L 1 AL 57/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 3 AL 140/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 1 AL 57/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 22.06.2005 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des dem Kläger vom 01.08.2002 bis 31.07.2003 zustehenden Arbeitslosengeldes (Alg).

Der 1967 geborene Kläger beantragte bei der Beklagten am 10.07.2002 die Zahlung von Alg. Mit Bescheid vom 12.09.2002 bewilligte die Beklagte Alg nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 1.050,00 Euro und unter Berücksichtigung der nach § 136 Abs. 1 des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches - Arbeitsförderung - (SGB III) gewöhnlich anfallenden gesetzlichen Entgeltabzüge. Der Kläger erhob am 09.10.2002 Widerspruch und machte im Wesentlichen geltend, er unterliege nicht dem Kirchensteuerabzug, so dass die Beklagte den Kirchensteuer-Hebesatz nicht habe berücksichtigen dürfen. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 15.11.2002 zurück.

Nachdem der Kläger zum 01.11.2002 seinen Wohnsitz in den Zuständigkeitsbereich der Agentur für Arbeit B verlegt hatte, bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 08.11.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2002 und Bescheid vom 18.01.2003 Arbeitslosengeld ebenfalls nach einem wöchentlichen Bemessungs-entgelt von 1.050,00 Euro und unter Berücksichtigung der nach § 136 Abs. 1 SGB III gewöhnlich anfallenden gesetzlichen Entgeltabzüge.

Der Kläger hat am 16.12.2002 bzw. 16.01.2003 beim Sozialgericht (SG) Münster Klagen erhoben, die das SG mit Beschluss vom 04.08.2003 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hat.

Er ist weiterhin bei seiner Auffassung verblieben, die Beklagte habe den Kirchensteuer-Hebesatz nicht berücksichtigen dürfen. Der Anteil der Kirchenmitglieder sei zum Jahresende 2000 auf 56,9 % und damit um weitere 0,7% gegenüber den vom Bundessozialgericht (BSG) in dessen Urteil vom 25.06.2002 - B 11 AL 55/01 R - zugrunde gelegten Zahlen gesunken. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23.03.1994 (BVerfG in SozR 3-4100 § 111 Nr. 6) sei nicht mehr aktuell, da im Zeitalter der EDV eine differenzierte Berechnung des Alg ohne größeren Aufwand möglich sei. Der pauschale Abzug der Kirchensteuer sei auch verfassungswidrig, da er zum einen im Widerspruch zum Recht auf Ausübung der Religionsfreiheit stehe und zum anderen den tatsächlichen Einkommensverhältnissen nicht entspreche. Nach den nunmehr vom Statistischen Bundesamt vorgelegten Zahlen von 1998 bzw. zum Teil bis 2001 sei der Anteil der Arbeitnehmer, die einer steuererhebenden Kirche angehörten, auf 54,3 % bzw. 53,9 % und damit unter den vom BSG für das Merkmal "deutliche Mehrheit" festgelegten Grenzwert von 55 % gesunken.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 22.06.2005 abgewiesen. Es hat zur Begründung im Wesentlichen dargelegt, die Beklagte habe das Leistungsentgelt des Alg zutreffend nach § 136 SGB III unter Berücksichtigung der pauschalen Abzüge betreffend die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallenden Entgeltabzüge ermittelt. Dieses Vorgehen sei auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1994 hinsichtlich der zulässigen Typisierung und Pauschalierung der Berechnung von Sozialleistungen nicht zu beanstanden. Ausgehend von der Entscheidung des BVerfG habe das BSG die Berücksichtigung des Kirchensteuer-Hebesatzes bezogen auf den für ihn maßgeblichen Zeitraum für verfassungsmäßig angesehen. Dies gelte auch für den streitigen Zeitraum von August 2002 bis August 2003, da den maßgeblichen Leistungs-entgeltverordnungen im Dezember 2001 und Dezember 2002 keine neueren amtlichen Daten über die Kirchensteuerpflichtigen vorgelegen hätten. Mit den Ergebnissen der turnusmäßigen Lohn- und Einkommenssteuerstatistik für das Jahr 1998 könne erst im Frühjahr 2003 gerechnet werden, für das Jahr 2002 lägen im Übrigen auch heute noch keine statistischen Angaben vor. Zwar habe der Gesetzgeber aufgrund der von den Kirchen für das Jahr 2001 veröffentlichen Mitgliederzahlen ab 01.01.2005 bei der Ermittlung des Leistungsentgelts auf die Kirchensteuer verzichtet, eine rückwirkende Berücksichtigung sei jedoch verfassungsrechtlich nicht geboten.

Gegen das ihm am 05.07.2005 zugestellte Urteil richtet sich die am 05.08.2005 eingelegte Berufung des Klägers. Er sieht sich in seiner Auffassung durch ein Urteil des SG Chemnitz vom 30.09.2004 - S 6 AL 58/02 - bestätigt. Im Übrigen hätte nach dem Günstigkeitsprinzip bei unterlassener Erhebung verlässlicher Zahlen durch den Bundes-minister für Arbeit und Sozialordnung die Kirchensteuer gerade nicht als gewöhnlich anfallender Abzug in die Rechtsverordnung eingearbeitet werden dürfen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 22.06.2005 zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 12.09.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2002 und des Bescheides vom 08.11.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2002 sowie des Bescheides vom 18.01.2003 zu verurteilen, ihm Arbeitslosengeld ohne die Berücksichtigung von Kirchensteuer als gewöhnlich anfallenden Abzug zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei und trägt ergänzend vor, die im Oktober 2003 veröffentlichten statistischen Werte seien zum einen für den streitigen Zeitraum ohne Relevanz. Im Übrigen sei der Gesetzgeber seiner Verpflichtung zum Tätigwerden mit dem Dritten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 mit Wirkung vom 01.01.2005 nachgekommen. Eine rückwirkende Berücksichtigung komme demgegenüber nicht in Betracht.

