L 15 SF 43/12 B

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
15
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 4 SF 48/09 E
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 SF 43/12 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Kostenbeschluss
Leitsätze
1. Der verringerte Gebührenrahmen nach Nr. 3103 VV RVG kann auch in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zur Anwendung gelangen, auch wenn Eilverfahren rechtlich kein Widerspruchsverfahren voraussetzen.
2. Bei der Verfahrensgebühr kann Nr. 3103 VV RVG nur dann anstatt Nr. 3102 VV RVG Anwendung finden, wenn eine Tätigkeit im Widerspruchsverfahren tatsächlich vorausgegangen ist.
3. Es ist nicht möglich, für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes 70 v.H. der Mittelgebühr als fixen Orientierungspunkt für den durchschnittlichen Eilfall heranzuziehen.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Landshut vom 26. Januar 2012 wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Das Beschwerdeverfahren betrifft die aus der Staatskasse zu zahlende Vergütung nach §§ 45 ff. RVG.

Die Beschwerdegegnerin vertrat die damaligen Antragsteller - es handelte sich um eine zweiköpfige Bedarfsgemeinschaft - in einem grundsicherungsrechtlichen Eilverfahren vor dem Sozialgericht Landshut (Aktenzeichen S 13 AS 718/08 ER). Sie wurde den damaligen Antragstellern im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet.

Gegenstand des Eilrechtsschutzes war die vorläufige Gewährung von Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld. Umstritten war, ob bei den damaligen Antragstellern die Leistungsvoraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland erfüllt war. Nachdem die Grundsicherungsbehörde Leistungen abgelehnt hatte (Bescheid vom 23.10.2008), legte die Beschwerdegegnerin für die damaligen Antragsteller am 13.11.2008 Widerspruch ein und stellte zeitgleich den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Letzteren hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 02.03.2009 abgelehnt.

Nach Beendigung des Eilverfahrens veranschlagte die Beschwerdegegnerin in ihrem auf den 10.03.2009 datierten Kostenerstattungsantrag eine Verfahrensgebühr in Höhe von 325 EUR (Nr. 3102 VV RVG, einschließlich Erhöhung nach Nr. 1008 VV RVG), was der Mittelgebühr entsprach. Unter dem Datum 03.06.2009 setzte die Urkundsbeamtin beim Sozialgericht Landshut eine Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 VV RVG (einschließlich Erhöhung nach Nr. 1008 VV RVG) von 221 EUR fest.

Auf die Erinnerung der Beschwerdegegnerin hat der Kostenrichter beim Sozialgericht die Verfahrensgebühr (einschließlich Erhöhung nach Nr. 1008 VV RVG) mit Beschluss vom 26.01.2012 auf die von der Beschwerdegegnerin beantragten 325 EUR taxiert und einen entsprechend höheren Gesamtvergütungsbetrag errechnet. Anders als die Urkundsbeamtin hat der Kostenrichter den höheren Betragsrahmen nach Nr. 3102 VV RVG für einschlägig erachtet. Der Fall sei, so der Kostenrichter sinngemäß, von durchschnittlicher Wertigkeit, so dass die Mittelgebühr angemessen sei.

Am 02.02.2012 hat der Bezirksrevisor für die Staatskasse Beschwerde eingelegt, mit der er die Honorarfestsetzung wie von der Urkundsbeamtin vorgenommen beantragt. In der Tat, so der Bezirksrevisor zur Begründung, sei Nr. 3103 VV RVG einschlägig. Darüber hinaus vertritt er die Ansicht, für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sei für den Durchschnittsfall generell nicht die Mittelgebühr, sondern eine "Drittelgebühr" heranzuziehen.

Der Senat hat die Akte des Sozialgerichts S 13 AS 718/08 ER beigezogen.

II.

Zuständig für die Entscheidung über die Beschwerde ist zwar prinzipiell der Einzelrichter (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 8 Satz 1 RVG). Jedoch entscheidet wegen grundsätzlicher Bedeutung der Angelegenheit gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG der Senat als Gesamtspruchkörper; die grundsätzliche Bedeutung resultiert aus der hier vorzunehmenden Auslegung von Nr. 3103 VV RVG. Ehrenamtliche Richter wirken nicht mit (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 33 Abs. 8 Satz 3 RVG).

Die Beschwerde der Staatskasse ist zulässig. Sie ist statthaft, da das Sozialgericht sie im angefochtenen Beschluss zugelassen hat. Die Beschwerde ist auch fristgerecht eingelegt worden.

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet.

Der Streitgegenstand im Beschwerdeverfahren umfasst die Höhe der Verfahrensgebühr, soweit diese den Betrag übersteigt, den die Urkundsbeamtin bestimmt hat. Soweit der Bezirksrevisor eine Begründung nachgeschoben hat, bei deren unterstellter Richtigkeit man möglicherweise zu einem noch niedrigeren Betrag käme, bewirkt dies keine Modifikation des Beschwerdegegenstands.

Der Kostenrichter hat die Verfahrensgebühr in zutreffender Höhe festgesetzt.

