Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 19 R 30/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 R 191/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 28.07.2008 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Berücksichtigung der Zeit vom 29.12.1953 bis zum 31.8.1955 als Ersatzzeit bei der Berechnung seiner Altersrente wegen Arbeitslosigkeit.
Der am 00.00.1939 in M in der damaligen Sowjetunion geborene Kläger wurde mit seiner Familie im Herbst 1941 nach Sibirien verschleppt und bis Januar 1956 unter Kommandanturaufsicht gestellt. Später nahm die Familie ihren Wohnsitz in U. Am 18.7.1991 reiste der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er ist deutscher Staatsangehöriger. Für die Zeit vom September 1951 bis Januar 1956 erhielt er eine Entschädigung nach dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz (KgfEG).
Auf Antrag des Klägers bewilligte die Beklagte ihm mit Bescheid vom 14.11.2002 ab dem 1.1.2003 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit. Die Zeit der Kommandanturaufsicht berücksichtigte sie dabei nicht. Mit dem Widerspruch verlangte der Kläger u.a. die Anerkennung dieser Zeit ab Vollendung des 14. Lebensjahres als Ersatzzeit. Im ihm daraufhin übersandten Fragebogen zu den Ersatzzeiten nach § 250 Abs. 1 Nr. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) gab er an, erstmals 1976 den Willen gehabt zu haben, seinen ständigen Aufenthalt bzw. Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland zu nehmen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27.6.2003 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Voraussetzung für die Anerkennung von Ersatzzeiten nach § 250 SGB VI sei u. a., dass der Rückkehrwille nach Deutschland innerhalb von zwei Monaten nach der Entlassung aus dem engen Gewahrsam vorgelegen habe. Da die Kommandanturaufsicht 1956 geendet, der Kläger aber erstmals 1976 einen Ausreisewillen gebildet habe, sei diese Voraussetzung nicht erfüllt. Der Kläger verfüge auch nicht über eine Heimkehrerbescheinigung. Der vorgelegte Bewilligungsbescheid über eine Entschädigung nach dem KgfEG könne nicht für die Anerkennung einer Ersatzzeit nach § 250 SGB VI herangezogen werden, da bei der Feststellung dieser Entschädigung nicht geprüft worden sei, ob der Kläger den notwendigen Rückkehrwillen gehabt habe.
Mit der am 24.7.2003 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Er hat die Auffassung vertreten, das Erfordernis eines ununterbrochenen Rückkehrwillens sei dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung nicht zu entnehmen. Seine Angabe im Rahmen des Fragebogens sei falsch interpretiert worden. Das Deutschtum und die deutsche Sprache seien in der Familie durchgehend gepflegt worden, insbesondere weil die russische Sprache erst ab 1941 aufgrund der seinerzeit gegebenen äußeren Umstände erlernt worden sei. Der insgesamt bei der Familie vorhandene Rückkehrwille sei ohne weiteres auch auf ihn übertragbar. Er sei in den Zeiten der Diktatur jedoch nicht offen ausgesprochen worden. Deutsche und deutschstämmige Menschen seien seinerzeit gleichsam Feinde im eigenen Land gewesen. Erstmals 1976 sei der Rückkehrwille zumindest theoretisch realisierbar gewesen und insofern nach außen kundgetan worden.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 14.11.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.06.2003 zu verurteilen, bei der Berechnung seiner Altersrente die Zeit vom 29.12.1953 bis 31.01.1956 als Ersatzzeit zu berücksichtigen, soweit diese Zeit nicht schon mit Beitragszeiten belegt ist.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Begründung des Widerspruchsbescheides vertieft und den tatsächlichen Vortrag des Klägers für widersprüchlich gehalten. Aus den von ihr zur Einsicht angeforderten Akten des Bundesverwaltungsamtes ergebe sich, dass die Tante des Klägers, die Zeugin X, bereits seit dem 5.7.1976 in Deutschland lebe. Von den zuständigen sowjetischen Behörden sei seit 1987 eine Aussiedlung von nahen Verwandten gestattet worden. Die Tatsache, dass der Aufnahmeantrag trotzdem erst 1990 gestellt worden sei, spreche dafür, dass der Kläger nicht bereits zum frühestmöglichen Zeitpunkt alles versucht habe, um eine Ausreise nach Deutschland zu bewerkstelligen. Gegen das angebliche Vorliegen eines stetigen Rückkehrwillens spreche auch, dass der Aufnahmebescheid durch das Bundesverwaltungsamt bereits am 24.8.1990 erteilt worden, die tatsächliche Ausreise aber erst am 18.7.1991 erfolgt sei. Ausschlaggebend für diese Ausreiseverzögerung dürften rein private Gründe gewesen sein, nämlich dass am 5.6.1991 abgeschlossene Ehescheidungsverfahren des Klägers.
