L 2 U 496/11

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 7 U 59/10
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 496/11
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Unterlassung der gefährdenden Tätigkeiten ist Tatbestandsmerkmal der Berufskrankheit Nr. 5101 der Anlage zu § 1 Berufskrankheiten Verordnung.
2. Anspruch auf eine Feststellung nach § 9 Abs. 4 SGB IV, dass die übrigen Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit erfüllt sind, besteht nur, solange die gefährdende Tätigkeit noch nicht aufgegeben worden ist.
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 22. Juli 2011 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Der Rechtsstreit aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach dem Siebten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) betrifft das Vorliegen der Berufskrankheit (BK) Nr. 5101 der Anlage zu § 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV). Streitig ist im Berufungsverfahren zwischen den Parteien nur noch der Zeitpunkt, ab dem die Berufskrankheit festzustellen ist.

Am 03.08.2006 erlangte die Beklagte durch einen Bericht des Dermatologen Dr. L. vom 01.08.2006 Kenntnis von einer Hauterkrankung der Klägerin, die Dr. L. auf ihre 11-jährige berufliche Tätigkeit im Formkabelbau und den Kontakt zu Kabelgummierung und Plastikmaterial zurückführte. In der Folgezeit wurden verschiedene Versuche unternommen, die Probleme der Klägerin in den Griff zu bekommen, insbesondere durch einen stationären Aufenthalt in der Berufsgenossenschaftlichen Klinik für Berufskrankheiten F./V. vom 24.11.2008 bis zum 15.12.2008 (Entlassungsbericht der Klinik vom 15.12.2008). Die Beklagte holte das Gutachten der ärztlichen Direktorin der eben genannten Klinik, Dr. K., vom 20.12.2008 ein, in dem diese feststellte, dass ein durch berufliche irritative Einflüsse provoziertes atopisches Handekzem vorliege. Allerdings bestehe derzeit noch kein objektiver Zwang zur Unterlassung der beruflichen Tätigkeit, weil die intensive Therapie zu einer deutlichen Besserung der Beschwerden geführt habe.

Mit Bescheid vom 11.08.2009 stellte die Beklagte fest, dass die Hauterkrankung der Klägerin durch ihre berufliche Tätigkeit im Formkabelbau bei der I. GmbH, R., verursacht worden sei und zu folgende gesundheitlichen Beeinträchtigungen geführt habe:
irritativ provoziertes atopisches Ekzem sowie subtoxisch-kumulatives Handekzem beidseits.
Folgende Beeinträchtigungen des Gesundheitszustandes der Klägerin lägen dagegen unabhängig von der beruflichen Tätigkeit vor:
Typ-IV-Sensibilisierung auf Formaldehyd, Abietinsäure, Bismark Brown R, Dispersionsrot 17, Lyral, Nickel und Palladiumchlorid, atopische Diathese, saisonale und periniale allergische Rhinokonjunktivitis bei Typ I-Sensibilisierung gegenüber multiplen inhalativen und nutritiven Allergenen, Latexsensibilisierung (Rast-Klasse 2) sowie orales Allergiesyndrom auf Äpfel, Haselnuss und Karotte.
Die beruflich verursachte Hauterkrankung stelle aber noch keine BK Nr. 5101 dar, weil die Hauterkrankung die Klägerin derzeit noch nicht zwinge, die bisher ausgeübte Tätigkeit zu unterlassen. Die Klägerin habe Anspruch auf Leistungen oder Maßnahmen, die dem Entstehen einer BK entgegenwirkten.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 20.08.2009 Widerspruch mit der Begründung ein, dass der Zwang zur Aufgabe der beruflichen Tätigkeit sehr wohl vorliege. Eine Stabilisierung sei immer nur dann eingetreten, wenn die Klägerin krankheitsbedingt der Exposition nicht mehr ausgesetzt gewesen sei. Das Medikament Toctino werde von der Klägerin wegen der damit verbundenen Nebenwirkungen auf innere Organe abgelehnt.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29.01.2010 als unbegründet zurück. Der objektive Zwang zur Aufgabe der beruflichen Tätigkeit sei weiterhin gegeben, zumal nicht alle vorbeugenden Maßnahmen am Arbeitsplatz ausgeschöpft seien. Hierzu zähle die empfohlene stationäre Heilmaßnahme, die die Klägerin im eigenen Interesse durchführen solle. Die Kosten hierfür würden von der Beklagten übernommen.

Dagegen hat die Klägerin am 01.03.2010 beim Sozialgericht (SG) Regensburg Klage erhoben und beantragt, in Abänderung des Bescheides vom 11.08.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2010 die Beklagte zu verurteilen, die Hautkrankheit der Klägerin als BK anzuerkennen und der Klägerin die ihr zustehenden finanziellen Leistungen zu gewähren.

