Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 (14) R 8/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 R 353/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 18/11 R
Datum
Kategorie
Urteil
Bemerkung
Auf Rev. der Beklagten wird das Urteil des LSG NRW aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen den GB zurückgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 16.11.2006 sowie die Bescheide der Beklagten vom 27.06.2003 und 25.03.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2005 geändert. Die Beklagte wird verurteilt, der Berechnung der Rente des Klägers wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.11.2001 einen unverminderten Zugangsfaktor von 1,0 zugrunde zu legen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers aus dem gesamten Verfahren. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Beklagte dem Kläger volle Erwerbsminderungsrente nach einem verminderten Zugangsfaktor gewähren darf.
Der Kläger ist am 00.00.1963 geboren. Auf seinen Rentenantrag hin bewilligte die Beklagte ihm Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.05.2002 bis zum 31.12.2004 unter Zugrundelegung eines Leistungsfalles vom 17.10.2001 (Bescheid vom 27.06.2003). Der Rentenberechnung legte sie 11,4059 Entgeltpunkte für Beitragszeiten, außerdem eine Zurechnungszeit vom 01.11.2001 bis zum 31.07.2021 zu Grunde. Unter Berücksichtigung eines für die Zeit vom 01.08.1982 bis 31.05.1999 durchgeführten Versorgungsausgleichs errechnete die Beklagte insgesamt 21,3458 Entgeltpunkte. Den Zugangsfaktor von 1,0 verminderte sie für jeden Kalendermonat nach dem 30.11.2024 bis zum Ablauf des Kalendermonats nach Vollendung des 63. Lebensjahres (am 05.04.2026) um 0,003, d.h. um 0,051. Bei einem Zugangsfaktor von 0,949 nahm sie daher 20,2572 persönliche Entgeltpunkte an. Diese vervielfältigte sie mit dem aktuellen Rentenwert. Auf diese Weise errechnete sie ab dem01.05.2002 einen monatlichen Rentenzahlbetrag von 512,79 EUR brutto bzw. 474,08 EUR netto.
"Gegen die Höhe der Rente" erhob der Kläger mit Schreiben vom 21.07.2003 Widerspruch und führte aus, sein Bruttoverdienst könne nicht vollständig berücksichtigt worden sein. Die Beklagte "half" dem Widerspruch des Klägers insofern "ab", als sie ihm Rente auf Dauer ab dem 01.11.2001 gewährte (Bescheid vom 25.03.2004). Unter Zugrundelegung von nunmehr 20,8242 Entgeltpunkten, einer Zurechnungszeit von 231 Monaten (01.11.2001 bis 31.01.2021), einem Zugangsfaktor von 0,967 (maßgebende Zeit: 31.05.2025 bis 05.04.2026) und dementsprechend reduzierten 20,1370 Entgeltpunkten errechnete sich ein Rentenhöchstwert von 526,18 EUR brutto bzw. 480,66 EUR netto monatlich. Mit Widerspruchsbescheid vom 17.05.2005 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen die Bescheide vom 27.06.2003 und 25.03.2004 zurück. Nachdem der Kläger trotz Aufforderung keine konkreten Beanstandungen hinsichtlich der Bescheide mitgeteilt habe, sei nach Aktenlage über die Rechtmäßigkeit zu entscheiden gewesen. Dabei habe sich insbesondere nicht ergeben, dass Versicherungszeiten nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt worden seien.
Mit der Klage hat der Kläger gerügt, bei seiner Rente seien "nicht alle Beitrags- und Ausfallzeiten" berücksichtigt worden. Die seiner Auffassung nach fehlenden Zeiten hat er nicht präzisiert, sodass das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen hat (Gerichtsbescheid vom 16.11.2006).
Hiergegen richtet sich die Berufung, mit der der Kläger unter Berufung auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.05.2006 (B 4 RA 22/05 R) die nach seiner Auffassung unzulässige Verminderung des Zugangsfaktors rügt und zudem meint, die Bewertung der beitragsfreien Zeiten in der Zurechnungszeit sei nicht korrekt vorgenommen worden.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 16.11.2006 sowie die Bescheide der Beklagten vom 27.06.2003 und 25.03.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.205 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.11.2001 unter Zugrundelegung eines unverminderten Zugangsfaktors von 1,0 zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angegriffenen Bescheide für rechtmäßig und teilt mit, dass sie der Entscheidung des BSG vom 16.05.2006 nicht folge. Zudem sei die Rüge des zu geringen Zugangsfaktors in unzulässiger Weise erstmals im Berufungsverfahren zum Verfahrensgegenstand gemacht worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Rentenakten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind insoweit rechtswidrig, als die Beklagte dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung mit einem Zugangsfaktor gewährt hat, der niedriger als 1,0 ist. Der Kläger kann die Gewährung dieser Rente ab dem 01.11.2001 nach einem ungekürzten Zugangsfaktor verlangen.
Es ist dem Kläger nicht aus prozessualen Gründen verwehrt, sich erst in der Berufungsinstanz darauf zu berufen, die Beklagte habe seiner Rente einen unzutreffenden Zugangsfaktor zugrunde gelegt. Der Kläger hat von Beginn des Widerspruchsverfahrens an die unzutreffende Höhe des Rentenzahlbetrages gerügt. Die Begründung hierfür hat immer wieder geschwankt. Es lässt sich dabei nicht feststellen, dass einzelne Feststellungen der Beklagten im Rahmen der Rentenberechnung in Bestandskraft (§ 77 SGG) erwachsen wären. Dies gilt in Sonderheit für den von der Beklagten angewandten Zugangsfaktor.