Dazu hat der Kläger vorgetragen, die Beklagte verkenne die tatsächlichen Verhältnisse in der damaligen Sowjetunion. Für seine tatsächliche Ausreise habe nicht nur der Aufnahmebescheid des Bundesverwaltungsamtes genügt. Auch eine Ausreisegenehmigung der sowjetischen Behörden sei erforderlich gewesen. Tatsächlich habe er eine solche nie erhalten. Im Gegenteil sei ein Ausreiseantrag unter dem 21.1.1991 abgelehnt worden, weil die Einladung nur von seiner Tante und nicht - wie nach dem Beschluss der Sowjetregierung vom 28.8.1986 erforderlich - von einer Verwandten ersten Grades ausgesprochen worden sei. Die Einladung seiner Mutter, der Zeugin T, habe er nicht vorlegen können, weil er seinerzeit im Hinblick auf die unterschiedlichen Nachnamen das Verwandtschaftsverhältnis nicht habe nachweisen können. Seine Ausreise im Juli 1991 sei dann nicht mehr auf der Basis einer Einladung, sondern lediglich im Rahmen eines Besuchsvisums erfolgt, also als Flucht, wobei eine gewisse Zeit der Organisation zu berücksichtigen sei, die seines Erachtens nach keiner näheren Erläuterung bedürfe.
In der nichtöffentlichen Sitzung vom 12.5.2004 hat das SG den Kläger gehört und die Zeuginnen T und X vernommen. In weiterer nichtöffentlicher Sitzung vom 26.11.2007 hat der Kläger an Eides Statt versichert, dass seine Mutter immer nach Deutschland habe ausreisen wollen, auch in dem hier streitigen Zeitraum. Auf den Inhalt beider Sitzungsniederschriften wird Bezug genommen.
Mit Urteil vom 28.7.2008 hat das Sozialgericht (SG) Detmold die Beklagte zur Anerkennung der streitigen Ersatzzeit vom 29.12.1953 bis Januar 1956 verurteilt. Der Anspruch ergebe sich aus § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI. Der Kläger sei mit seiner Familie aufgrund der Kommandanturaufsicht im Sinne dieser Bestimmung aufgrund einer feindlichen Maßnahme festgehalten worden. Auch der nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in diesem Zusammenhang erforderliche "Rückkehrwille" liege vor. Insoweit komme es auf den Rückkehrwillen während der Kommandanturaufsicht an. Dieser habe bei der Zeugin T nach ihren glaubhaften, durch die Zeugin X bestätigten Bekundungen vorgelegen.
Gegen das ihr am 29.8.2008 zugestellte Urteil hat die Beklagte unter Intensivierung ihres bisherigen Vorbringens am 11.9.2008 Berufung ausgebracht. Die Kommandanturaufsicht sei keine feindliche Maßnahme im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI. Wie sich aus - näher dargestellten - historischen Erkenntnissen ergebe, habe sie sich nicht explizit gegen deutschstämmige Bevölkerungsteile gerichtet. Auch der Ersatzzeittatbestand des § 250 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI liege nicht vor.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.
Sinngemäß hilfsweise regt sie an,
die Akten des Deutschen Roten Kreuzes der Zeugin X beizuziehen, da in diesen Verfahren immer Angaben usw. zu den Verwandten gemacht werden.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und geht ferner davon aus, dass auch der Ersatzzeittatbestand des § 250 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI erfüllt ist.
