L 8 R 125/07

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 12 R 27/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 R 125/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 5.4.2007 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsrechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Klägerin von der Beklagten die Gewährung der Regelaltersrente (RAR) unter zusätzlicher Berücksichtigung von Verfolgungsersatzzeiten von September 1939 bis Oktober 1939 beanspruchen kann.

Die am 00.00.1924 geborene Klägerin war als Jüdin nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Sie lebt in Israel, sie ist israelische Staatsangehörige.

Die Klägerin gab in ihrem Entschädigungsverfahren (Az. 000, Amt für Wiedergutmachung in Saarburg) am 12.8.1955 an, bei Kriegsausbruch habe sie mit ihren Eltern und zwei Geschwistern in Lodz, Gdanska, gelebt. Es seien bald Sonderbestimmungen für die Juden erlassen worden. Sie hätten in den Abendstunden ihre Wohnung nicht verlassen dürfen, hätten eine gelbe Armbinde tragen müssen. Im Mai 1940 sei das Ghetto Lodz errichtet worden. Sie sei mit ihren Angehörigen dort inhaftiert worden und sie hätten Unterkunft in der Q St. 11 gefunden. Sie habe im Leder- und Sattler-Ressort arbeiten müssen.

In einer Erklärung vom 8.5.1957 gab die Klägerin ergänzend an, sie habe in Lodz, Polen, H-straße No. 10, gelebt, als die Deutschen dort im September 1939 einmarschiert seien. Bald nach deren Einmarsch hätten die antijüdischen Verordnungen begonnen. Ab Oktober 1939 habe sie gleich allen anderen Juden der Stadt erst die gelbe Armbinde und später den gelben Judenstern an Brust und Rücken befestigt tragen müssen. Außerdem hätten sie Sperrstunden einhalten müssen, hätten die öffentlichen Plätze nicht betreten dürfen und seien verschiedenen Verkehrsbeschränkungen unterworfen gewesen. Im Mai 1940 sei sie in das Ghetto Lodz eingeliefert worden.

Am 13.4.1966 führte die Klägerin wiederholend aus, dass sie bei Kriegsausbruch in Lodz gelebt habe. Nach dem Einmarsch der Deutschen seien sie den antijüdischen Maßnahmen unterworfen gewesen. Im Mai 1940 sei sie in das Ghetto Lodz gekommen, wo sie Zwangsarbeit im Leder- und Sattlerressort habe verrichten müssen.

Am 21.8.1966 wiederholte die Klägerin, dass sie nach dem Einmarsch der Deutschen in Lodz den antijüdischen Maßnahmen unterworfen gewesen sei und im Mai 1940 in das Ghetto Lodz gekommen sei, wo sie Zwangsarbeit habe verrichten müssen.

Die Erklärungen der Zeuginnen B vom 12.8.1955 und L vom 23.8.1955 im Entschädigungsverfahren der Klägerin enthalten keine Angaben zur streitbefangenen Zeit, sondern erst ab Mai 1940, dem Zeitpunkt der Inhaftierung der Klägerin im Ghetto.

Die Zeugin G bestätigte am 25.3.1957 die Angaben der Klägerin und erklärte, als die Deutschen im September 1939 ihre gemeinsame Heimatstadt Lodz besetzt hätten, seien nach kurzer Zeit die antijüdischen Maßnahmen ergangen, denen zufolge alle Juden und somit auch sie beide zuerst die gelbe Armbinde und kurze Zeit nachher den gelben Judenstern an Brust und Rücken angeheftet hätten tragen müssen. Sie seien verschiedenen Verkehrsbeschränkungen unterworfen gewesen und hätten Sperrstunden einhalten müssen. Das Betreten gewisser Straßen und Plätze sei ihnen verboten gewesen. Sie seien des öfteren von der Straße weg zu verschiedenen Zwangsarbeiten herangezogen worden. Im Mai 1940 sei sie gemeinsam mit der Klägerin in das Ghetto Lodz umgesiedelt worden.

Die Zeugin L gab am 6.6.1957 an, sie kenne die Klägerin aus Lodz bereits von Kindheit an. Kurz nach dem Einmarsch der Deutschen im September 1939 sei Lodz dem Wartheland angeschlossen worden und sie und auch die Klägerin hätten so wie alle anderen Juden der Stadt zuerst die gelbe Armbinde und etwas später den gelben Judenstern auf Brust und Rücken tragen müssen. Sie hätten auch bestimmte Plätze nicht mehr betreten und Sperrstunden einhalten müssen. Im Mai 1940 seien sie dann gemeinsam in das Ghetto Lodz eingeliefert worden.

Mit Feststellungsbescheid C vom 11.10.1966 stellte das Bezirksamt für Wiedergutmachung in Koblenz einen Freiheitsschaden ab 18.11.1939 aufgrund des Tragens des Judensterns in Lodz fest. Soweit ein Freiheitsschaden bereits für die Zeit ab September 1939 geltend gemacht war, wurde eine entsprechende Feststellung abgelehnt.

Die Zeuginnen X und G bestätigten in ihren, in den Verwaltungsakten der Beklagten befindlichen Erklärungen jeweils vom 28.2.1993 die Tätigkeit der Klägerin im Ghetto Lodz. Angaben zu der Zeit vor dem Ghettoaufenthalt der Klägerin enthalten diese Erklärungen nicht.