Zum 18.06.2010 hat die Klägerin ihre bisherige berufliche Tätigkeit endgültig aufgegeben.

Der vom SG zum Sachverständigen ernannte Hautarzt und Dermatologe Dr. M. B., S., hat in seinem Gutachten vom 14.02.2011 festgestellt, dass es seit der Beendigung der beruflichen Tätigkeit zu einer deutlichen Verbesserung des Handekzemleidens gekommen, der aktuelle Hautbefund werde subjektiv von der Klägerin sogar als sehr gut beurteilt. Es sei sicher richtig, dass ein Teil des Ekzemleidens auf die atopische Haut-Diathese (also die anlagebedingte Haut-Überempfindlichkeit) zurückzuführen sei, dass aber gleichzeitig auch ein wesentlicher Teil des Hautleidens durch die beruflichen Hautbelastungen geprägt worden sei. Da alle therapeutischen Möglichkeiten vollständig ausgeschöpft wurden, ohne dass dadurch eine durchgreifende Besserung des Ekzemleidens erreicht werden konnte, gehe er vom objektiven Berufsaufgabezwang aus. Die verbleibende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätze er auf 10 v. H. ein.

Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 22.07.2011 (Az. S 7 U 59/10) unter Abänderung des Bescheides vom 11.08.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2010 festgestellt, dass bei der Klägerin ab dem 18.06.2010 eine BK nach der Nr. 5101 der BKV vorliege. Die Klage hat das SG als Anfechtungs- und Feststellungsklage, gerichtet auf die Anerkennung der Hauterkrankung als BK, ausgelegt. Das Begehren der Klägerin, "die ihr zustehenden finanziellen Leistungen zu gewähren", habe in dieser Situation keine eigenständige Bedeutung. Eine mit einem solchen Antrag erhobene Leistungsklage, die die begehrten Leistungen nicht weiter konkretisieren würde, wäre unzulässig. Bei der Feststellung des Vorliegens einer BK 5101 hat sich das SG dem Gutachten des Sachverständigen Dr. B. angeschlossen. In zeitlicher Hinsicht sei der Versicherungsfall auf den 18.06.2010 festzusetzen, d. h. den Tag nach der letztmaligen Ausübung der versicherten Tätigkeit.

Mit Bescheid vom 21.11.2011 erkannte die Beklagte die vom Gerichtsbescheid ausgesprochenen Rechtsfolgen gegenüber der Klägerin an. Zugleich erkannte sie die Kosten der Heilbehandlung wegen der BK an, lehnte aber einen Anspruch auf Rente wegen der BK ab.

Die Klägerin hat gegen den Gerichtsbescheid, der ihr am 15.09.2011 zugestellt worden ist, am 17.10.2011 - einem Montag - beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt. Mit ihrer Berufung wendet sich die Klägerin gegen die Festlegung des Beginns des Versicherungsfalles auf den 18.06.2010. Darin liege ein Verstoß gegen § 9 Abs. 4 SGB VII. Spätestens seit dem 20.12.2008 liege der medizinisch begründete Unterlassungszwang vor. Hierzu zitiert die Klägerin eine Stelle aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. B. vom 14.02.2011 (S. 23 unten/ 24 oben), wonach die Berufsgenossenschaftliche Klinik F. im Rahmen ihrer Begutachtung vom 20.12.2008 eindeutig und nachvollziehbar ausgeführt habe, dass bei der Klägerin ein beruflich entstandenes und unterhaltenes schweres Handekzem vorliege. Nicht verständlich sei, warum mit späterer Stellungnahme der berufliche Anteil des Hautleidens als untergeordnet bezeichnet worden sei.

Die Klägerin beantragt,
in Abänderung des Gerichtsbescheides vom 22.07.2011 sowie des Ausgangsbescheides der Beklagten vom 11.08.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2010 festzustellen, dass bei der Klägerin eine BK nach Nr. 5101 BKV ab dem 20.12.2008 vorliegt.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte wendet gegen die Berufung ein, dass sie einen Bescheid im Sinne des § 9 Abs. 4 SGB VII in Form der angefochtenen Bescheide erlassen habe.

Dagegen wendet sich die Klägerin mit dem Argument, dass die angefochtenen Bescheide doch den Zwang zur Aufgabe der beruflichen Tätigkeit gerade verneint hätten. Die Beklagte habe die Klägerin also daran gehindert, die gesundheitsschädigende Tätigkeit aufzuheben. Die Klägerin sei deshalb so zu stellen, wie sie stehen würde, wenn die Beklagte pflichtgemäß gehandelt hätte. Die Feststellung des Versicherungsfalls für die Zeit vor dem 18.06.2010 seit bedeutsam, weil ihr für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit in diesem Zeitraum Verletztengeld nachzuzahlen sei.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte des Beklagten verwiesen.