Die Beklagte kann sich nicht auf eine Rechtsgrundlage stützen, die ihr eine entsprechende Kürzung von Erwerbsminderungsrenten von Versicherten gestattet, die zum Zeitpunkt des Leistungsfalles das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Die von der Beklagten herangezogene Ermächtigungsgrundlage des § 77 SGB VI rechtfertigt nicht in der erforderlichen Bestimmtheit einen Rentenabschlag für Fälle, in denen die Erwerbsminderungsrente vor dem 60. Lebensjahr gewährt wird. Ein vorzeitiger Rentenbezug, der Abschläge beim Zugangsfaktor rechtfertigt (vgl. §§ 63 Abs. 5, 77 Abs. 1 SGB VI), liegt nicht vor. § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI regelt vielmehr ausdrücklich, dass die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt. Diese gesetzliche Klarstellung steht im unmittelbaren Kontext zur Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI, die den frühesten Beginn der Vorzeitigkeit - wie bei Altersrenten - auf die Vollendung des 60. Lebensjahres festlegt. Damit schließt das Gesetz dem Wortlaut nach ausdrücklich einen verringerten Zugangsfaktor (Rentenabschlag) für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres aus. Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres werden demnach vom Gesetz gerade nicht als Zeiten eines "vorzeitigen Rentenbezugs" bestimmt, in dem "Vorteile aus einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer" entstehen. Daher sieht auch § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB VI in der Fassung des Erwerbsminderungs- Reformgesetzes eine Erhöhung des Zugangsfaktors wegen Nichtinanspruchnahme einer "vorzeitigen" Erwerbsminderungsrente nur für die Monate zwischen der Vollendung des 60. und des 63. Lebensjahres vor. Für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres, bei denen ein Ausweichen vor den Abschlägen bei vorzeitigen Altersrenten schlechthin nicht in Betracht kommt, ordnet das Gesetz also ausdrücklich an, dass keine unterschiedliche (längere) Rentenbezugsdauer im Vergleich zu den 63- bis 65-jährigen Erwerbsminderungsrentnern und kein zu vermeidender Vorteil im Sinne des § 63 Abs. 5 SGB VI in der Fassung des Erwerbsminderungs-Reformgesetzes vorliegt, zumal Rechte auf Erwerbsminderungsrenten grundsätzlich nur auf Zeit und auf längstens 3 Jahre bestehen (§ 102 Abs. 2 SGB VI).
Der Senat schließt sich dieser im Urteil des BSG vom 16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R - vertretenen Auslegung an.
Die hiergegen von der Beklagten und in Literatur (vgl. u. a. Plagemann, Anmerkung zum vorgenannten BSG - Urteil in Juris-Praxis-Report vom 05.10.2006; von Koch/Kolakowski, der Zugangsfaktor bei Renten wegen Erwerbsminderung, Sozialgerichtsbarkeit 2007, Seite 71 ff.) und Rechtssprechung (LSG Niedersachsen - Bremen, Beschluss vom 13.12.2006 - L 2 R 466/06 ER - ; SG Aachen Urteil vom 09.02.2007 - S 8 R 96/06) vorgebrachte Kritik überzeugt den Senat nicht.
Soweit die Beklagte aus dem Regelungszusammenhang des § 77 SGB VI den Schluss zieht, Sinn und Zweck der Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI sei die Ergänzung des § 77 Abs. 3 SGB VI, da den detaillierten Regelungen zur Berechnung des Zugansfaktors bei (vor dem 60. Lebensjahr bezogenen) Erwerbsminderungsrenten ein sinnvoller Anwendungsbereich eröffnet werde, begegnet diese Auslegung durchgreifenden Bedenken. Abgesehen von dem gesetzessystematischen Argument, dass die Regelung, die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme greifen zu lassen in Abs. 2 und nicht in Abs. 3 der Vorschrift aufgenommen worden ist, führt die von der Beklagten vertretenen Auslegung zu einem mit der Verfassung nicht zu vereinbarenden Ergebnis.
Dabei kann der Senat der Kritik an den Ausführungen des BSG, es gebe keine Äußerung des Gesetzgebers, dass Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Rechtsinhabers begonnen haben, auch für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres gekürzt werden dürfen, zwar durchaus folgen. Insbesondere die Begründung für die mit dem Erwerbsminderungsrenten- Reformgesetz eingeführte Anrechnung der Zurechnungszeit (vgl. § 59 SGB VI, Übergangsregelung § 264 c SGB VI) lässt den gesetzgeberischen Willen deutlich erkennen, indem in der Gesetzesbegründung formuliert wird (Bundestags-Drucksache 14/4230 Seite 68): " Vorteile eines längeren Rentenbezuges werden durch einen verminderten Zugangsfaktor ausgeglichen. Um die Wirkung auf die Renten auf erwerbsgeminderte Versicherte und deren Hinterbliebenen zu mildern, wird die Zeit zwischen dem 55. und dem 60. Lebensjahr (Zurechnungszeit), die bisher nur zu 1/3 angerechnet wurde, künftig in vollem Umfang angerechnet."
Das BSG hat jedoch in der Entscheidung vom 16.05.2006 aufgezeigt, dass eine diesem Ziel unterworfene Gesetzesauslegung zu einer verfassungswidrigen Verletzung der Leistungsbezogenheit der Rente (besser Verletzung des Systemversprechens der gesetzlichen Rentenversicherung - vgl. hierzu grundlegend BSG Vorlagebeschluss vom 14.03.2006 - B 4 RA 5/05 R Rn. 182 ff) führen würde. Das Systemversprechen beinhaltet danach die rechtliche Garantie, dass die Vorleistung des Versicherten im Kernsystem der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer rechtlichen Garantie führen muss, dass seine Vorleistung im Leistungsfall nach denselben systemprägenden Grundsätzen berücksichtigt werden. Dies bedeutet keine - systemwidrige - Festschreibung der einzelnen Versicherungsleistungen nach Art und Höhe, wie sie jeweils in der Vorleistungsphase bestanden haben. Das gesetzliche Rentenversicherungsrecht gibt dem Versicherten aber das Vertrauen, schon in der Vorleistungsphase (nach Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen) seine Lebensführung und Lebensplanung auf das Systemversprechen einzustellen.
