L 9 AL 119/07

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 5 AL 244/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AL 119/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 27.09.2007 wird zurückgewiesen. Die Beklagte wird unter Änderung der Bescheide vom 11.07.2005 und 22.03. 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2006 verurteilt, der Klägerin ab dem 25.06.2005 Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung eines täglichen Bemessungsentgelts von 64,40 Euro zu zahlen. Die Beklagte hat der Klägerin auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des der Klägerin ab dem 25.06.2005 zustehenden Arbeitslosengeldes.

Die Klägerin (ledig, Steuerklasse I) schloss am 24.06.2005 ihre am 13.08.2001 begonnene Ausbildung zur Orthopädiemechanikerin und Bandagistin im Berufsbildungswerk C mit dem Gesellenbrief erfolgreich ab. Während der Ausbildung erhielt sie ab dem 01.02.2003 Ausbildungsgeld i. H. v. monatlich 93,00 Euro nach § 105 Abs. 1 Nr. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) sowie Kosten für Familienheimfahrten.

Die Klägerin meldete sich am 27.06.2005 mit Wirkung zum 25.06.2005 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Mit Bescheid vom 11.07.2005 bewilligte ihr die Beklagte Arbeitslosengeld entsprechend der damaligen Weisungslage nach einem Bemessungsentgelt i. H. v. 20% der monatlichen Bezugsgröße ab dem 25.06.2005. Der tägliche Leistungssatz betrug danach 7,50 Euro.

Hiergegen legte die Klägerin am 22.07.2005 Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, die von der Beklagten gewählte Bemessungsgrundlage entspreche nicht dem Verdienst eines Orthopädiemechanikers im ersten Jahr. Dieser sei aber richtiger Weise bei der Bemessung als maßgebliches Arbeitsentgelt zugrunde zu legen.

Mit Bescheid vom 22.03.2006 änderte die Beklagte ihren ursprünglichen Bewilligungsbescheid ab und erhöhte den täglichen Leistungssatz unter Zugrundelegung eines Bemes-sungsentgelts von 17,07 Euro auf 8,18 Euro. Hierzu berief sie sich auf ihre geänderte Weisungslage. Danach sei bei Auszubildenden, die während der Ausbildung keinen Anspruch auf Ausbildungsvergütung hatten, das Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, welches vergleichbare Auszubildende, die in Betrieben ausgebildet werden, als tarifliche Ausbildungsvergütung erhalten. Dieser Bescheid werde Gegenstand des anhängigen Widerspruchsverfahrens.

Auch gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 24.04.2006 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 02.05.2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Er sei nach Erteilung des Änderungsbescheides vom 22.03.2006 unbegründet. Für die Bemessung des Arbeitslosengeldes sei das durchschnittliche beitragspflichtige Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt habe. Da die Klägerin während des Bemessungszeitraums kein Arbeitsentgelt erzielt habe, sei ihr Arbeitslosengeld gemäß der ab dem 20.07.2005 geänderten Weisungslage rückwirkend nach dem Einkommen, das vergleichbare betriebliche Auszubildende als tarifliche Ausbildungsvergütung erzielen, zu bemessen. Hingegen existiere keine Rechtsgrundlage, wonach die Vergütung eines Orthopädiemechanikers im ersten Gesellenjahr als Bemessungsgrundlage herangezogen werden könne.

Hiergegen hat die Klägerin am 26.05.2006 Klage erhoben und ihr Begehren weiter verfolgt.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 11.07.2005, geändert durch Bescheid vom 23.03.2006, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.05.2006 dahingehend abzuändern, dass bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes das tatsächliche Bemessungsentgelt auf 64,40 Euro festgesetzt wird.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid Bezug genommen.

Mit Urteil vom 27.09.2007 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 11.07.2005, geändert durch den Bescheid vom 23.03.2006, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.05.2006 verurteilt, bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes ein Bemessungsentgelt von täglich 64,40 Euro festzusetzen. Es hat § 132 SGB III für anwendbar gehalten. Diese Vorschrift habe der Gesetzgeber für Fälle geschaffen, in denen der Arbeitslose zwar alle Voraussetzungen der §§ 117, 118 SGB III erfülle, aber keinen Anspruch auf Arbeitslosentgelt habe. So liege der Fall hier, weil das von der Klägerin bezogene "Taschengeld" im Gegensatz zu einer Ausbildungsvergütung nicht als Arbeitsentgelt eingestuft werden könne. Das Arbeitsentgelt sei deshalb fiktiv zu bemessen, wobei die Klägerin gemäß § 132 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III in Qualifikationsgruppe 3 einzustufen sei, also das Bemessungsentgelt 1/450 der Bezugsgröße betrage. Dies ergebe ein tägliches Bemessungsentgelt von 64,40 Euro. Hingegen könne die Klägerin nicht so gestellt werden, als habe sie Arbeitsentgelt bezogen. Deshalb sei die Bemessung des Arbeitslosengeldes in Anwendung von § 131 SGB III nicht zutreffend. § 132 SGB III könne auch nicht dahingehend teleologisch reduziert werden, dass die Norm auf Auszubildende ohne Ausbildungsvergütung nicht anwendbar sei.

