L 5 R 571/14

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 47 R 1793/12
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 571/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Betriebsprüfung: Unterbliebene Beiladung sowie Sachverhaltsermittlung begründen Zurückverweisung an das Sozialgericht
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 7. Mai 2014 aufgehoben und die Sache an das Sozialgericht zurückverwiesen.

II. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorenthalten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen Beitragsnachforderungen auf Grund einer Betriebsprüfung.

1. Der 1957 in Polen geborene Kläger ist von Beruf Bauingenieur und übte diese Tätigkeit über viele Jahre hinweg in Deutschland aus. Zudem weist eine Verurteilung wegen Insolvenzverschleppung (Tatzeit: 3.1.2007) darauf hin, dass der Kläger in seiner Branche auch als Geschäftsführer tätig war.

Im Laufe des Jahres 2007 gründete der Kläger im Zusammenwirken mit G. P. zur Durchführung von Bauarbeiten in Subunternehmereigenschaft die am 9.8.2007 im Handelsregister des Amtsgerichts A-Stadt eingetragene L. OHG. Deren Gesellschafter ohne Geschäftsführungsbefugnis waren eine Vielzahl von polnischen Arbeitnehmern, die sich in ihrer Heimat auf das Versprechen eines Stundenlohnes von 10,00 EUR für Bauarbeiten in Deutschland gemeldet hatten und im Wesentlichen in einer durch das Kreisgericht L-Stadt/Polen bestätigten Listung aufgeführt waren. Vom 23.7.2007 - 30.9.2008 erbrachte die L. OHG diverse Bauarbeiten im Raum A-Stadt.

Am 26.1.2009 leitete das Hauptzollamt wegen dieser Vorgänge ein Ermittlungsverfahren nach dem Schwarzarbeitsgesetz ein, in dessen Rahmen die Beklagte zur Schadensermittlung eingeschaltet wurde. Auf Grund des Schlussberichts vom 8.2.2010 wurde der Kläger u.a. wegen der Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen angeklagt. Mit Urteil vom 3.2.2011 wurde der Kläger u.a. deswegen zu einer Bewährungsstrafe von 1 Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Das Urteil ist nach Berufungsrücknahme rechtskräftig seit 20.7.2011. Der Kläger leistet Beitragsnachzahlungen an die zuständige Einzugsstelle im Ratenwege iHv 500,00 EUR/Monat.

2. Nach Erstellung der Schadensberechnung für das Hauptzollamt am 8.2.2010 und nach Anhörung vom 1.6.2010 forderte die Beklagte mit Bescheid vom 23.11.2011/Widerspruchsbescheid vom 14.8.2012 vom Kläger Beiträge und Umlagen iHv 97.604,92 EUR einschließlich Säumniszuschläge nach. Eigene Sachverhaltsermittlungen, die über die Schadensberechnung hinausgehen, sind den Akten der Beklagten nicht zu entnehmen. Dem Widerspruchsvorbringen des Klägers vom 27.8.2010 folgte die Beklagte im Hinblick auf die strafrechtliche Verurteilung nicht.

Dagegen hat der Kläger am 3.9.2012 Klage zum Sozialgericht München erhoben und Aufhebung der Entscheidung der Beklagten beantragt. Das Sozialgericht hat nach Eingang der Beklagtenakten weder Beiladungen vorgenommen noch weitere Akten beigezogen.

Auf Grund mündlicher Verhandlung vom 7.4.2014 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und sich zur Begründung auf ein Geständnis des Klägers, auf die Zeugenaussagen im Strafverfahren sowie ergänzend auf die Entscheidungsbegründung der Beklagten bezogen. Die Niederschrift weist eine Verhandlung einschließlich Beratung und Urteilsverkündung von 11:25 Uhr bis 11.40 Uhr aus.

3. Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt und zur Begründung materiell geltend gemacht, er sei nicht Arbeitgeber gewesen sondern ‚Angestellter der L. OHG. Auch sei der Kläger entsprechend der Anmeldung der L. OHG bei allen zuständigen Behörden und auch dem notariell wirksam geschlossenen Gesellschaftsvertrag von der Wirksamkeit der Gesellschaftsgründung ausgegangen, so dass es an seiner Arbeitgeberstellung fehle. Zudem hat der Kläger Verfahrensfehler der ersten Instanz, insbesondere das Übergehen konkreter Beweisbegehren gerügt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 7.4.2014 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.8.2012 aufzuheben, hilfsweise die Sache an das Sozialgericht München zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Verwaltungsakten der Beklagten. Darauf sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge wird zur Ergänzung des Tatbestands Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 SGG) und im Sinne der Zurückverweisung (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG) begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist in mehrfacher Hinsicht schwer verfahrensfehlerhaft, so dass es der Nichtdurchführung eines Klageverfahrens nahezu gleichzusetzen ist, namentlich weil die erforderliche umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme unterblieben ist.