Der Senat hat die Angelegenheiten mit den Beteiligten in nicht öffentlichen Sitzungen vom 3.3. und 5.7.2010 erörtert und nochmals die Zeuginnen T und X vernommen. Im Erörterungstermin vom 3.3.2010 haben die Beteiligten den Rechtsstreit für die Zeit vom 1.9.1955 bis zum 31.12.1956 für erledigt erklärt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich ferner übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Der Senat hat eine Anfrage des 3. Senates des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11.2.2008 an das Deutsche Rote Kreuz und dessen Antwort vom 26.2.2008 zu den Umständen der Erteilung von Ausreiseerlaubnissen durch russische Behörden zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Inhalte der Prozess- sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen. Das SG hat zutreffend entschieden, dass der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 14.11.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.6.2003 rechtswidrig ist und den Kläger beschwert, soweit die Zeit vom 29.12.1953 bis zum 31.8.1955 nicht als Ersatzzeit bei der Berechnung der Rente berücksichtigt wird.
Der Anspruch des Klägers auf Berücksichtigung dieser Zeit als Ersatzzeit ergibt sich aus § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI. Nach dieser Vorschrift sind Ersatzzeiten u.a. solche Zeiten vor dem 1.1.1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und der Versicherte nach Vollendung des 14. Lebensjahres (hier dem 29.12.1953) nach dem Ende eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen nach dem 30.6.1945 an der Rückkehr aus Gebieten außerhalb des Geltungsbereiches der Reichsversicherungsgesetze, soweit es sich nicht um das Beitrittsgebiet handelt, verhindert gewesen oder dort festgehalten worden ist.
Bei der Zeit vom 29.12.1953 bis zum 31.8.1955 handelt es sich um eine Zeit vor dem 1.1.1992, aber nach 30.6.1945, zu welcher der Kläger das 14. Lebensjahr vollendet hat und in der keine Beiträge gezahlt worden sind. Ebenso liegt eine Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor, zu der sich der Kläger in Gebieten außerhalb des Geltungsbereiches der Reichsversicherungsgesetze, nämlich in Sibirien auf dem Staatsgebiet der ehemaligen Sowjetunion, aufgehalten hat.
Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der Kläger im fraglichen Zeitraum aufgrund der Kommandanturaufsicht und damit aufgrund einer feindlichen Maßnahme im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI (BSG, Urteil v. 17.2.2005, B 13 RJ 25/04 R, juris; Urteil v. 30.6.1997, 8 RKn 7/96, SozR 3-2600 § 250 Nr. 4; Urteil v. 12.12.1995, 8 RKn 4/94, Kompaß 1996, 201) festgehalten worden. Wie das Bundessozialgericht insbesondere in seiner Entscheidung vom 17.2.2005 klar gestellt hat, kommt es insoweit nicht darauf an, ob hauptsächlich Deutsche oder deutsche Volkszugehörige der Freiheitsbeschränkung unterworfen waren. Denn die dahingehende Rechtsprechung zum Tatbestandsmerkmal der "feindlichen Maßnahme" in § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI bezieht sich nur auf Zeiten nach dem Ende der Kommandanturaufsicht. Diese selbst ist hingegen schon wegen des mit ihr verbundenen "doppelten Vertreibungsschicksals" bei genereller Betrachtung als feindliche Maßnahme anzusehen. Auf den Einwand der Beklagten, die Kommandanturaufsicht habe sich nicht hauptsächlich gegen die deutschstämmige Bevölkerung gerichtet, kommt es daher nicht an. Der Kläger gehört überdies zu dem Personenkreis, den die zitierte Rechtsprechung zur Kommandanturaufsicht ausdrücklich begünstigen wollte: Er und seine Mutter sind während des Zweiten Weltkriegs aus einem geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet herausgerissen und nach Aufhebung der Kommandantur daran gehindert worden, sich wieder mit anderen Deutschen in einem solchen Gebiet zusammenzufinden. Im Hinblick darauf besteht zu weitergehenden historischen Ermittlungen kein Anlass.