Die Verwaltungsakten der Beklagten sind beigezogen worden und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das SG ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Bescheid vom 18.01.2003 aus prozessökonomischen Gründen entsprechend § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden ist. Es handelt sich um den Alg-Fortbewilligungsbescheid für den neuen Bewilligungsabschnitt ab 01.01.2003, der - bezogen auf die hier allein streitgegenständliche Frage der Berücksichtigung des Kirchensteuer-Hebesatzes - auf der selben Berechnungsgrundlage wie die Bescheide vom 12.09.2002 und 08.11.2002 beruht. Die im Klageverfahren gegen diese Bescheide zu entscheidende Frage wirkt sich daher unmittelbar auch auf die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 18.01.2003 aus. Die angefochtenen Bescheide sind nicht rechtswidrig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Arbeitslosengeld ohne die Berücksichtigung des Kirchensteuer-Hebesatzes.

Zur Begründung nimmt der Senat Bezug auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils und die zu dieser Frage ergangene Rechtsprechung des erkennenden Gerichts (LSG NRW Urteil des 1. Senates vom 16.08.2005, Az.: L 1 AL 117/03; Urteile des 9. Senates vom 09.09.2004, Az.: L 9 AL 105/03 und 01.07.2004, Az.: L 9 AL 223/03; Urteile des 12. Senates vom 29.06.2005, Az.: L 12 AL 185/04 und 28.08.2002, Az.: L 12 AL 108/01 sowie des 19. Senates vom 12.12.2005, Az.: L 19 AL 130/05, jeweils mit weiteren Nachweisen). Darin ist ebenso eingehend wie überzeugend dargelegt, dass die Berücksichtigung des Kirchensteuer-Hebesatzes als pauschalierter Entgeltabzug unter Beachtung der Rechtsprechung des BVerfG bzw. des BSG (a. a. O.) zu Recht erfolgt ist. Bei der Kirchensteuer handelt es sich jedenfalls im hier streitigen Zeitraum um einen "gewöhnlich anfallenden" gesetzlichen Abzug im Sinne des § 136 Abs. 1 SGB III, um den das Bemessungsentgelt bei der Berechnung des Alg zu ver-mindern ist.

Soweit sich der Kläger auf ein Urteil des SG Chemnitz vom 30.09.2004 (a. a. O.) bezieht, überzeugt dies bereits deshalb nicht, da das Gericht dorrt ganz wesentlich auf sein argumentativ überholtes - Urteil vom 14.12.1995 – S 6 AL 847/95 - verweist. Im Übrigen hat das SG Chemnitz außer Acht gelassen, dass das BVerfG (a. a. O.) zur Einhaltung der Verfassungsmäßigkeit der pauschalen Berücksichtigung der Kirchensteuer allein dem Gesetzgeber eine Beobachtungs- und Handlungsverpflichtung auferlegt hat. Letztlich sind die vorgelegten Zahlen auch nicht geeignet, die Kirchensteuer als nicht mehr regelmäßig anfallenden Entgeltabzug bei Arbeitnehmern im streitigen Zeitraum anzunehmen. Abgesehen davon, dass sie zum Zeitpunkt der Bescheiderteilung noch nicht vorlagen, waren gesicherte Erkenntnisse bei der Veröffentlichung durch das Statistische Bundesamt im Mai 2003 nur bezogen auf den Anteil der kirchenlohnsteuerpflichtigen Personen für das Jahr 1998 (57,1 %) vorhanden. Soweit das Statistische Bundesamt in seiner Kommentierung zu den Übersichten davon ausgeht, dass sich nach den bislang vorliegenden Zahlen der Trend beim Anteil der Kirchenlohnsteuerpflichtigen weiter fortsetze, so dass mit einem Anteil von unter 55 % für 2001 gerechnet werde, überzeugt dies bereits deshalb nicht, da dieser Prognose mehrere Prämissen zugrunde liegen, die sie als unsicher erscheinen lassen (so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.07.2003 - L 13 AL 4869/02 -). Gesicherte Zahlen sind demgegenüber wegen der Frist zur Abgabe der Einkommenssteuererklärung, deren Ablauf abgewartet werden muss, erst mehr als 3 Jahre nach Ablauf des Jahres zu erwarten. Mithin ist nicht mit der zu fordernden an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit der Nachweis erbracht, dass schon vor Auswertung der noch nicht vorliegenden Zahlen der Lohn- und Einkommenssteuerstatistik 2002 bis 2003 die maßgebliche Grenze von 55 v. H. unterschritten wird. Da sich nach dem zuvor Gesagten der Anteil der Arbeitnehmer, die Kirchensteuer zahlen, verlässlich nur über die Lohn- und Einkommenssteuerstatistik ermitteln lässt und diese im dreijährigen Turnus erstellt werden, bestand auch keine Veranlassung, eigene weitere Ermittlungen anzustellen (so auch LSG NRW, Urteil vom 03.07.2002 - L 12 AL 261/01).

Wie das SG zutreffend dargelegt hat, kann der Kläger aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber mit Wirkung zum 01.01.2005 dem vom Statistischen Bundesamt prognostizierten Rückgang der kirchensteuerpflichtigen Arbeitnehmer gleichwohl Rechnung getragen hat und daher den Kirchensteuer-Hebesatz nicht mehr berücksichtigt, für den hier streitigen zurückliegenden Streitraum keine weitergehenden Rechte herleiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 u. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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