1. Rechtsgrundlage des streitgegenständlichen Bescheides der Beklagten vom 23.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.8.2012 ist § 28p SGB IV. Danach prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV, die im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag stehen, ordnungsgemäß erfüllen; sie prüfen insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlungen und der Meldungen mindestens alle vier Jahre. Die Träger der Rentenversicherung - hier die Beklagte - erlassen im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung einschließlich der Widerspruchsbescheide gegenüber den Arbeitgebern.

Arbeitgeber im Sinne von § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV ist regelmäßig derjenige, zu dem Beschäftigte in einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV ist Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen (in Bezug auf Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung) sowie eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV). Arbeitgeber insbesondere im Sinne der §§ 28e Abs. 1 Satz 1, 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV ist mithin derjenige, dem der Anspruch auf die von dem Beschäftigten nach Maßgabe des Weisungsrechts geschuldete Arbeitsleistung zusteht und der dem Beschäftigten dafür als Gegenleistung zur Entgeltzahlung verpflichtet ist (vgl. BSG, Urteil v. 27.7.2011, B 12 KR 10/09 R, m.w.N.; LSG Essen, Beschluss v. 21.7.2011, L 8 R 280/11 B ER).
Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten - einschließlich der Beigeladenen gem. § 75 SGG - sind dabei heranzuziehen. Dazu hat der Vorsitzende gem. § 106 SGG bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen, namentlich Auskünfte jeder Art einholen, Zeugen und Sachverständige in geeigneten Fällen vernehmen, andere Personen und Behörden beiladen.

2. In Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Berufung ergibt sich zunächst, dass die gegenständliche Nachforderung gegenüber dem Kläger als Arbeitgeber gem. § 28p SGB IV der polnischen Staatsbürger, die Gesellschafter der L. OHG waren, festgestellt ist. Das setzt zwingend eine Arbeitgeberstellung des Klägers voraus, weil der Beklagten keine Rechtsgrundlage zur Seite steht, den Kläger anderweitig als verantwortlich handelnde Person für Beitragsschulden haftbar zu machen (vgl. BT-Drs. 11/3445 S. 35). Die Arbeitgeberstellung aber hat der Kläger unter Angebot mehrerer konkreter Beweismittel und -wege konkret bestritten. Über diesen Vortrag sowie die entsprechenden Beweisangebote hat sich das Sozialgericht fehlerhaft hinweggesetzt.

a) Das Sozialgericht hat seine Entscheidung, dass der Kläger als Arbeitgeber die Beitragsnachforderung schuldet, auf ein Geständnis des Klägers gestützt. Ein solches Geständnis hat der Kläger weder vor dem Sozialgericht sowie gegenüber der Beklagten abgegeben noch findet sich ein Geständnis (vgl. §§ 254, 257c, 362 StPO) im Straf-Urteil vom 3.2.2011, das in Kopie in den Beklagtenakten abgeheftet ist.

Die erstinstanzliche Entscheidung bezieht sich zur Arbeitgebereigenschaft weiter auf Zeugenaussagen im Strafverfahren. Diese Zeugenaussagen finden sich weder in den Akten des Sozialgerichts noch in den beigezogenen Akten der Beklagten. Das dort befindliche Straf-Urteil vom 3.2.2011 enthält die benannten Aussagen nicht und zitiert diese auch nicht. Es fasst Zeugenaussagen vielmehr zusammen und gibt sie in eigener Wertung wieder und lässt insbesondere Ausmaß und Umfang der Stellung und der (Mit-)beteiligung des G. P. an den vorliegend strittigen Vorgängen in relevanter Hinsicht unentschieden.

b) Das Sozialgericht wäre ausgehend von seinem Standpunkt nach § 103 SGG verpflichtet gewesen, den Sachverhalt in Bezug auf die Arbeitgeberstellung des Klägers zu erforschen. Dies ist während der nahezu zweijährigen Verfahrensdauer ebenso wenig geschehen wie in der viertelstündigen mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung. Zumindest wären gem. § 106 Abs. 2, 3 SGG die Akten des Strafverfahrens ebenso wie die Ermittlungsakten des Hauptzollamtes beizuziehen und die dort urkundenmäßig vorhandenen Aussagen sowie die eventuell dokumentierten Geständnisse herauszuarbeiten und auszuwerten und sachlich veranlasste eigene Beweiserhebungen durchzuführen gewesen. In gleicher Weise wäre das Sozialgericht ausgehend von seinem Standpunkt der Irrelevanz des OHG-Vertrages veranlasst gewesen, wenigstens die einschlägigen Akten des Amtsgerichts München - Registergericht beizuziehen und auszuwerten.

c) Das Sozialgericht ist von der Unwirksamkeit des deutschen OHG-Vertrages einerseits und von der Begründung von Beschäftigungsverhältnissen mit polnischen Arbeitskräften in Polen ausgegangen. Damit bestehen Anknüpfungstatsachen, die es nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen lassen, dass die Regelungen der EWG-VO 1408/71 die Geltung deutschen Sozialrechts ausschließen. Hierzu wäre gem. §§ 103, 106 SGG Beweis zu erheben.