Darüber hinaus steht für den Senat fest, dass als subjektiver Aspekt des Tatbestandsmerkmals des "Festgehaltenwerdens" der Rückkehrwille während der Kommandanturaufsicht vorgelegen hat. Da der Kläger im maßgeblichen Zeitraum minderjährig war, ist auf den Willen seiner Eltern abzustellen bzw. - nachdem der Vater verschollen war - auf den Willen der Mutter (BSG, Urteil v. 17.2.2005, a.a.O.). Dass diese den Willen, nach Deutschland zurückzukehren, während des gesamten Streitzeitraums hatte, ergibt sich aus ihrer Aussage und derjenigen der Zeugin X. Beide Zeuginnen haben dies bei der Vernehmung durch den Berichterstatter des Senates, auch auf Nachfrage der Vertreterin der Beklagten, mehrfach eindeutig bekundet. Dass sie angesichts der seinerzeitigen Zwangssituation aus Angst vor Sanktionen diesen Willen nicht laut geäußert haben, bedarf keiner näheren Erläuterung und steht der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben ebenso wenig entgegen wie der Umstand, dass sie erst aus der Sowjetunion ausgereist sind, als sich die tatsächliche Möglichkeit hierzu ergab. Letztlich ist auch die Beklagte dem Inhalt der Zeugenaussagen insoweit nicht entgegengetreten.
Der Senat hat sich nicht gedrängt gesehen, der Anregung der Beklagten nachzukommen und die Unterlagen des Deutschen Roten Kreuzes betreffend die Zeugin X beizuziehen. Zunächst hat die Beklagte keinerlei Angaben zu der Frage gemacht, was sie in diesen Unterlagen vorzufinden hofft, sodass es sich um eine reine Ausforschungsanregung handelt. Abgesehen davon geht es im Rahmen von § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI allein um den Rückkehrwillen während der Kommandanturaufsicht. Hierzu haben die Zeuginnen indessen eindeutige und überzeugende Antworten gegeben, sodass es der Erhebung weiterer Beweise nicht bedarf.
Da bereits die Voraussetzungen des § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI erfüllt sind, kommt es nicht darauf an, ob auch eine Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI vorliegt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Auch wenn der Kläger sein Begehren in der Berufsinstanz zeitlich beschränkt hat, hat er mit seinem wesentlichen Anliegen obsiegt, sodass der Senat es nicht für angemessen hält, eine Kostenteilung vorzunehmen.
Gründe, die Revision zuzulassen, bestanden bei dieser Einzelfallentscheidung nicht. Sie orientiert sich an der ständigen Rechtsprechung des BSG.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Berücksichtigung der Zeit vom 29.12.1953 bis zum 31.8.1955 als Ersatzzeit bei der Berechnung seiner Altersrente wegen Arbeitslosigkeit.
Der am 00.00.1939 in M in der damaligen Sowjetunion geborene Kläger wurde mit seiner Familie im Herbst 1941 nach Sibirien verschleppt und bis Januar 1956 unter Kommandanturaufsicht gestellt. Später nahm die Familie ihren Wohnsitz in U. Am 18.7.1991 reiste der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er ist deutscher Staatsangehöriger. Für die Zeit vom September 1951 bis Januar 1956 erhielt er eine Entschädigung nach dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz (KgfEG).
Auf Antrag des Klägers bewilligte die Beklagte ihm mit Bescheid vom 14.11.2002 ab dem 1.1.2003 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit. Die Zeit der Kommandanturaufsicht berücksichtigte sie dabei nicht. Mit dem Widerspruch verlangte der Kläger u.a. die Anerkennung dieser Zeit ab Vollendung des 14. Lebensjahres als Ersatzzeit. Im ihm daraufhin übersandten Fragebogen zu den Ersatzzeiten nach § 250 Abs. 1 Nr. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) gab er an, erstmals 1976 den Willen gehabt zu haben, seinen ständigen Aufenthalt bzw. Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland zu nehmen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27.6.2003 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Voraussetzung für die Anerkennung von Ersatzzeiten nach § 250 SGB VI sei u. a., dass der Rückkehrwille nach Deutschland innerhalb von zwei Monaten nach der Entlassung aus dem engen Gewahrsam vorgelegen habe. Da die Kommandanturaufsicht 1956 geendet, der Kläger aber erstmals 1976 einen Ausreisewillen gebildet habe, sei diese Voraussetzung nicht erfüllt. Der Kläger verfüge auch nicht über eine Heimkehrerbescheinigung. Der vorgelegte Bewilligungsbescheid über eine Entschädigung nach dem KgfEG könne nicht für die Anerkennung einer Ersatzzeit nach § 250 SGB VI herangezogen werden, da bei der Feststellung dieser Entschädigung nicht geprüft worden sei, ob der Kläger den notwendigen Rückkehrwillen gehabt habe.
