis gekommen, eine impfbedingte Verursachung der geltend gemachten Gesundheitsstörungen sei nicht wahrscheinlich. Der Senat macht sich die von Dr. B. getroffenen medizinischen Feststellungen vollständig zu Eigen.

Allgemein vermittelt das Gutachten des Dr. B. den Eindruck großer Sachkunde, Sorgfalt, Umsicht, Ergebnisoffenheit, abwägender Beurteilung und Objektivität. Nicht zuletzt wegen der zum Teil sehr differenziert gestellten Beweisfragen ist der Sachverständige keinem Problem aus dem Weg gegangen; alle möglicherweise in Betracht kommenden Faktoren werden in einen wissenschaftlichen Diskurs einbezogen. Auch der Kläger hat sich in der mündlichen Verhandlung über Dr. B. sehr positiv geäußert. Das F.-Institut ist im Bereich der muskulären Neurologie bundesweit renommiert. Die ohnehin schon starke Überzeugungskraft des Gutachtens des Dr. B. wird noch dadurch unterstrichen, dass es in wesentlichen Teilen mit dem des Dr. K. übereinstimmt. Dr. B. war sich über die juristischen Begriffe im Klaren. Der Senat hat diese in den Beweisfragen so weit erläutert, dass sich für einen Mediziner handhabbare Prüfungskriterien ergeben haben.

Auch das Gutachten des Dr. K. überzeugt durch seine wissenschaftliche Methodik. Zwar hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung kritisiert, Dr. K. habe ihm zu erkennen gegeben, er müsse sich erst in die Problematik einlesen. Der Senat hat durchaus Verständnis dafür, dass der Kläger bei dieser Aussage des Sachverständigen Misstrauen geschöpft hat. Letztlich hat sich aber gezeigt, dass dieser Argwohn unberechtigt war. Denn Dr. K. ist bei der Erstellung des Gutachtens genau so vorgegangen, wie es methodisch geboten war: Er hat sich anhand der wissenschaftlichen Literatur darüber informiert, welche allgemeinen Erkenntnisse zur MM-Impfung vorliegen. Diese allgemeinen Anknüpfungstatsachen hat er sodann in einen Kontext mit den konkreten den Kläger betreffenden Tatsachen gestellt und auf dieser Basis eine dialektische Gesamtabwägung vorgenommen. Das Gutachten des Dr. K. beeindruckt ebenso wie das des Dr. B. durch Sorgfalt, Vollständigkeit, Ergebnisoffenheit und Objektivität. Dass Dr. K. in einigen Punkten (z.B. mögliche Borreliose) zu anderen Ergebnissen als Dr. B. gekommen ist, ist nicht geeignet, die grundsätzliche Werthaltigkeit und den Tiefgang seines Gutachtens in Frage zu stellen.