Entscheidungsgründe:


Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 105 Abs. 2 Satz 1, 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Berufung bedarf gemäß § 144 SGG keiner Zulassung.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Feststellung der BK Nr. 5101 auf die Zeit ab dem 18.06.2010 begrenzt, also auf die Zeit ab dem ersten Tag, ab dem die Klägerin ihre bisherige berufliche Tätigkeit endgültig aufgegeben hat. Soweit die Klägerin die Feststellung des Vorliegens der BK 5101 für die Zeit vor dem 18.06.2010 begehrt, ist die Klage als Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 und § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG zulässig, jedoch unbegründet. Gegenstand der Klage ist gemäß § 96 SGG auch der Anerkennungsbescheid vom 21.11.2011, soweit sich sein Inhalt mit dem des Gerichtsbescheides vom 22.07.2011 deckt, nicht aber hinsichtlich der Anerkennung von Kosten der Heilbehandlung und Ablehnung einer Verletztenrente, da es insoweit um Regelungen geht, die nicht Gegenstand der streitgegenständlichen Bescheide waren. Zu Recht hat die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden die Feststellung der Berufskrankheit für die Zeit vor dem 18.06.2010 abgelehnt. Die Feststellung der Nr. 5101 setzt nach der Anlage zu § 1 BKV voraus, dass die Tätigkeiten, die zu der Hauterkrankung geführt haben, tatsächlich aufgegeben worden sind. Dies war unstrittig erst am 18.06.2010 der Fall. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII i. V. m. Nr. 5101 der Anlage zu § 1 BKV sind Berufskrankheiten schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, sofern Versicherte diese infolge einer nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII versicherten Tätigkeit erleiden. Das auf der Ermächtigung in § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII fußende, noch in einer Reihe weiterer BK-Tatbestände gleichlautend verwandte Merkmal des Zwangs zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten setzt voraus, dass die Tätigkeit, die zu der Erkrankung geführt hat, aus arbeitsmedizinischen Gründen nicht mehr ausgeübt werden soll und dass der Versicherte die schädigende Tätigkeit und solche Tätigkeiten, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich sein können, tatsächlich aufgegeben hat und unterlässt bzw. nicht (wieder) aufnimmt. Die Entschädigungspflicht tritt bei einer BK mit Unterlassungszwang nicht schon mit dem Auftreten der beruflich verursachten Erkrankung, sondern erst dann ein, wenn alle Tatbestandsmerkmale der BK, also auch die Aufgabe der belastenden Tätigkeit, erfüllt sind (BSGE 10, 286; BSG, Urteil vom 30.10.2007, Az. B 2 U 12/06 R, Rdnr. 15). Allein mit der Begründung, der Aufgabezwang hätte objektiv schon früher vorgelegen, kann eine Rückverlegung des Versicherungsfalls für die Zeit vor der tatsächlichen Aufgabe nicht verlangt werden.

Zu Unrecht beruft sich die Klägerin bezüglich ihres Begehrens, die Feststellung der BK 5101 für die Zeit vor der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit zu erreichen, auf § 9 Abs. 4 SGB VII. Nach dieser Vorschrift haben die Unfallversicherungsträger vor der Unterlassung einer noch verrichteten gefährdenden Tätigkeit darüber zu entscheiden, ob die übrigen Voraussetzungen für die Anerkennnung einer BK erfüllt sind. § 9 Abs. 4 SGB VII sieht in der Zeit bis zur Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit gerade nicht die Feststellung einer BK vor, sondern nur die Feststellung des Vorliegens der übrigen Voraussetzungen und bestätigt damit indirekt, dass die Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit Tatbestandsmerkmal der Berufskrankheit ist. Was die Klägerin mit ihrer Berufung anstrebt, ist gerade nicht die von § 9 Abs. 4 SGB VII vorgesehene Rechtsfolge, sondern die Feststellung des Vorliegens einer BK in der Zeit vor der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit. Darüber hinaus gilt § 9 Abs. 4 SGB VII nach seinem ausdrücklichen Wortlaut nur für die Zeit vor Unterlassung einer noch verrichteten gefährdenden Tätigkeit. Ab dem Zeitpunkt der Unterlassung fehlt es für die darin vorgesehe Entscheidung an jeglichem Feststellungsinteresse. Die Vorschrift hat den Zweck, den Versicherten vor der Entscheidung, ob sie den Beruf aufgeben sollen, Gewissheit über die Frage einer zu erwartenden Entschädigung zu geben (Ricke, aaO. § 9 SGB VII Rdnr. 30). Dafür besteht kein Bedürfnis, sobald die Entscheidung getroffen und der Beruf aufgegeben worden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Entscheidung des SG, dass die Beklagte der Klägerin die Hälfte ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten hat, bleibt aufrecht erhalten. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten, weil das Rechtsmittel in vollem Umfang ohne Erfolg bleibt.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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