Mit der am 24.7.2003 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Er hat die Auffassung vertreten, das Erfordernis eines ununterbrochenen Rückkehrwillens sei dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung nicht zu entnehmen. Seine Angabe im Rahmen des Fragebogens sei falsch interpretiert worden. Das Deutschtum und die deutsche Sprache seien in der Familie durchgehend gepflegt worden, insbesondere weil die russische Sprache erst ab 1941 aufgrund der seinerzeit gegebenen äußeren Umstände erlernt worden sei. Der insgesamt bei der Familie vorhandene Rückkehrwille sei ohne weiteres auch auf ihn übertragbar. Er sei in den Zeiten der Diktatur jedoch nicht offen ausgesprochen worden. Deutsche und deutschstämmige Menschen seien seinerzeit gleichsam Feinde im eigenen Land gewesen. Erstmals 1976 sei der Rückkehrwille zumindest theoretisch realisierbar gewesen und insofern nach außen kundgetan worden.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 14.11.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.06.2003 zu verurteilen, bei der Berechnung seiner Altersrente die Zeit vom 29.12.1953 bis 31.01.1956 als Ersatzzeit zu berücksichtigen, soweit diese Zeit nicht schon mit Beitragszeiten belegt ist.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Begründung des Widerspruchsbescheides vertieft und den tatsächlichen Vortrag des Klägers für widersprüchlich gehalten. Aus den von ihr zur Einsicht angeforderten Akten des Bundesverwaltungsamtes ergebe sich, dass die Tante des Klägers, die Zeugin X, bereits seit dem 5.7.1976 in Deutschland lebe. Von den zuständigen sowjetischen Behörden sei seit 1987 eine Aussiedlung von nahen Verwandten gestattet worden. Die Tatsache, dass der Aufnahmeantrag trotzdem erst 1990 gestellt worden sei, spreche dafür, dass der Kläger nicht bereits zum frühestmöglichen Zeitpunkt alles versucht habe, um eine Ausreise nach Deutschland zu bewerkstelligen. Gegen das angebliche Vorliegen eines stetigen Rückkehrwillens spreche auch, dass der Aufnahmebescheid durch das Bundesverwaltungsamt bereits am 24.8.1990 erteilt worden, die tatsächliche Ausreise aber erst am 18.7.1991 erfolgt sei. Ausschlaggebend für diese Ausreiseverzögerung dürften rein private Gründe gewesen sein, nämlich dass am 5.6.1991 abgeschlossene Ehescheidungsverfahren des Klägers.
Dazu hat der Kläger vorgetragen, die Beklagte verkenne die tatsächlichen Verhältnisse in der damaligen Sowjetunion. Für seine tatsächliche Ausreise habe nicht nur der Aufnahmebescheid des Bundesverwaltungsamtes genügt. Auch eine Ausreisegenehmigung der sowjetischen Behörden sei erforderlich gewesen. Tatsächlich habe er eine solche nie erhalten. Im Gegenteil sei ein Ausreiseantrag unter dem 21.1.1991 abgelehnt worden, weil die Einladung nur von seiner Tante und nicht - wie nach dem Beschluss der Sowjetregierung vom 28.8.1986 erforderlich - von einer Verwandten ersten Grades ausgesprochen worden sei. Die Einladung seiner Mutter, der Zeugin T, habe er nicht vorlegen können, weil er seinerzeit im Hinblick auf die unterschiedlichen Nachnamen das Verwandtschaftsverhältnis nicht habe nachweisen können. Seine Ausreise im Juli 1991 sei dann nicht mehr auf der Basis einer Einladung, sondern lediglich im Rahmen eines Besuchsvisums erfolgt, also als Flucht, wobei eine gewisse Zeit der Organisation zu berücksichtigen sei, die seines Erachtens nach keiner näheren Erläuterung bedürfe.
In der nichtöffentlichen Sitzung vom 12.5.2004 hat das SG den Kläger gehört und die Zeuginnen T und X vernommen. In weiterer nichtöffentlicher Sitzung vom 26.11.2007 hat der Kläger an Eides Statt versichert, dass seine Mutter immer nach Deutschland habe ausreisen wollen, auch in dem hier streitigen Zeitraum. Auf den Inhalt beider Sitzungsniederschriften wird Bezug genommen.