d) Das Sozialgericht hat die gem. § 75 Abs. 2 SGG notwendige Beiladung (Meyer-Ladewig/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 75 Rn. 10 ff) der Einzugsstelle, der Bundesagentur, des Trägers der Pflegeversicherung sowie der betroffenen Beschäftigten polnischer Staatsangehörigkeit unterlassen ebenso wie die Heranziehung dieser Personen zur Sachaufklärung gem. § 103 S 1 SGG.
Zudem ist zu klären, inwieweit der Kläger auf Grund seiner persönlichen Haftung gem. § 823 Abs. 2 BGB iVm § 266a StGB - evtl. auch zur Vermeidung einer kostenpflichtigen Anspruchstitulierung vor den ordentlichen Gerichten - die hier gegenständlichen kongruenten Beitragsforderungen gegenüber der beizuladenden Einzugsstelle als Gläubigerin (§§ 28 h Abs. 1, § 28 i SGB IV) rechtsverbindlich in Form einer Ratenzahlungsverpflichtung anerkannt hat.
Zudem sind die eigenen Angaben der beizuladenden Beschäftigten polnischer Staatsangehörigkeit bereits nach den Ausführungen des Sozialgerichts streitbestimmend. Diese Angaben sind einzuholen, wobei in der Folge zu entscheiden wäre, inwieweit die Beigeladenen als Zeugen für die jeweils anderen Beschäftigungsverhältnisse einvernommen werden können (vgl. Meyer-Ladewig/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 75 Rn. 17b).

3. Die so bezeichnete Fehlerhaftigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung ist nicht im Ergebnis unbeachtlich, weil sich die Entscheidung ergänzend auf die Überzeugung des Gerichts sowie auf die Entscheidung der Beklagten stützt. Zum Einen krankt die Überzeugungsfindung an den dargestellten schweren Mängeln. Zum Anderen hat auch die Beklagte keine eigenes Verwaltungsverfahren entsprechend §§ 20, 24 SGB X mit Beteiligtenanhörung und Sachaufklärung durchgeführt. Die Beklagte ist allein der strafrechtlichen Verurteilung des Klägers gefolgt, obwohl sie im Ermittlungsverfahren allein zur Ermittlung der Schadenshöhe eingeschaltet war und obwohl die Beklagte selbst im Schreiben vom 8.2.2010 das Hauptzollamt darauf hingewiesen hatte, dass die vorgenommene Schadensberechnung keine Betriebsprüfung iSd § 28p SGB IV ist. Zudem sind eventuelle Erkenntnisse aus der Anhörung des Klägers vom 1.6.2010 gem. § 24 SGB X nicht in die Entscheidung eingeflossen, die ersichtlich im Wesentlichen der strafrechtlichen Verurteilung folgt.

4. Die bezeichneten erstinstanzlich unterlassenen Maßnahmen der Beiladung sowie der Sachverhaltsermittlung sind nachzuholen. Es besteht zwar die Möglichkeit, dass der Kläger mit den Angaben des vorliegenden Verfahrens in Kollision mit den Beweisergebnissen des Strafverfahrens gerät, insbesondere weil das Strafgericht nach mehreren Verhandlungstagen die faktische Arbeitgebereigenschaft des Klägers iSd § 14 Abs. 2 S 1 StGB anhand konkreter Beweise festgestellt hat. In der Folge kann sich dann an das vorliegende Verfahren ein weiteres Strafverfahren anschließen. Diese Möglichkeit aber entbindet das Sozialgericht nicht von seinen Verfahrenspflichten. Sie bestehen in gleicher Weise trotz der Eventualität, dass der Kläger im Unterliegensfall insbesondere die Kosten der Beigeladen (einschließlich Reise- sowie Vertretungskosten) zu tragen haben wird.

5. Die genannten Maßnahmen und Ermittlungen erfordern ein aufwändiges Verfahren, die Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG sind damit erfüllt. Im Rahmen des gerichtlichen Ermessens, das Verfahren entweder zurückzuverweisen oder im Sinne Verfahrensbeschleunigung in der zweiten Instanz durchzuführen wird berücksichtigt, dass der Kläger wie ausgeführt im Ergebnis so gestellt ist, als wäre ein Urteil ohne rechtmäßiges Verfahren ergangen. Dieser nahezu komplette Verlust einer Instanz veranlasst dazu, den vom Kläger auch beantragten Weg der Zurückverweisung zu wählen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Letztentscheidung im Instanzenzug vorbehalten.

Die in Ignorierung ständiger Rechtsprechung (vgl. BSG, Beschluss vom 10.6.2010 - B 2 U 4/10 B, Rn. 14 ff - zitiert nach Juris; zuvor schon Senat vom 20.01.2010 - L 5 R 848/09, LSG Nordrhein-Westfalen vom 3.9.2009 - L 8 B 12/09 R; LSG Baden-Württemberg vom 26.1.2009 - L 10 R 5795/08 W-B) unzutreffende Streitwertfestsetzung der ersten Instanz ist durch Beschluss in der mündlichen Verhandlung vom 7.10.2014 korrigiert.

Gründe zur Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich, § 160 SGG.
Rechtskraft
Aus
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