Auf der Grundlage dieser beiden überzeugenden Sachverständigenmeinungen beurteilt der Senat den medizinischen Sachverhalt folgendermaßen:
- Dr. B. hat die bis dahin ohnehin einhellige Meinung der beteiligten Gutachter (Herr H., Frau M., Dr. K.) bestätigt, dass der Nervus femoralis nicht mechanisch durch den Injektionsvorgang verletzt worden ist. Nicht einmal Dr. H. hat sich auf dieses Erklärungsmodell gestützt. In Anbetracht der von den Medizinern unisono vertretenen und jeweils überzeugend begründeten Auffassung hegt auch der Senat keinerlei Zweifel, dass nicht der Stich als solcher das Leiden des Klägers hervorgerufen hat.
- Der Senat ist weiter davon überzeugt, dass generell als seltene Impfkomplikation durchaus eine Neuritis auftreten kann. Richtig ist sicher auch, dass eine solche Neuritis, die den Nervus femoralis betrifft, generell geeignet ist, eine Oberschenkelatrophie, wie man sie beim Kläger findet, nach sich zu ziehen. Für den Wahrscheinlichkeitsnachweis reicht diese bloße Möglichkeit aber bei weitem nicht. Das gilt umso mehr, als Dr. K. nachvollziehbar unter Hinweis auf eine medizinische Studie dargelegt hat, dass eine Mononeuritis nach MM-Impfungen nur extrem selten beobachtet worden ist. Der Umstand, dass, wie die ehemalige Prozessbevollmächtigte des Klägers in der Berufungsschrift ausgeführt hat, nach den Angaben des Impfstoffherstellers und der STIKO eine Neuritis als Impfkomplikation auftreten kann, verkörpert zwar einen Parameter, der zwingend in der Gesamtabwägung zu berücksichtigen ist. Jedoch bedarf es weiterer Indizien, wonach eine derartige sehr seltene Erscheinung tatsächlich auch konkret vorgelegen haben kann. Solche konkreten Anhaltspunkte sieht der Senat in Übereinstimmung mit den beiden von Amts wegen bestellten Sachverständigen nicht. Methodisch einwandfrei und bestens nachvollziehbar hat Dr. B. die medizinischen Eckpunkte für seinen entscheidenden Schluss, dass nämlich keine impfbedingte oder auch nur impfgetriggerte Neuritis vorliegt, herausgearbeitet: Die Oberschenkelatrophie hat sich langsam und ohne Schmerzen entwickelt; es lagen und liegen keine Sensibilitätsstörungen vor; Entzündungszeichen (z.B. Nervenwasserveränderungen) waren nicht vorhanden; der zeitliche Zusammenhang zwischen Impfung und Leidensentstehung war nicht hinreichend eng. Hinsichtlich des Aspekts des zeitlichen Zusammenhangs muss hervorgehoben werden, dass Dr. B. die für den Klägers günstigste Version einer Leidensentdeckung schon im Frühjahr 1983 unterstellt hat, obwohl er angesichts der völlig widersprüchlichen Aussagen insoweit - übrigens ebenso wie der Senat - erhebliche Bedenken hegt. Dass man es möglicherweise trotz der "stillen" Symptomatik, die beim Kläger aufgetreten war, nicht völlig ausschließen kann, dass die Impfung eine Neuritis verursacht hat, spielt im Rahmen der hier anzustellenden Wahrscheinlichkeitsbetrachtung keine Rolle; denn eine solche Erscheinung wäre derart ungewöhnlich, dass sie insoweit keine Relevanz erlangt. Im Besonderen hat Dr. B. - wie schon Dr. K. vorher in seiner ergänzenden Stellungnahme - die Hypothese des Dr. H., der Kläger habe eine MMN erlitten, restlos überzeugend widerlegt; ganz wesentlich ist insoweit, dass beim Kläger keine Schädigung der Myelinscheide, sondern des Axons gegeben ist.
- Der Senat geht mit Dr. B. davon aus, dass es eine Erklärung für die Schädigung des Nervus femoralis gibt, die wahrscheinlicher ist als die These der impfvermittelten Gesundheitsstörung. Beim Kläger sind mittels Computertomografie Substanzminderungen im Kleinhirn nachgewiesen. Weil auch der Unterschenkel, wenn auch nur eingeschränkt, das Krankheitsbild aufweist und auch die rechte Beckenseite dysplastisch verändert ist, erscheint eine kindliche Entwicklungsstörung nicht unwahrscheinlich. Immerhin hat schon der behandelnde Arzt Dr. M. eine geburtstraumatische Schädigung in Betracht gezogen. Gleichwohl bleibt das Dilemma, dass die Ursache für das Leiden des Klägers letztlich nicht sicher identifiziert werden kann. Diese fortbestehende Ungewissheit bringt den Kläger in Bezug auf sein Versorgungsbegehren aber nicht voran. Denn die Wahrscheinlichkeit der wesentlichen Verursachung durch die Impfung ist nicht schon dann belegt, wenn andere mögliche Verursachungsfaktoren nicht mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen werden. Vielmehr bedarf es positiv des Nachweises, dass gerade die Impfung wahrscheinlich die Ursache ist. Lässt sich für keinen der in Betracht zu ziehenden Kausalfaktoren die Wahrscheinlichkeit bejahen, besteht kein Versorgungsanspruch (vgl. Lilienfeld, a.a.O., § 81 SVG, Rn. 136; vgl. auch Senatsurteil vom 20.03.2012 - L 15 VJ 11/09).

Sowohl Dr. K. als auch Dr. B. haben konzediert, dass die wesentliche Verursachung der Schädigung durch die Impfung nicht zur Gänze auszuschließen ist; der Senat sieht das nicht anders. Das hilft dem Kläger indes nicht weiter. Denn eine Versorgung steht erst dann zu, wenn mehr für als gegen einen Impfschaden spricht. Die in Impfschadensstreitigkeiten von Klägerseite häufig gehörte Präsentation von erdachten Kausalzusammenhängen, die mit "Man kann aber doch nicht ausschließen, dass, ..." eingeleitet wird, verkennt regelmäßig die rechtlich vorgegebenen Beweismaßstäbe. Auch der Sachverständige Dr. H. ist insoweit einem Irrtum unterlegen. Denn er hat sich darauf beschränkt, ein von ihm entwickeltes Konstrukt anzubieten, das vielleicht auch - insbesondere für medizinische Laien - plausibel klingen mag, für das aber nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft oder nach den Verhältnissen des konkreten Falls nur wenig oder keine Belege existieren. Im Gegenteil: Dr. B. und Dr. K. haben zur Überzeugung des Senats nachgewiesen, dass die von Dr. H. angenommene MMN nicht bestanden hat. Bereits damit fällt das Gutachten des Dr. H. in sich zusammen. Andere Neuritiden als eine MMN hat Dr. H. nicht in Betracht gezogen; sein Gutachtensergebnis "steht und fällt" mit der Diagnose MMN, offenbar weil bei dieser Krankheit auch blande Verläufe vorkommen. Generell aber folgt der Senat Dr. B., wonach bei Neuritiden in der Regel deutlich wahrnehmbare Symptome auftreten. Ein blander oder "stiller" Verlauf wäre ein seltener und extraordinärer Geschehnisablauf, dessen bloße Möglichkeit keine Wahrscheinlichkeit für die wesentliche Verursachung zu begründen geeignet ist.

