L 2 P 10/13 NZB

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 13 P 52/12 KO
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 10/13 NZB
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die Frage der rechtlichen Bewertung eines Widerspruchs gegen einen nicht bekannt gegebenen Verwaltungsakt ist geklärt, so dass ein Rechtsstreit insoweit keine grundsätzliche Bedeutung hat.
I. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 27. Dezember 2012 (Az.: S 13 P 52/12 KO) wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.



Gründe:


I.

Streitig ist die Erstattung der notwendigen Aufwendungen des Klägers und Beschwerdeführers im Widerspruchsverfahren durch die Beklagte gemäß § 63 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X).

Mit Bescheid vom 27. April 2011 lehnte die Beklagte und Beschwerdegegnerin einen Antrag des Klägers auf ambulante Leistungen der Pflegeversicherung ab. Mit Schreiben vom 14. Juni 2011 widersprach der Bevollmächtige des Klägers für diesen "der Beurteilung der erforderlichen pflegerischen Versorgung und Betreuung entsprechend Ihrem Schreiben vom 26.04.11 und dem Gutachten vom 26.04.11". Der Pflegebedarf sei nur unzutreffend und mangelhaft aufgelistet. Auf den Hinweis der Beklagten, wonach der "Widerspruch gegen den Bescheid vom 27.04.2011" verfristet sei, teilte der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 20. Juni 2011 mit, dass ihm ein Bescheid vom 27. April 2011 nicht vorliege. Unabhängig davon sei sein Schreiben vom 14. Juni 2011 hilfsweise als "Abänderungsantrag" zu werten. Nach Übersendung des Bescheides antwortete der Bevollmächtigte mit Fax vom 27. Juni 2011, dass sein Schreiben vom 14. Juni 2011 als "Abänderungsantrag, hilfsweise als Neuantrag" behandelt werden sollte.

Die Beklagte holte ein erneutes Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein, der das Vorliegen der Pflegestufe I feststellte. Mit Bescheid vom 28. November 2011 erfolgte durch die Beklagte die Einstufung des Klägers in die Pflegestufe I; Leistungen der Pflegeversicherung versagte die Beklagte jedoch aufgrund anzurechnenden Leistungen aus der Unfallversicherung. Im Widerspruchsverfahren begehrte der Kläger Leistungen nach der Pflegestufe III, mindestens jedoch der Pflegestufe II. Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Hiergegen ist eine Klage beim Sozialgericht Würzburg (Az.: S 14 P 89/12) anhängig.

Gleichzeitig machte der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 22. Dezember 2011 gegenüber der Beklagten insgesamt eine Kostennote in Höhe von 309,40 EUR geltend. Ursprünglich habe die Beklagte nämlich keine Pflegebedürftigkeit angenommen, nun aber zumindest die Pflegestufe I anerkannt.

Mit Bescheid vom 28. Dezember 2011 lehnte die Beklagte die Übernahme der Kosten ab. Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 27. April 2011 sei verfristet gewesen. Die Gewährung der Pflegestufe I sei aufgrund eines Neuantrages vom 20. Juni 2011 erfolgt; hierfür greife § 63 SGB X nicht ein. Im Widerspruchsverfahren machte der Bevollmächtigte des Klägers geltend, seine Einschaltung zur neuerlichen Beantragung von Pflegegeld sei durch den rechtsfehlerhaften, ablehnenden Bescheid vom 27. April 2011 verursacht. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. März 2012 zurück.

Der Kläger hat den Anspruch auf Kostenübernahme nach § 63 SGB X vor dem Sozialgericht Würzburg weiterverfolgt und hilfsweise einen Schadensersatzanspruch aus positiver Forderungsverletzung des Pflegeversicherungsvertrages gegen die Beklagte geltend gemacht. Letzteren Antrag hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 13. Dezember 2012 abgetrennt; der Rechtsstreit ist beim Amtsgericht O. (Az.: 1 C 48/13) anhängig. Die Klage auf Übernahme der Kosten des Bevollmächtigten hat es mit Gerichtsbescheid vom 27. Dezember 2012 abgewiesen. Es fehle bereits an einem Widerspruch im Sinne des § 63 Abs. 1 SGB X; nach Angaben des Klägerbevollmächtigten sei dem Kläger der Bescheid vom 27. April 2011 nicht bekanntgegeben worden (§ 37 SGB X). Der Bescheid habe somit gemäß § 39 SGB X nicht wirksam werden können. Das Schreiben vom 14. Juni 2011 sei gegen das Gutachten des MDK vom 26. April 2011 gerichtet gewesen. Soweit der Kläger dieses als "Abänderungsantrag", hilfsweise als Neuantrag gewertet haben will, läge auch insoweit kein Widerspruch vor. Sollte der Bescheid vom 27. April 2011 wirksam bekanntgegeben worden sein, wäre der Widerspruch gemäß § 84 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verfristet gewesen.