Die Erwerbsunfähigkeitsrente (seit dem Erwerbsminderungsrenten-Reformgesetz vom 20.12.2000 ab 01.01.2001 die volle Erwerbsminderungsrente) ist seit 1957 nach dem Grundsatz der Vorleistungsbezogenheit als eine Vollrente mit Lohnersatzcharakter ausgestaltet. Dabei ist in der Folgezeit die Funktion dieser Rentenart als Lohnersatzleistung (für die nicht mehr bestehende Erwerbsfähigkeit) durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 verstärkt worden (vgl. hierzu Bundesverfassungsgerichtsbeschluss vom 08.04.1987 - 1 BvR 564/84 und andere). An dieser Grundkonzeption hat das Rentenreformgesetz 1992 für die Zeit ab 01.01.1992 nichts geändert. Gesetzestechnische Mittel zur Realisierung des Systemversprechens, bei Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen im Falle voller Erwerbsminderung eine ausreichende Rente zu gewähren, sind der Zugangsfaktor 1,0 (a) und die Berücksichtigung von Zurechnungszeiten als rentenrechtliche Zeiten (b).
a) Der Zugangsfaktor 1,0 stellt sicher, dass der Wert der Vorleistungen gemessen als Summe der Entgeltpunkte (§ 63 Abs. 1 bis 3 SGB VI) zur vollen Anrechnung kommt. Von diesem Systemversprechen, den vollen Wert der Vorleistung bei der Rentenhöhe zu berücksichtigen, kann abgewichen werden, wenn besondere, im Gesetz ausdrücklich ausgestaltete und verfassungsgemäße Sachgründe es ausnahmsweise erlauben (BSG vom 16.05.2006 Rn 16). Maßgebender Prüfungsmaßstab ist dabei die Frage, ob eine Minderung des Zugangsfaktors für Vorleistungen des erwerbsgeminderten Versicherten zu einer gleichheitswidrigen Inhaltsbestimmung des Renteneigentums im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG führt. Soweit in Literatur und Rechtsprechung im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Prüfung im Rahmen des Art. 14 GG auf eine Teilkompensation durch eine verbesserte Anrechnung der Zurechnungszeiten durch das Erwerbsminderungs- Reformgesetz verwiesen wird (vgl. z.B. Plagemann am angeführten Ort), ist zu beachten, dass selbst das Fehlen einer (wesentlichen) Substanzbeeinträchtigung nicht ausschließt, dass der Vermögenswert des eigentumsgeschützten Vollrechts zum Nachteil des Rechtsinhabers unter Verstoß gegen seine Grundrechte auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG) ausgestaltet ist. Eine gleichheitswidrige Zuweisung von subjektiv öffentlichen Rechten verletzt das Recht eines jeden Versicherten auf Gleichheit vor dem Gesetz (vgl. oben genannten Vorlagebeschluss des BSG vom 14.03.2006 Rn 220 ff).
Das Erwerbsminderungsrenten-Reformgesetz lässt, jedenfalls sofern sein Anwendungsbereich auf unter 60-jährige Erwerbsminderungs-Rentner unterstellt wird, keine ausreichenden Sachgründe erkennen, deren Vorleistung geringer zu bewerten. Ausreichende Sachgründe liegen vor, soweit eine gegenüber der nach dem Gesetz "normalen" Inanspruchnahme einer Rente "vorzeitige" Inanspruchnahme mit individuellem Vermögensvorteil im Vergleich zu "Normal-Rentnern" mit gleicher Vorleistung erfolgt, so dass die Nicht-Berücksichtigung eines Teils der Vorleistung zum Ausgleich dieser ungerechtfertigten, systemwidrigen Vermögensvorteile notwendig ist. Hingegen ist die auch lang dauernde Inanspruchnahme der nach dem Gesetz geschuldeten Versicherungsleistung kein "Vorteil" und keine "unterschiedliche Rentenbezugsdauer". Das Rentenreformgesetz 1992 hat die teilweise Nicht-Berücksichtigung der Vorleistung des Versicherten technisch mittels Absenkung des Zugangsfaktors nur zur Abschmelzung systemwidriger und ungerechtfertigter Vermögensvorteile bei Altersrenten eingeführt. Gemäß § 63 Abs. 5 SGB VI in der Fassung des Rentenreformgesetzes 1992 sollten "bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente" Vorteile einer unterschiedlichen (längeren) Rentenbezugsdauer durch einen (niedrigeren) Zugangsfaktor vermieden werden. Damit wurde eine systemwidrige und rechtsgrundlose vermögensrechtliche Besserstellung eines Teils der frühzeitigen, nämlich nur der "vorzeitigen" Altersrentner gegenüber den Regel-Altersrentnern mit gleicher Vorleistung abgeschafft. Hingegen bestätigte § 77 Abs. 1 Nr. 1 - 3 SGB VI in der Fassung des Rentenreformgesetzes 1992 bei Rechten auf Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, wegen Todes und wegen Alters, die mit Ablauf des 65. Lebensjahres beginnen, aber auch bei den sonstigen frühzeitigen Altersrenten, ausdrücklich, dass die individuelle Vorleistung des Versicherten weiterhin voll anzurechnen ist (technisch: Zugangsfaktor 1,0).
Für den Bereich der Erwerbsminderungsrenten realisiert sich das Versicherungsrisiko, sofern die sonstigen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, mit dem Eintritt des Leistungsfalles. Ein vorzeitiger Rentenbezug ist daher für den Versicherungsfall der Erwerbsminderung grundsätzlich nicht gegeben. Die Gewährung der vollen Leistung bei Eintritt des Versicherungsfalls ist vielmehr das typische Merkmal einer jeden Versicherung (vgl. Verbandskommentar § 59 SGB VI mit weiteren Nachweisen).