2. Kann-Versorgung

Auch auf der Basis von § 61 Satz 2 IfSG vermag der Kläger mit seinem Begehren nicht durchzudringen. Eine Versorgung kann danach auch gewährt werden, wenn die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung nur deswegen scheitert, weil in der medizinischen Wissenschaft über die Leidensursache allgemein Unkenntnis herrscht. Dabei ist eine abstrakte theoretische Unsicherheit Voraussetzung, nicht eine bloß konkrete im Einzelfall (vgl. BSG SozR 3-3200 § 81 Nr. 13, S. 57). § 61 Satz 2 IfSG ist dahin zu interpretieren, dass mit Ausnahme des Wahrscheinlichkeitsnachweises alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sein müssen und zugleich keine Aspekte erkennbar sein dürfen, welche die Wahrscheinlichkeit der Verursachung unabhängig von der Ätiologie und der Pathogenese der betreffenden Krankheit ausschließen. Im vorliegenden Fall hat man es, wie Dr. B. überzeugend ausgeführt hat, gerade nicht mit einer Unsicherheit auf der abstrakten, theoretischen Ebene zu tun. Dazu passend hat Dr. K. - bestätigt von Dr. B. - wohlbegründet dargestellt, dass die möglichen Ursachen für die Neuritis bzw. Neuropathie, die letztlich zu der Oberschenkelatrophie geführt habe, zahlreich sind; insoweit kommen infektiöse, toxische, degenerative, traumatische, ischämische, neuroallergische, dystrophische oder idiopathische Kausalfaktoren in Betracht. Diese Feststellung des Dr. K. übernimmt der Senat. Letztlich führt die große Bandbreite möglicher Ursachen im hier gegebenen Fall dazu, dass der Wunsch des Klägers, über das sozialgerichtliche Verfahren die Ursache seines Leidens herauszufinden, unerfüllt bleiben muss, weil sich die bei ihm vorliegenden Befunde nicht eindeutig einer abstrakt möglichen Ursache zuordnen lassen. Die medizinische Aufklärung wird hier nicht wegen Lücken im allgemeinen medizinischen Wissensspektrum, sondern wegen der besonderen Umstände des konkreten Einzelfalls vereitelt. Damit ähnelt der vorliegende Sachverhalt frappierend dem, welcher der oben zitierten Entscheidung BSG SozR 3-3200 § 81 Nr. 13 zugrunde lag; dort nämlich hat das BSG festgestellt (S. 57):
"Die Ungewissheit beruht darauf, dass im konkreten Fall trotz aller diagnostischen Bemühungen keine weitere Klarheit über die Art der Krankheit zu gewinnen ist, so dass es für einen wissenschaftlichen Meinungsstreit über ihre Ursachen an jeglicher Grundlage fehlt; es kommen alle denkbaren Ursachen in Betracht."
Bei dieser Parallelität des Sachverhalts drängt sich die parallele rechtliche Beurteilung geradezu auf.

Darüber hinaus würde es an der auch im Rahmen der Kann-Versorgung existierenden Kausalitätsvoraussetzung fehlen. Der Senat schließt sich Dr. B. darin an, dass eine "gute Möglichkeit" der Verursachung nicht besteht (vgl. BSG SozR 3-3200 § 81 Nr. 13, S. 57). Die bloße Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs reicht im Rahmen der Kann-Versorgung nicht. Die an dieser Stelle vom Senat anzustellenden hilfsweisen Erwägungen - hilfsweise deshalb, weil es wie gezeigt bereits an der Grundvoraussetzung für die Kann-Versorgung fehlt - stoßen an Grenzen. Denn das Kriterium der "guten Möglichkeit" passt dem Wesen nach zwangsläufig eher zu den Konstellationen, bei denen relevante Wissenslücken auf genereller Ebene vorliegen, nicht aber zu den hier gegebenen konkreten Feststellungshindernissen. Versucht man gleichwohl, es auf die hier relevante konkrete Ebene zu transponieren, kann man es nicht als ausreichend betrachten, wenn nur die wesentliche Verursachung durch die Impfung nicht ausgeschlossen werden kann. Gerade das ist hier aber nach den Feststellungen von Dr. B. und Dr. K. der Fall. Das Gutachten des Dr. H. stellt keine in diesem Zusammenhang bedeutsame Gegenmeinung dar, weil, wie oben ausgeführt, bereits seine diagnostische Grundprämisse falsch ist und es sich im Bereich der Spekulation bewegt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wurde nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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