Auch der Senat geht davon aus, dass der Gebührentatbestand Nr. 3102 VV RVG einschlägig ist. Jedoch teilt er nicht die Ansicht des Kostenrichters, bei Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes dürfe Nr. 3103 VV RVG generell nicht zur Anwendung kommen, weil diese Eilverfahren rechtlich kein Widerspruchsverfahren voraussetzten. Der Wortlaut von Nr. 3103 VV RVG verlangt diese Interpretation zwar keineswegs, lässt sie aber zu. Die Auffassung des Kostenrichters verkennt allerdings, dass das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes akzessorisch zu einem Hauptsacheverfahren ist. Dass es in der Praxis - gerade im Bereich des SGB II - zahlreiche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes geben mag, bei denen es niemals zu einer korrespondierenden Hauptsacheklage kommt, ändert daran nichts. Rechtlich jedenfalls wird einstweiliger Rechtsschutz nur in Verbindung mit einer (wenn auch eventuell noch nicht anhängigen) Hauptsachestreitigkeit gewährt. Zudem wird die Ansicht des Sozialgerichts dem gesetzgeberischen Motiv für den niedrigeren Gebührenrahmen nach Nr. 3103 VV RVG nicht gerecht. Dieser Gebührentatbestand will vor allem Synergieeffekten Rechnung tragen, die aufgrund der Vorbefassung entstehen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 06.12.2012 - L 15 SF 10/12 B und vom 08.04.2013 - L 15 SF 338/11 B). Von einer entsprechenden Vorarbeit kann der Rechtsanwalt im einstweiligen Rechtsschutz gleichfalls profitieren.

Dennoch ist hier Nr. 3102 VV RVG einschlägig. Denn Nr. 3103 VV RVG kann nur dann anstatt Nr. 3102 VV RVG Anwendung finden, wenn eine Tätigkeit im Widerspruchsverfahren vorausgegangen ist (vgl. dazu eingehend Senatsbeschluss vom 08.04.2013 - L 15 SF 338/11 B). An einem Vorausgehen in diesem Sinn fehlt es aber, wenn wie hier das Widerspruchsverfahren erst zeitgleich mit dem gerichtlichen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eröffnet worden ist. Auf vergleichbaren Erwägungen beruht der Senatsbeschluss vom 18.01.2007 - L 15 B 224/06 AS KO, auf den sich der Bezirksrevisor beruft.

Innerhalb des einschlägigen Betragsrahmens (40 bis 460 EUR, nach Anwendung von Nr. 1008 VV RVG 52 bis 598 EUR) hat die Beschwerdegegnerin die Gebühr in einer für die Staatskasse verbindlichen Höhe taxiert. Zwar spricht viel dafür, dass der Fall in Bezug auf seine vergütungsrechtliche Wertigkeit unterhalb der "Mitte" anzusiedeln ist (vgl. zur Einordnung des durchschnittlichen SGB II-Falls Senatsbeschlüsse vom 02.04.2013 - L 15 SF 213/12 B, vom 08.04.2013 - L 15 SF 338/11 B und vom 08.04.2013 - L 15 SF 19/12). Jedoch bewegt sich die von der Beschwerdegegnerin vorgenommene Bestimmung der Verfahrensgebühr noch innerhalb der 20-prozentigen Toleranzgrenze (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 21.03.2011 - L 15 SF 204/09 B E m.w.N.), so dass sie billigem Ermessen entspricht.

Dem Anliegen der Staatskasse, für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes 70 v.H. der Mittelgebühr als fixen Orientierungspunkt, der den durchschnittlichen Eilfall abbildet, vorzugeben, vermag der Senat nicht zu entsprechen. Zwar mag es sein, dass die vergütungsrechtliche Wertigkeit des einstweiligen Rechtsschutzes häufig hinter der Hauptsache zurückbleibt. In diesem Zusammenhang muss berücksichtigt werden, dass der hier einschlägige Gebührentatbestand Nr. 3102 VV RVG nicht spezifisch auf Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zugeschnitten ist. Das bedeutet, dass die Einstufung, ob Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit durchschnittlich, unterdurchschnittlich oder überdurchschnittlich gewesen sind, nicht anhand eines Vergleichs nur mit Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, sondern auch unter Einbeziehung von Hauptsacheverfahren zu erfolgen hat (vgl. Senatsbeschluss vom 08.04.2013 - L 15 SF 338/11 B). Jedoch weist der einstweilige Rechtsschutz Charakteristika auf, die es verbieten, ihn ausschließlich als Minus zum Hauptsachestreit zu begreifen, und die möglicherweise gebührenerhöhend wirken können: So muss seitens der Antragsteller auch der Anordnungsgrund glaubhaft gemacht werden, also, aus welchem Grund ein Zuwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht zumutbar ist. Zudem stellt sich das Problem der Vorwegnahme der Hauptsache, was stets begründungsbedürftig ist; auch die Beschwerdegegnerin hat sich in der Antragsschrift damit auseinandergesetzt. Des weiteren stehen die Anwälte häufig unter besonderem Zeitdruck. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht angebracht, für den einstweiligen Rechtsschutz eine eigenständige, fixe Orientierungsmarke zu setzen. Die Urkundsbeamten und Kostenrichter werden weiterhin die Mittelgebühr als Referenzwert heranzuziehen haben.

Das Verfahren ist gebührenfrei, Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Sätze 2 und 3 RVG).

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).
Rechtskraft
Aus
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