Die Zielsetzung des Erwerbsminderungsrenten- Reformgesetzes, eine Ausweichreaktion von Versicherten zu vermeiden, die anstelle der (systemgerecht) mit Abschlägen versehenen vorgezogenen Altersrente die Erwerbsminderungsrente beantragen, kann für den Jahrgang des Klägers jedenfalls nicht zutreffen. Für unter 60-Jährige Versicherte kommt eine vorgezogene Altersrente nicht in Betracht. Ob die vom Gesetz verfolgte Zielsetzung für erwerbsgeminderte Versicherte ab 60 Jahre eine Minderung des Zugangsfaktors rechtfertigt, bedarf hier keiner Entscheidung.
b) Die Zurechnungszeit (vgl. § 59 SGB VI) ist seit 1957 (Vorgängerregelung § 1260 Reichsversicherungsordnung) eine rentenrechtliche Zeit, die den Zweck hat, den Versicherten im Fall der vorzeitigen Invalidität (gegenüber dem Versicherungsfall des Alters) eine ausreichende Rente (als Lohnersatz) zu gewährleisten. Dieser Ausgleich hätte theoretisch auch in anderer Weise erfolgen können, z. B. durch Erhöhung der aus den zurückgelegten Zeiten berechneten Rente um einen Zuschlag. Die vom Gesetzgeber gewählte Ausgestaltung der Zurechnungszeit als rentenrechtliche Zeit beinhaltet eine Sonderstellung im Vergleich zu anderen rentenrechtlichen Zeiten, denn sie ist keine Zeit, die an eine Beitragszahlung oder an einen sonstigen Tatbestand in der Vergangenheit (wie z.B. Kindererziehung, Ausbildung, Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit) anknüpft. Ausgehend von der Funktion der Zurechnungszeit, die volle Leistung bei Eintritt des Leistungsfalles der vollen Erwerbsminderung zu gewährleisten, entspricht die Zurechnungszeit als rentenrechtliche Zeit dem Versicherungs- und Äquivalenzprinzip (vgl. Verbandskommentar § 59 SGB VI).Sie ist Ausdruck des Systemversprechens, eine Benachteiligung von Frühinvaliden zu vermeiden (vgl. z.B. Begründung im Gesetzgebungsverfahren zum Rentenreformgesetz 1992 - BT Drucksache 11/5530, 43).Dabei wurde der Umfang der Zurechnungszeit bei der Rentenreform 1957 zunächst bis zum 55. Lebensjahr erstreckt, um den vorzeitig invalide werdenden Versicherten so zu stellen, als sei seine Invalidität erst zu dem Zeitpunkt eingetreten, in dem mit dem Eintritt von Invalidität auch bei einem normalen Verlauf des Arbeitslebens gerechnet werden müsse (BT Drucksache 2/2437, 74). Für die Erweiterung des Umfangs der Zurechnungszeit mit dem Rentenreformgesetz 1992 auf das 60. Lebensjahr waren Überlegungen maßgebend, insoweit eine stärkere Vereinheitlichung mit den Regelungen der Beamtenversorgung zu erreichen (BT Drucksache 11/5530, 43), wobei die Anrechnung der zusätzlichen Zurechnungszeit zwischen dem 55. und 60. Lebensjahr auf 1/3 begrenzt wurde. Die mit dem Erwerbsminderungsrenten-Reformgesetz ab 01.01.2001 eingeführte volle Anrechnung verfolgte das Ziel, die Wirkung der (mit dem gleichen Gesetz beabsichtigten) Rentenabschläge durch einen verminderten Zugangsfaktor für erwerbsgeminderte Versicherte abzumildern (BT Drucksache 14, 4230, 26).
Die Rechtsentwicklung des Umfangs der Zurechnungszeit und ihrer Anrechnung zeigt, dass dem Gesetzgeber in der Ausgestaltung der Zurechnungszeit ein Gestaltungsspielraum zusteht, der sich von der Bewertung entrichteter Beiträge deutlich abhebt. Erst die Verquickung der Bewertung der Ausfallzeit mit der Minderung des Zugangsfaktors stellt sich als problematisch und unvereinbar mit dem Systemgrundsatz dar, in Entgeltpunkte umgerechnete und die Gesamtleistungsbewertung (§§ 64 ff SGB VI) eingestellte Vorleistungen nach einem gleichen Maßstab zu bewerten. Mit der Einbeziehung der für die Zurechnungszeit ermittelten Entgeltpunkte in die Gesamtleistungsbewertung ist sie Teil der grundsätzlich - und zwar aus Gründen der verfassungsmäßig gebotenen Gleichbehandlung (vgl. oben) - nach einem einheitlichen Faktor zu berücksichtigenden Vorleistung geworden.
Die gegen diese Rechtsansicht vorgetragene Kritik (z. B. Plagemann aaO), die Zurechungszeit werde verfassungsrechtlich einer Beitrags-Eigenleistung gleichgestellt und unter den engen Schutz des Art. 14 GG gestellt, greift daher nicht durch. Der Gesetzgeber hat es vielmehr, wie die Rechtsentwicklung der Zurechnungszeit zeigt, in der Hand, den Umfang der Zurechnungszeit und das Ausmaß ihrer Anrechnung in den Grenzen festzulegen, die sich aus dem oben dargelegten Systemversprechen der gesetzlichen Rentenversicherung ergeben. Dabei kann er im Rahmen seines Gestaltungsspielraumes im Hinblick auf die stufenweise Anhebung des Renteneintrittalters auf 67 Jahre (Rentenversicherungs-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.04.2007 - BGBl, 554 ff) und der damit angestrebten Verlängerung der Normal-Lebensarbeitszeit durchaus zu dem (sozialpolitischen) Ergebnis kommen, dass die mit dem Erwerbsminderungsrenten-Reformgesetz geregelte Verbesserung eine systemgerechte Weiterentwicklung unabhängig von der Frage der Abschläge vom Zugangsfaktor für Rentenzugänge vor dem 60. Lebensjahr darstellt.
Zusammenfassend bleibt damit festzustellen, dass die vom Gesetzgeber verfolgte Abschlagsregelung für Erwerbsminderungsrenten vor dem 60. Lebensjahr ein verfassungswidriges Ergebnis zur Folge hätte. Bei der nach dem Gesetzeswortlaut des § 77 SGB VI gegebenen Auslegungsalternative ist daher nach dem Grundsatz verfassungsgemäßer Auslegung der hier dargelegten Auslegung der Vorrang einzuräumen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er der hier streitigen Rechtsfrage nicht zuletzt angesichts der anhaltenden Diskussion auch in der Rechtsprechung um die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 16.05.2006 grundsätzliche Bedeutung zugemessen hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Beklagte dem Kläger volle Erwerbsminderungsrente nach einem verminderten Zugangsfaktor gewähren darf.