Gegen dieses ihr am 30.10.2007 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten vom 15.11.2007, mit der sie meint, bei Auszubildenden, die keine Ausbildungsvergütung bezogen haben, fehle für die Bemessung des Arbeitslosengeldes ein gesetzlicher Anknüpfungspunkt. Man habe in Abstimmung mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hierfür aber die Lösung gefunden, dass dasjenige Arbeitsentgelt zugrunde gelegt werde, das vergleichbare betriebliche Auszubildende als tarifliche Ausbildungsvergütung erhielten. Dies sei gerecht, wohingegen in Folge der vom Sozialgericht vorgeschlagenen Lösung Auszubildende ohne Ausbildungsvergütung besser stünden als solche mit Ausbildungsvergütung, was nicht akzeptabel sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts vom 27.09.2007 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält § 132 SGB III für anwendbar. Entgegenstehende Dienstanweisungen der Beklagten stellten demgegenüber kein bindendes Recht dar. Wie § 132 SGB III zeige, habe der Gesetzgeber das Problem einer fiktiven Bemessung auch erkannt, so dass zur von der Beklagten für richtig gehaltenen Lückenfüllung kein Anlass bestehe.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes nimmt der Senat auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Verfahrensgegenstand sind die Bescheide vom 11.07.2005 und 22.03.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2006. Hierbei ist, wie die Beklagte zutreffend erkannt hat, der Bescheid vom 22.03.2006 gemäß § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden.

Die Berufung ist statthaft. Insbesondere ist der Berufungsstreitwert von 500,01 Euro gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG in seiner hier anwendbaren, bis zum 31.03.2008 geltenden Fassung (Gesetz vom 17.08.2001, BGBl. 2001 I, S. 2144) überschritten. Denn streitig ist für 360 Tage ein um insgesamt 6.199,20 Euro höherer Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die angefochtenen Bescheide zu Recht geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Arbeitslosengeld nach einem täglichen Bemessungsentgelt von 64,40 Euro zu zahlen. Zu Recht hat das Sozialgericht die Voraussetzungen der §§ 117 bis 119 und 122 SGB III bejaht. Ebenso hat das Sozialgericht zu Recht ein Versicherungspflichtverhältnis der Klägerin gemäß § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB III bejaht. Auf die insoweit zutreffenden - und im Übrigen von der Beklagten auch nicht angezweifelten - Ausführungen des Sozialgerichts nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug.

Ebenfalls zu Recht hat das Sozialgericht hinsichtlich der Bemessung des der Klägerin ab dem 25.06.2005 zustehenden Arbeitslosengeldes § 132 SGB III für anwendbar gehalten. Die Voraussetzung des § 132 Abs. 1 SGB III liegen vor. Hiernach ist als Bemessungsentgelt ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, wenn ein Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt innerhalb des auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmen nicht festgestellt werden kann. Denn in diesem Bemessungszeitraum, also in der Zeit vom 24.06.2005 bis zum 25.06.2003, hat die Klägerin kein Arbeitsentgelt erzielt, wie auch die Beklagte zutreffend einräumt. Die Klägerin hat lediglich 93,00 Euro monatliches Ausbildungsgeld - nicht aber eine Ausbildungsvergütung - gemäß §§ 97, 98 Abs. 1 Nr. 2, 104, 105 Abs. 1 Nr. 2 SGB III als besondere Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben bezogen. Damit gilt § 132 SGB III in seiner ab dem 01.01.2005 geltenden Fassung, weil es um einen Anspruch auf Arbeitslosengeld ab dem 25.06.2005 geht.

§ 132 SGB III findet nämlich für ab dem 01.01.2005 beginnende Bewilligungsabschnitte sowohl seinem Wortlaut nach als auch gemäß dem Willen des Gesetzgebers (BT-Drs. 15/1515, S. 85 f.) immer dann Anwendung, wenn im zweijährigen Bemessungsrahmen weniger als 150 Tage mit versicherungspflichtigem Arbeitsentgelt enthalten sind. Diese Vorschrift erfasst somit alle Fälle, in denen nicht auf ein aktuelles Arbeitsentgelt zurückgegriffen werden kann (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21.03.2007, Az.: L 2 AL 168/05, Rn. 17). So liegt der Fall hier.