Mit Urteil vom 28.7.2008 hat das Sozialgericht (SG) Detmold die Beklagte zur Anerkennung der streitigen Ersatzzeit vom 29.12.1953 bis Januar 1956 verurteilt. Der Anspruch ergebe sich aus § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI. Der Kläger sei mit seiner Familie aufgrund der Kommandanturaufsicht im Sinne dieser Bestimmung aufgrund einer feindlichen Maßnahme festgehalten worden. Auch der nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in diesem Zusammenhang erforderliche "Rückkehrwille" liege vor. Insoweit komme es auf den Rückkehrwillen während der Kommandanturaufsicht an. Dieser habe bei der Zeugin T nach ihren glaubhaften, durch die Zeugin X bestätigten Bekundungen vorgelegen.
Gegen das ihr am 29.8.2008 zugestellte Urteil hat die Beklagte unter Intensivierung ihres bisherigen Vorbringens am 11.9.2008 Berufung ausgebracht. Die Kommandanturaufsicht sei keine feindliche Maßnahme im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI. Wie sich aus - näher dargestellten - historischen Erkenntnissen ergebe, habe sie sich nicht explizit gegen deutschstämmige Bevölkerungsteile gerichtet. Auch der Ersatzzeittatbestand des § 250 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI liege nicht vor.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.
Sinngemäß hilfsweise regt sie an,
die Akten des Deutschen Roten Kreuzes der Zeugin X beizuziehen, da in diesen Verfahren immer Angaben usw. zu den Verwandten gemacht werden.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und geht ferner davon aus, dass auch der Ersatzzeittatbestand des § 250 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI erfüllt ist.
Der Senat hat die Angelegenheiten mit den Beteiligten in nicht öffentlichen Sitzungen vom 3.3. und 5.7.2010 erörtert und nochmals die Zeuginnen T und X vernommen. Im Erörterungstermin vom 3.3.2010 haben die Beteiligten den Rechtsstreit für die Zeit vom 1.9.1955 bis zum 31.12.1956 für erledigt erklärt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich ferner übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Der Senat hat eine Anfrage des 3. Senates des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11.2.2008 an das Deutsche Rote Kreuz und dessen Antwort vom 26.2.2008 zu den Umständen der Erteilung von Ausreiseerlaubnissen durch russische Behörden zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Inhalte der Prozess- sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen. Das SG hat zutreffend entschieden, dass der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 14.11.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.6.2003 rechtswidrig ist und den Kläger beschwert, soweit die Zeit vom 29.12.1953 bis zum 31.8.1955 nicht als Ersatzzeit bei der Berechnung der Rente berücksichtigt wird.
Der Anspruch des Klägers auf Berücksichtigung dieser Zeit als Ersatzzeit ergibt sich aus § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI. Nach dieser Vorschrift sind Ersatzzeiten u.a. solche Zeiten vor dem 1.1.1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und der Versicherte nach Vollendung des 14. Lebensjahres (hier dem 29.12.1953) nach dem Ende eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen nach dem 30.6.1945 an der Rückkehr aus Gebieten außerhalb des Geltungsbereiches der Reichsversicherungsgesetze, soweit es sich nicht um das Beitrittsgebiet handelt, verhindert gewesen oder dort festgehalten worden ist.
Bei der Zeit vom 29.12.1953 bis zum 31.8.1955 handelt es sich um eine Zeit vor dem 1.1.1992, aber nach 30.6.1945, zu welcher der Kläger das 14. Lebensjahr vollendet hat und in der keine Beiträge gezahlt worden sind. Ebenso liegt eine Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor, zu der sich der Kläger in Gebieten außerhalb des Geltungsbereiches der Reichsversicherungsgesetze, nämlich in Sibirien auf dem Staatsgebiet der ehemaligen Sowjetunion, aufgehalten hat.
Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der Kläger im fraglichen Zeitraum aufgrund der Kommandanturaufsicht und damit aufgrund einer feindlichen Maßnahme im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI (BSG, Urteil v. 17.2.2005, B 13 RJ 25/04 R, juris; Urteil v. 30.6.1997, 8 RKn 7/96, SozR 3-2600 § 250 Nr. 4; Urteil v. 12.12.1995, 8 RKn 4/94, Kompaß 1996, 201) festgehalten worden. Wie das Bundessozialgericht insbesondere in seiner Entscheidung vom 17.2.2005 klar gestellt hat, kommt es insoweit nicht darauf an, ob hauptsächlich Deutsche oder deutsche Volkszugehörige der Freiheitsbeschränkung unterworfen waren. Denn die dahingehende Rechtsprechung zum Tatbestandsmerkmal der "feindlichen Maßnahme" in § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI bezieht sich nur auf Zeiten nach dem Ende der Kommandanturaufsicht. Diese selbst ist hingegen schon wegen des mit ihr verbundenen "doppelten Vertreibungsschicksals" bei genereller Betrachtung als feindliche Maßnahme anzusehen. Auf den Einwand der Beklagten, die Kommandanturaufsicht habe sich nicht hauptsächlich gegen die deutschstämmige Bevölkerung gerichtet, kommt es daher nicht an. Der Kläger gehört überdies zu dem Personenkreis, den die zitierte Rechtsprechung zur Kommandanturaufsicht ausdrücklich begünstigen wollte: Er und seine Mutter sind während des Zweiten Weltkriegs aus einem geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet herausgerissen und nach Aufhebung der Kommandantur daran gehindert worden, sich wieder mit anderen Deutschen in einem solchen Gebiet zusammenzufinden. Im Hinblick darauf besteht zu weitergehenden historischen Ermittlungen kein Anlass.
Darüber hinaus steht für den Senat fest, dass als subjektiver Aspekt des Tatbestandsmerkmals des "Festgehaltenwerdens" der Rückkehrwille während der Kommandanturaufsicht vorgelegen hat. Da der Kläger im maßgeblichen Zeitraum minderjährig war, ist auf den Willen seiner Eltern abzustellen bzw. - nachdem der Vater verschollen war - auf den Willen der Mutter (BSG, Urteil v. 17.2.2005, a.a.O.). Dass diese den Willen, nach Deutschland zurückzukehren, während des gesamten Streitzeitraums hatte, ergibt sich aus ihrer Aussage und derjenigen der Zeugin X. Beide Zeuginnen haben dies bei der Vernehmung durch den Berichterstatter des Senates, auch auf Nachfrage der Vertreterin der Beklagten, mehrfach eindeutig bekundet. Dass sie angesichts der seinerzeitigen Zwangssituation aus Angst vor Sanktionen diesen Willen nicht laut geäußert haben, bedarf keiner näheren Erläuterung und steht der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben ebenso wenig entgegen wie der Umstand, dass sie erst aus der Sowjetunion ausgereist sind, als sich die tatsächliche Möglichkeit hierzu ergab. Letztlich ist auch die Beklagte dem Inhalt der Zeugenaussagen insoweit nicht entgegengetreten.
Der Senat hat sich nicht gedrängt gesehen, der Anregung der Beklagten nachzukommen und die Unterlagen des Deutschen Roten Kreuzes betreffend die Zeugin X beizuziehen. Zunächst hat die Beklagte keinerlei Angaben zu der Frage gemacht, was sie in diesen Unterlagen vorzufinden hofft, sodass es sich um eine reine Ausforschungsanregung handelt. Abgesehen davon geht es im Rahmen von § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI allein um den Rückkehrwillen während der Kommandanturaufsicht. Hierzu haben die Zeuginnen indessen eindeutige und überzeugende Antworten gegeben, sodass es der Erhebung weiterer Beweise nicht bedarf.
Da bereits die Voraussetzungen des § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI erfüllt sind, kommt es nicht darauf an, ob auch eine Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI vorliegt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Auch wenn der Kläger sein Begehren in der Berufsinstanz zeitlich beschränkt hat, hat er mit seinem wesentlichen Anliegen obsiegt, sodass der Senat es nicht für angemessen hält, eine Kostenteilung vorzunehmen.
Gründe, die Revision zuzulassen, bestanden bei dieser Einzelfallentscheidung nicht. Sie orientiert sich an der ständigen Rechtsprechung des BSG.
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