Der Kläger ist am 00.00.1963 geboren. Auf seinen Rentenantrag hin bewilligte die Beklagte ihm Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.05.2002 bis zum 31.12.2004 unter Zugrundelegung eines Leistungsfalles vom 17.10.2001 (Bescheid vom 27.06.2003). Der Rentenberechnung legte sie 11,4059 Entgeltpunkte für Beitragszeiten, außerdem eine Zurechnungszeit vom 01.11.2001 bis zum 31.07.2021 zu Grunde. Unter Berücksichtigung eines für die Zeit vom 01.08.1982 bis 31.05.1999 durchgeführten Versorgungsausgleichs errechnete die Beklagte insgesamt 21,3458 Entgeltpunkte. Den Zugangsfaktor von 1,0 verminderte sie für jeden Kalendermonat nach dem 30.11.2024 bis zum Ablauf des Kalendermonats nach Vollendung des 63. Lebensjahres (am 05.04.2026) um 0,003, d.h. um 0,051. Bei einem Zugangsfaktor von 0,949 nahm sie daher 20,2572 persönliche Entgeltpunkte an. Diese vervielfältigte sie mit dem aktuellen Rentenwert. Auf diese Weise errechnete sie ab dem01.05.2002 einen monatlichen Rentenzahlbetrag von 512,79 EUR brutto bzw. 474,08 EUR netto.
"Gegen die Höhe der Rente" erhob der Kläger mit Schreiben vom 21.07.2003 Widerspruch und führte aus, sein Bruttoverdienst könne nicht vollständig berücksichtigt worden sein. Die Beklagte "half" dem Widerspruch des Klägers insofern "ab", als sie ihm Rente auf Dauer ab dem 01.11.2001 gewährte (Bescheid vom 25.03.2004). Unter Zugrundelegung von nunmehr 20,8242 Entgeltpunkten, einer Zurechnungszeit von 231 Monaten (01.11.2001 bis 31.01.2021), einem Zugangsfaktor von 0,967 (maßgebende Zeit: 31.05.2025 bis 05.04.2026) und dementsprechend reduzierten 20,1370 Entgeltpunkten errechnete sich ein Rentenhöchstwert von 526,18 EUR brutto bzw. 480,66 EUR netto monatlich. Mit Widerspruchsbescheid vom 17.05.2005 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen die Bescheide vom 27.06.2003 und 25.03.2004 zurück. Nachdem der Kläger trotz Aufforderung keine konkreten Beanstandungen hinsichtlich der Bescheide mitgeteilt habe, sei nach Aktenlage über die Rechtmäßigkeit zu entscheiden gewesen. Dabei habe sich insbesondere nicht ergeben, dass Versicherungszeiten nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt worden seien.
Mit der Klage hat der Kläger gerügt, bei seiner Rente seien "nicht alle Beitrags- und Ausfallzeiten" berücksichtigt worden. Die seiner Auffassung nach fehlenden Zeiten hat er nicht präzisiert, sodass das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen hat (Gerichtsbescheid vom 16.11.2006).
Hiergegen richtet sich die Berufung, mit der der Kläger unter Berufung auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.05.2006 (B 4 RA 22/05 R) die nach seiner Auffassung unzulässige Verminderung des Zugangsfaktors rügt und zudem meint, die Bewertung der beitragsfreien Zeiten in der Zurechnungszeit sei nicht korrekt vorgenommen worden.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 16.11.2006 sowie die Bescheide der Beklagten vom 27.06.2003 und 25.03.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.205 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.11.2001 unter Zugrundelegung eines unverminderten Zugangsfaktors von 1,0 zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angegriffenen Bescheide für rechtmäßig und teilt mit, dass sie der Entscheidung des BSG vom 16.05.2006 nicht folge. Zudem sei die Rüge des zu geringen Zugangsfaktors in unzulässiger Weise erstmals im Berufungsverfahren zum Verfahrensgegenstand gemacht worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Rentenakten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind insoweit rechtswidrig, als die Beklagte dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung mit einem Zugangsfaktor gewährt hat, der niedriger als 1,0 ist. Der Kläger kann die Gewährung dieser Rente ab dem 01.11.2001 nach einem ungekürzten Zugangsfaktor verlangen.
Es ist dem Kläger nicht aus prozessualen Gründen verwehrt, sich erst in der Berufungsinstanz darauf zu berufen, die Beklagte habe seiner Rente einen unzutreffenden Zugangsfaktor zugrunde gelegt. Der Kläger hat von Beginn des Widerspruchsverfahrens an die unzutreffende Höhe des Rentenzahlbetrages gerügt. Die Begründung hierfür hat immer wieder geschwankt. Es lässt sich dabei nicht feststellen, dass einzelne Feststellungen der Beklagten im Rahmen der Rentenberechnung in Bestandskraft (§ 77 SGG) erwachsen wären. Dies gilt in Sonderheit für den von der Beklagten angewandten Zugangsfaktor.