Hingegen ist das der Klägerin zustehende Arbeitsentgelt weder aufgrund der Hälfte des tariflichen "Gesellenlohnes" gemäß § 134 Abs. 2 Nr. 2 SGB III a. F. zu bemessen, noch ist Bemessungsbasis die zuletzt bezogene Ausbildungsvergütung. Dass Grundlage für die Bemessung des Arbeitslosengeldes ab dem 01.01.2005 nicht mehr die Hälfte des tariflichen Gesellenlohnes sein kann, folgt daraus, dass der dies anordnende § 134 Abs. 2 Nr. 2 SGB III mit Ablauf des 31.12.2004 außer Kraft getreten. Ebenso wenig ist das Arbeitslosengeld der Klägerin anhand des sich aus § 134 SGB III ergebenden Rechtsgedankens zu berechnen. Denn nach § 134 Abs. 2 Nr. 2 SGB III war zur Bemessung des Arbeitslosengeldes jeweils ein konkretes tarifliches Arbeitsentgelt zu ermitteln, während die ab dem 01.01.2005 geltenden Neufassung des § 132 SGB III nach dem Willen des Gesetzgebers (BT-Drs. 15/1515, a. a. O.) gerade bewirken soll, dass ein solches Arbeitsentgelt nicht mehr für jeden Einzelfall gesondert ermittelt werden muss, sondern die Berechnung des Bemessungsentgelts der pauschalierenden Regelung des § 132 Abs. 2 SGB III folgt.

Ebenso wenig kann Bemessungsbasis die zuletzt bezogene Ausbildungsvergütung sein, weil es für eine solche Berechnung des Bemessungsentgelts an einer gesetzlichen Grundlage fehlt.

Vielmehr hat der Gesetzgeber die Bemessung des Arbeitslosengeldes mit den Neuregelungen ab dem 01.01.2005 gerade neu konzipieren wollen, weshalb kein Anlass besteht, an bis zum 31.12.2004 geltenden Bemessungsregeln anzuknüpfen. Das Bemessungsentgelt ist demnach gemäß § 132 SGB III unter Zugrundelegung des nach Abs. 2 pauschalierend zu ermittelnden fiktiven Arbeitsentgelts zu berechnen. Hiernach ist für die Festsetzung des fiktiven Arbeitsentgelts der Arbeitslose der Qualifikationsgruppe zuzuordnen, die der beruflichen Qualifikation entspricht, die für die Beschäftigung erforderlich ist, auf die die Agentur für Arbeit die Vermittlungsbemühung für den Arbeitslosen in erster Linie zu erstrecken hat. Damit sind nur diejenigen Tätigkeiten für die fiktive Bemessung relevant, mit denen der Arbeitslose bestmöglich in den Arbeitsmarkt wieder eingegliedert werden kann (Behrend in Eicher/Schlegel, Kommentar zum SGB III, 62. Ergänzung/Januar 2006, Rn. 32 zu § 132 SGB III).

Wie das Sozialgericht zutreffend erkannt hat, ist der Bemessung des Arbeitslosengeldes gemäß § 132 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 SGB III ein Arbeitsentgelt i. H. v. 1/450 der Bezugsgröße zugrunde zu legen, weil die Klägerin mit solchen Tätigkeiten bestmöglich in den Arbeitsmarkt wieder eingegliedert werden kann, die eine abgeschlossene Ausbildung in einem Ausbildungsberuf erfordern. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Klägerin unmittelbar vor dem Bezug des Arbeitslosengeldes eine Berufsausbildung abgeschlossen hatte. Das fiktive Arbeitsentgelt und damit das Bemessungsentgelt beträgt daher 1/450 der 2005 geltenden Bezugsgröße im Sinne des § 18 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV). Die insoweit maßgebliche Bezugsgröße (West) betrug 2005 28.980,00 Euro, was ein tägliches fiktives Arbeitsentgelt und damit ein Bemessungsentgelt von 64,40 Euro ergibt (vgl. Behrend, a. a. O., Rn. 44 und 47 zu § 132 SGB III), wie das Sozialgericht zutreffend festgestellt hat.

Auch der Senat verkennt nicht, dass dieser gesetzlichen Regelung folgend Personen, die während der Ausbildung kein Entgelt bezogen haben, bei einem nachfolgendem Arbeitslosengeldbezug in der Regel wesentlich besser gestellt sein werden als Auszubildende, die während ihrer Ausbildung eine Ausbildungsvergütung bezogen haben. Ein Verfassungsverstoß, insbesondere eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung im Sinne des Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG), liegt hierin jedoch nicht, weil für die unterschiedliche Behandlung der genannten Personengruppen bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes ein sachlicher Grund besteht. Dieser liegt in dem legitimen Bedürfnis des Gesetzgebers, die Berechnung des Arbeitslosengeldes in Fällen fehlenden oder höchstens 149-tägigen Bezugs von Arbeitsentgelt in den letzten zwei Jahren im Wege der Pauschalierung zu vereinfachen. Dieses Bedürfnis besteht auch bei arbeitslosen Auszubildenden, die während ihrer Ausbildung keine Ausbildungsvergütung erhalten haben. Im Übrigen liegt die in § 132 SGB III geschaffene Regelung innerhalb der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, a. a. O., Rn. 20).

Allerdings hat der Senat eine Präzisierung des sozialgerichtlichen Tenors für erforderlich erachtet, weil das Sozialgericht fälschlich einen Bescheid vom 23.03.2006 (richtig: 22.03. 2006) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.05.2006 (richtig: 02.05.2006) aufgehoben hat. Ferner war im Tenor noch der Beginn des Anspruchs auf Arbeitslosengeld mit dem 25.06.2005 festzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Rechtskraft
Aus
Saved