Das Sozialgericht hat die Berufung im Tenor nicht zugelassen (§ 144 Abs. 2 SGG).

Mit der Beschwerde hat der Beschwerdeführer beantragt, ihm die vorgerichtlichen Gebühren in Höhe von 309,40 EUR zu erstatten. Das Schreiben vom 14. Juni 2011 sei als Widerspruch gegen den Bescheid vom 27. April 2011 auszulegen. Konkludent hätten sich die Einwendungen auch gegen den unbekannten zwischenzeitlich erlassenen Bescheid gerichtet. Es sei daher unzutreffend, wenn das Sozialgericht davon ausgehe, dass mangels Kenntnis des Bescheids hiergegen auch kein Widerspruch eingelegt werden könne. Die Kenntnis bzw. Zustellung des Bescheides sei für die Frage der Rechtsmittelfrist maßgebend. Die Unkenntnis schließe nicht aus, dass gegen den noch unbekannten Bescheid Widerspruch eingelegt wird, insbesondere wenn sich der Kläger wie im vorliegenden Fall bereits in Unkenntnis des Bescheides gegen die ihm bekannten Bewertungen aus dem Gutachten gewendet habe. Die Erklärung, das Schreiben vom 14. Juni 2011 solle als Abänderungs- bzw. Neuantrag behandelt werden, sei rein vorsorglich im Hinblick auf die Bewertung der Versäumung der Widerspruchsfrist hin auszulegen. Aus dem Gutachten des MDK vom 14. März 2012 folge, dass aufgrund der unveränderten Verhältnisse der Widerspruch gegen den Bescheid vom 27. April 2011 erfolgreich gewesen wäre. Folglich sei die Beschwerdegegnerin verpflichtet, dem Beschwerdeführer die Kosten des Widerspruchsverfahrens zu ersetzen. Es liege dem Gerichtsbescheid des Sozialgerichts somit ein Verfahrensmangel zugrunde bzw. die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung. Es sei nicht bekannt, dass bezüglich des Sachverhaltes eine obergerichtliche Entscheidung vorliege, insbesondere im Hinblick auf die Frage des Beginns der Rechtsmittelfrist bei unbekanntem Bescheid und der sich hieraus ergebenden Rechtsfolge bei Einwendungen gegen den unbekannten Bescheid. Darüber hinaus werde die Verletzung des rechtlichen Gehörs gerügt, da das Gericht offenbar den Sachverhalt nicht erfasse und keine zutreffende Auslegung des Schreibens vom 14. Juni 2011 erfolgt sei.

Die Beschwerdegegnerin hat die Ansicht vertreten, dass die Voraussetzungen der Zulassung der Berufung nach § 144 Abs. 2 SGG nicht vorliegen. Eine grundsätzliche Bedeutung sei nicht ersichtlich. Die aufgeworfenen Fragen seien hinreichend hinsichtlich des Beginns der Rechtsmittelfrist bei unbekanntem Bescheid und der sich daraus ergebenden Rechtsfolgen geklärt (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 84 Rdnr. 4 c und d). Ein Verfahrensmangel liege ebenfalls nicht vor. Dass das Sozialgericht die Schreiben nicht im Sinne des Beschwerdeführers ausgelegt habe oder aus Sicht des Beschwerdeführers das Recht falsch angewandt habe, stelle keinen Verfahrensverstoß dar, insbesondere auch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Im Übrigen habe der "Erfolg" der Bemühungen des Bevollmächtigten lediglich in der Durchführung eines neuen Verwaltungsverfahrens bestanden; dies nicht zuletzt deshalb, da nach erneuter Übersendung des ablehnenden Verwaltungsaktes weder ein neuer Widerspruch eingelegt noch der Widerspruch aufrecht erhalten worden sei. Vielmehr sollte das Schreiben nunmehr als Überprüfungsantrag oder als Neuantrag gewertet werden.

Der Senat auf den Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Dezember 2012 (Az.: L 11 AS 811/12) hingewiesen.

Der Kläger und Beschwerdeführer beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 27. Dezember 2012 und den Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. März 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm vorgerichtlich Gebühren in Höhe von 309,40 EUR zu erstatten.

Die Beklagte und Beschwerdegegnerin beantragt,

"die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen", sinngemäß hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.

II.

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beschwerdeführers ist gemäß § 145 Abs. 1 SGG zulässig, insbesondere auch fristgerecht (§ 145 Abs. 1 S. 2 SGG) eingelegt, aber sachlich nicht begründet.

Die Berufung bedarf der Zulassung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes nach § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG den Betrag von 750 EUR nicht übersteigt. Streitig sind lediglich Aufwendungen in Höhe von 309,40 EUR. Ein Fall wiederkehrender oder laufender Leistungen nach § 144 Abs. 1 S. 2 SGG liegt nicht vor.

Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde ist ausschließlich die Frage, ob ein Zulassungsgrund vorliegt, der nach § 144 Abs. 2 SGG die Zulassung der Berufung rechtfertigt. Die Berufung ist zuzulassen, wenn
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2. das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Soweit sich der Beschwerdeführer auf den Zulassungsgrund wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG beruft, liegt dieser nicht vor. Erforderlich für die Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung ist, dass die Streitsache eine bisher ungeklärte Rechtsfrage abstrakter Art aufwirft, wenn eine Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern, wobei ein Individualinteresse nicht genügt (Meyer-Ladewig in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 144 Rnr. 28). Um eine solche ungeklärte Rechtsfrage handelt es sich vorliegend nicht.

Der Beschwerdeführer begehrt die Erstattung seiner notwendigen Aufwendungen im Widerspruchsverfahren nach § 63 Abs. 1 S. 1 SGB X. Soweit der Widerspruch erfolgreich ist, hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten. Zutreffend hat das Sozialgericht jedoch ausgeführt, dass kein Widerspruchsverfahren im Sinne des § 63 SGB X vorliegt bzw. der Widerspruch wegen Verfristung unzulässig war - eine Entscheidung der Beschwerdegegnerin zur Sache ist in einem Widerspruchsverfahren nicht ergangen (siehe hierzu: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 63 Rdnr. 9), vielmehr wurde aufgrund der klägerischen Schreiben vom 14. und 20. Juni 2011 ein "Abänderungsantrag" (wohl im Sinne des § 44 SGB X) bzw. ein "Neuantrag" gestellt und somit ein neues, gesondertes Verwaltungsverfahren eingeleitet.

Vorliegend ist insbesondere ungeklärt, ob der Bescheid der Beklagten vom 27. April 2011 dem Kläger bekanntgegeben (§§ 37, 39 SGB X) wurde. Einen Nachweis konnte die Beklagte nicht führen. In Rechtsprechung und Literatur ist aber geklärt, dass ein Widerspruch erst ab Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zulässig ist (z.B. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 84 Rdnr. 4 c). Ist ein Verwaltungsakt, wie vom Kläger dargelegt, ihm nicht bekannt gegeben worden, läuft die Widerspruchsfrist nicht, auch nicht die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG (so auch: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 84 Rdnr. 4 d). Gibt die Behörde einem Beteiligten den Verwaltungsakt nicht oder nicht ordnungsgemäß bekannt, wird er gegenüber diesem Beteiligten nicht existent und damit nicht rechtswirksam (von Wulffen, a.a.O., § 37 Rdnr. 21). Es liegt damit auch kein "Widerspruch" vor, für den ein Aufwendungserstattungsanspruch nach § 63 SGB X geltend gemacht werden kann. Im Übrigen hat sich der Kläger auch in seinem Schreiben vom 14. Juni 2011 nicht gegen eine Verwaltungsentscheidung gewandt, sondern gegen das MDK-Gutachten vom 26. April 2011.

Durch den vom Sozialgericht entschiedenen Fall werden somit keine neuen grundsätzlichen Rechtsfragen aufgeworfen.

Auch die weiteren Zulassungsgründe des § 144 Abs. 2 Nrn. 2 u. 3 SGG liegen nicht vor, insbesondere ist keine Abweichung von Entscheidungen des Bundessozialgerichts oder des Landessozialgerichts gegeben. Auch ist dem Sozialgericht kein Verfahrensmangel im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG unterlaufen. Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die das sozialgerichtliche Verfahren regelt - nicht umfasst sind dabei das Verwaltungs- und das Widerspruchsverfahren (BSG USK 90, 182). Der Beschwerdeführer rügt inhaltliche Mängel des sozialgerichtlichen Urteils bzw. eine unzutreffende rechtliche Wertung. Der Begriff "Verfahrensmangel" im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG bezieht sich jedoch nicht auf den sachlichen Inhalt des Urteils (Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, a.a.O., § 144 Rdnr. 32).

Inwieweit ein Verstoß gegen die Gewährung von rechtlichem Gehör gegeben sein soll, wie vom Kläger vorgebracht, ist nicht ersichtlich. Die Frage der zutreffenden oder unzutreffenden Auslegung des Schreibens vom 14. Juni 2011 sowie die "Erfassung" des Sachverhalts durch das Gericht stellt keine Frage des rechtlichen Gehörs dar, sondern die Frage der Richtigkeit der Entscheidung. Diese ist jedoch nicht im Rahmen der Zulassung der Berufung nach § 144 Abs. 2 SGG zu prüfen.

Die Beschwerde war somit im Ergebnis zurückzuweisen mit der Folge, dass das Urteil des Sozialgerichts gemäß § 145 Abs. 4 S. 4 SGG rechtskräftig ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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