Die Beklagte kann sich nicht auf eine Rechtsgrundlage stützen, die ihr eine entsprechende Kürzung von Erwerbsminderungsrenten von Versicherten gestattet, die zum Zeitpunkt des Leistungsfalles das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Die von der Beklagten herangezogene Ermächtigungsgrundlage des § 77 SGB VI rechtfertigt nicht in der erforderlichen Bestimmtheit einen Rentenabschlag für Fälle, in denen die Erwerbsminderungsrente vor dem 60. Lebensjahr gewährt wird. Ein vorzeitiger Rentenbezug, der Abschläge beim Zugangsfaktor rechtfertigt (vgl. §§ 63 Abs. 5, 77 Abs. 1 SGB VI), liegt nicht vor. § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI regelt vielmehr ausdrücklich, dass die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt. Diese gesetzliche Klarstellung steht im unmittelbaren Kontext zur Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI, die den frühesten Beginn der Vorzeitigkeit - wie bei Altersrenten - auf die Vollendung des 60. Lebensjahres festlegt. Damit schließt das Gesetz dem Wortlaut nach ausdrücklich einen verringerten Zugangsfaktor (Rentenabschlag) für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres aus. Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres werden demnach vom Gesetz gerade nicht als Zeiten eines "vorzeitigen Rentenbezugs" bestimmt, in dem "Vorteile aus einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer" entstehen. Daher sieht auch § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB VI in der Fassung des Erwerbsminderungs- Reformgesetzes eine Erhöhung des Zugangsfaktors wegen Nichtinanspruchnahme einer "vorzeitigen" Erwerbsminderungsrente nur für die Monate zwischen der Vollendung des 60. und des 63. Lebensjahres vor. Für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres, bei denen ein Ausweichen vor den Abschlägen bei vorzeitigen Altersrenten schlechthin nicht in Betracht kommt, ordnet das Gesetz also ausdrücklich an, dass keine unterschiedliche (längere) Rentenbezugsdauer im Vergleich zu den 63- bis 65-jährigen Erwerbsminderungsrentnern und kein zu vermeidender Vorteil im Sinne des § 63 Abs. 5 SGB VI in der Fassung des Erwerbsminderungs-Reformgesetzes vorliegt, zumal Rechte auf Erwerbsminderungsrenten grundsätzlich nur auf Zeit und auf längstens 3 Jahre bestehen (§ 102 Abs. 2 SGB VI).
Der Senat schließt sich dieser im Urteil des BSG vom 16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R - vertretenen Auslegung an.
Die hiergegen von der Beklagten und in Literatur (vgl. u. a. Plagemann, Anmerkung zum vorgenannten BSG - Urteil in Juris-Praxis-Report vom 05.10.2006; von Koch/Kolakowski, der Zugangsfaktor bei Renten wegen Erwerbsminderung, Sozialgerichtsbarkeit 2007, Seite 71 ff.) und Rechtssprechung (LSG Niedersachsen - Bremen, Beschluss vom 13.12.2006 - L 2 R 466/06 ER - ; SG Aachen Urteil vom 09.02.2007 - S 8 R 96/06) vorgebrachte Kritik überzeugt den Senat nicht.
Soweit die Beklagte aus dem Regelungszusammenhang des § 77 SGB VI den Schluss zieht, Sinn und Zweck der Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI sei die Ergänzung des § 77 Abs. 3 SGB VI, da den detaillierten Regelungen zur Berechnung des Zugansfaktors bei (vor dem 60. Lebensjahr bezogenen) Erwerbsminderungsrenten ein sinnvoller Anwendungsbereich eröffnet werde, begegnet diese Auslegung durchgreifenden Bedenken. Abgesehen von dem gesetzessystematischen Argument, dass die Regelung, die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme greifen zu lassen in Abs. 2 und nicht in Abs. 3 der Vorschrift aufgenommen worden ist, führt die von der Beklagten vertretenen Auslegung zu einem mit der Verfassung nicht zu vereinbarenden Ergebnis.
Dabei kann der Senat der Kritik an den Ausführungen des BSG, es gebe keine Äußerung des Gesetzgebers, dass Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Rechtsinhabers begonnen haben, auch für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres gekürzt werden dürfen, zwar durchaus folgen. Insbesondere die Begründung für die mit dem Erwerbsminderungsrenten- Reformgesetz eingeführte Anrechnung der Zurechnungszeit (vgl. § 59 SGB VI, Übergangsregelung § 264 c SGB VI) lässt den gesetzgeberischen Willen deutlich erkennen, indem in der Gesetzesbegründung formuliert wird (Bundestags-Drucksache 14/4230 Seite 68): " Vorteile eines längeren Rentenbezuges werden durch einen verminderten Zugangsfaktor ausgeglichen. Um die Wirkung auf die Renten auf erwerbsgeminderte Versicherte und deren Hinterbliebenen zu mildern, wird die Zeit zwischen dem 55. und dem 60. Lebensjahr (Zurechnungszeit), die bisher nur zu 1/3 angerechnet wurde, künftig in vollem Umfang angerechnet."
Das BSG hat jedoch in der Entscheidung vom 16.05.2006 aufgezeigt, dass eine diesem Ziel unterworfene Gesetzesauslegung zu einer verfassungswidrigen Verletzung der Leistungsbezogenheit der Rente (besser Verletzung des Systemversprechens der gesetzlichen Rentenversicherung - vgl. hierzu grundlegend BSG Vorlagebeschluss vom 14.03.2006 - B 4 RA 5/05 R Rn. 182 ff) führen würde. Das Systemversprechen beinhaltet danach die rechtliche Garantie, dass die Vorleistung des Versicherten im Kernsystem der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer rechtlichen Garantie führen muss, dass seine Vorleistung im Leistungsfall nach denselben systemprägenden Grundsätzen berücksichtigt werden. Dies bedeutet keine - systemwidrige - Festschreibung der einzelnen Versicherungsleistungen nach Art und Höhe, wie sie jeweils in der Vorleistungsphase bestanden haben. Das gesetzliche Rentenversicherungsrecht gibt dem Versicherten aber das Vertrauen, schon in der Vorleistungsphase (nach Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen) seine Lebensführung und Lebensplanung auf das Systemversprechen einzustellen.
Die Erwerbsunfähigkeitsrente (seit dem Erwerbsminderungsrenten-Reformgesetz vom 20.12.2000 ab 01.01.2001 die volle Erwerbsminderungsrente) ist seit 1957 nach dem Grundsatz der Vorleistungsbezogenheit als eine Vollrente mit Lohnersatzcharakter ausgestaltet. Dabei ist in der Folgezeit die Funktion dieser Rentenart als Lohnersatzleistung (für die nicht mehr bestehende Erwerbsfähigkeit) durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 verstärkt worden (vgl. hierzu Bundesverfassungsgerichtsbeschluss vom 08.04.1987 - 1 BvR 564/84 und andere). An dieser Grundkonzeption hat das Rentenreformgesetz 1992 für die Zeit ab 01.01.1992 nichts geändert. Gesetzestechnische Mittel zur Realisierung des Systemversprechens, bei Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen im Falle voller Erwerbsminderung eine ausreichende Rente zu gewähren, sind der Zugangsfaktor 1,0 (a) und die Berücksichtigung von Zurechnungszeiten als rentenrechtliche Zeiten (b).
a) Der Zugangsfaktor 1,0 stellt sicher, dass der Wert der Vorleistungen gemessen als Summe der Entgeltpunkte (§ 63 Abs. 1 bis 3 SGB VI) zur vollen Anrechnung kommt. Von diesem Systemversprechen, den vollen Wert der Vorleistung bei der Rentenhöhe zu berücksichtigen, kann abgewichen werden, wenn besondere, im Gesetz ausdrücklich ausgestaltete und verfassungsgemäße Sachgründe es ausnahmsweise erlauben (BSG vom 16.05.2006 Rn 16). Maßgebender Prüfungsmaßstab ist dabei die Frage, ob eine Minderung des Zugangsfaktors für Vorleistungen des erwerbsgeminderten Versicherten zu einer gleichheitswidrigen Inhaltsbestimmung des Renteneigentums im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG führt. Soweit in Literatur und Rechtsprechung im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Prüfung im Rahmen des Art. 14 GG auf eine Teilkompensation durch eine verbesserte Anrechnung der Zurechnungszeiten durch das Erwerbsminderungs- Reformgesetz verwiesen wird (vgl. z.B. Plagemann am angeführten Ort), ist zu beachten, dass selbst das Fehlen einer (wesentlichen) Substanzbeeinträchtigung nicht ausschließt, dass der Vermögenswert des eigentumsgeschützten Vollrechts zum Nachteil des Rechtsinhabers unter Verstoß gegen seine Grundrechte auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG) ausgestaltet ist. Eine gleichheitswidrige Zuweisung von subjektiv öffentlichen Rechten verletzt das Recht eines jeden Versicherten auf Gleichheit vor dem Gesetz (vgl. oben genannten Vorlagebeschluss des BSG vom 14.03.2006 Rn 220 ff).
Das Erwerbsminderungsrenten-Reformgesetz lässt, jedenfalls sofern sein Anwendungsbereich auf unter 60-jährige Erwerbsminderungs-Rentner unterstellt wird, keine ausreichenden Sachgründe erkennen, deren Vorleistung geringer zu bewerten. Ausreichende Sachgründe liegen vor, soweit eine gegenüber der nach dem Gesetz "normalen" Inanspruchnahme einer Rente "vorzeitige" Inanspruchnahme mit individuellem Vermögensvorteil im Vergleich zu "Normal-Rentnern" mit gleicher Vorleistung erfolgt, so dass die Nicht-Berücksichtigung eines Teils der Vorleistung zum Ausgleich dieser ungerechtfertigten, systemwidrigen Vermögensvorteile notwendig ist. Hingegen ist die auch lang dauernde Inanspruchnahme der nach dem Gesetz geschuldeten Versicherungsleistung kein "Vorteil" und keine "unterschiedliche Rentenbezugsdauer". Das Rentenreformgesetz 1992 hat die teilweise Nicht-Berücksichtigung der Vorleistung des Versicherten technisch mittels Absenkung des Zugangsfaktors nur zur Abschmelzung systemwidriger und ungerechtfertigter Vermögensvorteile bei Altersrenten eingeführt. Gemäß § 63 Abs. 5 SGB VI in der Fassung des Rentenreformgesetzes 1992 sollten "bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente" Vorteile einer unterschiedlichen (längeren) Rentenbezugsdauer durch einen (niedrigeren) Zugangsfaktor vermieden werden. Damit wurde eine systemwidrige und rechtsgrundlose vermögensrechtliche Besserstellung eines Teils der frühzeitigen, nämlich nur der "vorzeitigen" Altersrentner gegenüber den Regel-Altersrentnern mit gleicher Vorleistung abgeschafft. Hingegen bestätigte § 77 Abs. 1 Nr. 1 - 3 SGB VI in der Fassung des Rentenreformgesetzes 1992 bei Rechten auf Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, wegen Todes und wegen Alters, die mit Ablauf des 65. Lebensjahres beginnen, aber auch bei den sonstigen frühzeitigen Altersrenten, ausdrücklich, dass die individuelle Vorleistung des Versicherten weiterhin voll anzurechnen ist (technisch: Zugangsfaktor 1,0).
Für den Bereich der Erwerbsminderungsrenten realisiert sich das Versicherungsrisiko, sofern die sonstigen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, mit dem Eintritt des Leistungsfalles. Ein vorzeitiger Rentenbezug ist daher für den Versicherungsfall der Erwerbsminderung grundsätzlich nicht gegeben. Die Gewährung der vollen Leistung bei Eintritt des Versicherungsfalls ist vielmehr das typische Merkmal einer jeden Versicherung (vgl. Verbandskommentar § 59 SGB VI mit weiteren Nachweisen).
Die Zielsetzung des Erwerbsminderungsrenten- Reformgesetzes, eine Ausweichreaktion von Versicherten zu vermeiden, die anstelle der (systemgerecht) mit Abschlägen versehenen vorgezogenen Altersrente die Erwerbsminderungsrente beantragen, kann für den Jahrgang des Klägers jedenfalls nicht zutreffen. Für unter 60-Jährige Versicherte kommt eine vorgezogene Altersrente nicht in Betracht. Ob die vom Gesetz verfolgte Zielsetzung für erwerbsgeminderte Versicherte ab 60 Jahre eine Minderung des Zugangsfaktors rechtfertigt, bedarf hier keiner Entscheidung.
b) Die Zurechnungszeit (vgl. § 59 SGB VI) ist seit 1957 (Vorgängerregelung § 1260 Reichsversicherungsordnung) eine rentenrechtliche Zeit, die den Zweck hat, den Versicherten im Fall der vorzeitigen Invalidität (gegenüber dem Versicherungsfall des Alters) eine ausreichende Rente (als Lohnersatz) zu gewährleisten. Dieser Ausgleich hätte theoretisch auch in anderer Weise erfolgen können, z. B. durch Erhöhung der aus den zurückgelegten Zeiten berechneten Rente um einen Zuschlag. Die vom Gesetzgeber gewählte Ausgestaltung der Zurechnungszeit als rentenrechtliche Zeit beinhaltet eine Sonderstellung im Vergleich zu anderen rentenrechtlichen Zeiten, denn sie ist keine Zeit, die an eine Beitragszahlung oder an einen sonstigen Tatbestand in der Vergangenheit (wie z.B. Kindererziehung, Ausbildung, Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit) anknüpft. Ausgehend von der Funktion der Zurechnungszeit, die volle Leistung bei Eintritt des Leistungsfalles der vollen Erwerbsminderung zu gewährleisten, entspricht die Zurechnungszeit als rentenrechtliche Zeit dem Versicherungs- und Äquivalenzprinzip (vgl. Verbandskommentar § 59 SGB VI).Sie ist Ausdruck des Systemversprechens, eine Benachteiligung von Frühinvaliden zu vermeiden (vgl. z.B. Begründung im Gesetzgebungsverfahren zum Rentenreformgesetz 1992 - BT Drucksache 11/5530, 43).Dabei wurde der Umfang der Zurechnungszeit bei der Rentenreform 1957 zunächst bis zum 55. Lebensjahr erstreckt, um den vorzeitig invalide werdenden Versicherten so zu stellen, als sei seine Invalidität erst zu dem Zeitpunkt eingetreten, in dem mit dem Eintritt von Invalidität auch bei einem normalen Verlauf des Arbeitslebens gerechnet werden müsse (BT Drucksache 2/2437, 74). Für die Erweiterung des Umfangs der Zurechnungszeit mit dem Rentenreformgesetz 1992 auf das 60. Lebensjahr waren Überlegungen maßgebend, insoweit eine stärkere Vereinheitlichung mit den Regelungen der Beamtenversorgung zu erreichen (BT Drucksache 11/5530, 43), wobei die Anrechnung der zusätzlichen Zurechnungszeit zwischen dem 55. und 60. Lebensjahr auf 1/3 begrenzt wurde. Die mit dem Erwerbsminderungsrenten-Reformgesetz ab 01.01.2001 eingeführte volle Anrechnung verfolgte das Ziel, die Wirkung der (mit dem gleichen Gesetz beabsichtigten) Rentenabschläge durch einen verminderten Zugangsfaktor für erwerbsgeminderte Versicherte abzumildern (BT Drucksache 14, 4230, 26).
Die Rechtsentwicklung des Umfangs der Zurechnungszeit und ihrer Anrechnung zeigt, dass dem Gesetzgeber in der Ausgestaltung der Zurechnungszeit ein Gestaltungsspielraum zusteht, der sich von der Bewertung entrichteter Beiträge deutlich abhebt. Erst die Verquickung der Bewertung der Ausfallzeit mit der Minderung des Zugangsfaktors stellt sich als problematisch und unvereinbar mit dem Systemgrundsatz dar, in Entgeltpunkte umgerechnete und die Gesamtleistungsbewertung (§§ 64 ff SGB VI) eingestellte Vorleistungen nach einem gleichen Maßstab zu bewerten. Mit der Einbeziehung der für die Zurechnungszeit ermittelten Entgeltpunkte in die Gesamtleistungsbewertung ist sie Teil der grundsätzlich - und zwar aus Gründen der verfassungsmäßig gebotenen Gleichbehandlung (vgl. oben) - nach einem einheitlichen Faktor zu berücksichtigenden Vorleistung geworden.
Die gegen diese Rechtsansicht vorgetragene Kritik (z. B. Plagemann aaO), die Zurechungszeit werde verfassungsrechtlich einer Beitrags-Eigenleistung gleichgestellt und unter den engen Schutz des Art. 14 GG gestellt, greift daher nicht durch. Der Gesetzgeber hat es vielmehr, wie die Rechtsentwicklung der Zurechnungszeit zeigt, in der Hand, den Umfang der Zurechnungszeit und das Ausmaß ihrer Anrechnung in den Grenzen festzulegen, die sich aus dem oben dargelegten Systemversprechen der gesetzlichen Rentenversicherung ergeben. Dabei kann er im Rahmen seines Gestaltungsspielraumes im Hinblick auf die stufenweise Anhebung des Renteneintrittalters auf 67 Jahre (Rentenversicherungs-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.04.2007 - BGBl, 554 ff) und der damit angestrebten Verlängerung der Normal-Lebensarbeitszeit durchaus zu dem (sozialpolitischen) Ergebnis kommen, dass die mit dem Erwerbsminderungsrenten-Reformgesetz geregelte Verbesserung eine systemgerechte Weiterentwicklung unabhängig von der Frage der Abschläge vom Zugangsfaktor für Rentenzugänge vor dem 60. Lebensjahr darstellt.
Zusammenfassend bleibt damit festzustellen, dass die vom Gesetzgeber verfolgte Abschlagsregelung für Erwerbsminderungsrenten vor dem 60. Lebensjahr ein verfassungswidriges Ergebnis zur Folge hätte. Bei der nach dem Gesetzeswortlaut des § 77 SGB VI gegebenen Auslegungsalternative ist daher nach dem Grundsatz verfassungsgemäßer Auslegung der hier dargelegten Auslegung der Vorrang einzuräumen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er der hier streitigen Rechtsfrage nicht zuletzt angesichts der anhaltenden Diskussion auch in der Rechtsprechung um die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 16.05.2006 grundsätzliche Bedeutung zugemessen hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
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