Mit Bescheid vom 27.1.1998 erkannte die Beklagte die Zeit vom 1.8.1940 bis 31.8.1944 als glaubhaft gemachte Beitragszeit und die Zeit vom 18.11.1939 bis 8.5.1945 als Verfolgungsersatzzeit an. Eine Rentenzahlung erfolgte nicht.

Am 10.7.2002 beantragte die Klägerin die Zahlung einer Rente unter Hinweis auf das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Mit Bescheid vom 5.5.2003 gewährte die Beklagte der Klägerin ab 1.7.1997 RAR. Dabei legte sie Beitrags- und Ersatzzeiten entsprechend den Feststellungen im Bescheid vom 27.1.1998 zugrunde.

Mit ihrem am 23.5.2003 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruch begehrte die Klägerin auch die Berücksichtigung von Ersatzzeiten für die Monate September und Oktober 1939. Ab September 1939 habe ein 15stündiges Ausgangsverbot für Juden, und zwar in der Zeit von 17.00 Uhr bis um 8.00 Uhr des nächsten Tages bestanden. Im Übrigen sei es Juden nicht erlaubt gewesen, die Stadt Lodz ohne Erlaubnis zu verlassen. Diese Maßnahmen, die die jüdische Bevölkerung in ihrer Gesamtheit betroffen hätten, seien derart gravierende freiheitsbeschränkende Maßnahmen gewesen, dass sie die Ersatzzeit ab September 1939 rechtfertigten. Ein Auszug aus der "Encyclopedia of the Holocaust" wurde zur Stützung des Vorbringens beigebracht.

Mit Widerspruchsbescheid vom 8.4.2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Eine Freiheitseinschränkung nach § 47 Bundesentschädigungsgesetz (BEG), der im Rahmen des § 250 Abs. 1 Nr. 4 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) Anwendung finde, liege vor, wenn der Verfolgte den Judenstern getragen oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Illegalität gelebt hat. Eine Entschädigung vor dem 18.11.1939 sei nicht vorzunehmen, weil das Tragen des Judensterns mit der Kennzeichnungsverordnung vom 14.11.1939 eingeführt worden sei.

Mit ihrer am 21.4.2004 zum Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Sie hat die Auffassung vertreten, dass die Zeit vom 1.9.1939 bis 31.10.1939 wegen der hohen Intensität der Verfolgungsmaßnahmen als Ersatzzeit anzuerkennen sei. Sie habe Zwangsarbeiten unter haftähnlichen Bedingungen verrichtet.

In einer persönlichen Erklärung vom 21.9.2003 hat die Klägerin vorgetragen:

"Gleich nach Einmarsch der Deutschen in Polen im September 1939 wurde auf die jüdische Bevölkerung ein Ausgangsverbot erhoben von Nachmittag über Nacht bis nächsten Tag in der Früh. Ich wurde zu verschiedenen Aufräumungsarbeiten eingeteilt und außer den Ausgehverbot zu den bestimmten Stunden durften die Stadt nicht ohne Erlaubnis verlassen. Der Umstand, dass ich in so jungen Jahren aus meinen Elternhaus herausgerissen wurde, die Ängste die ich durchmachte hatten auf mich eine Auswirkung die mein ganzes weitere Leben beeinflusst haben."

Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,

unter Abänderung des Bescheides vom 5.5.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.4.2004 die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom 1.9.1939 bis 31.10.1939 als Ersatzzeit anzuerkennen und die Rente neu zu berechnen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig gehalten. Die Maßnahmen ab September 1939 hätten nicht ausschließlich die jüdische Bevölkerung betroffen. Die Anerkennung einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit käme deshalb nicht in Betracht.

Das SG Düsseldorf hat mit Urteil vom 5.4.2007 die Klage abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird verwiesen.

Gegen das ihr am 16.4.2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 7.5.2007 Berufung eingelegt. Zur Begründung nimmt sie Bezug auf ihr Vorbringen im verwaltungs- und erstinstanzlichen Verfahren und trägt ergänzend vor, verfahrensgegenständlich handele es sich nicht um einen Streit nach dem BEG. Die Tatbestandsfassungen der §§ 43 und 47 BEG seien daher nicht einschlägig und der Verfolgungsbegriff sei einer weiteren Auslegung zugänglich. Das von ihr im streitbefangenen Zeitraum durchlittene Schicksal werde vom Wortlaut des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI gedeckt, da der Begriff der "Freiheitsbeschränkung" als solcher einen wesentlich weitergehenden Sinngehalt aufweise, als ein Verweis auf die beiden Fälle des § 47 BEG ausfüllen könnte. Denn die von ihr geleisteten willkürlichen Zwangsarbeiten aufgrund obrigkeitlicher Anordnung ohne reelle Ausweich- bzw. Wahlmöglichkeit sowie ohne Einflussmöglichkeit auf eine eventuelle Vergütung erfassten ohne Weiteres den Begriff der Freiheitseinschränkung, da außer Zweifel stehe, dass ihre persönliche Freiheit durch einen Arbeitszwang unter Einsatz rigoroser Mittel (Aufgreifen auf der Straße) beschränkt gewesen sei. Eine ansonsten bestehende Freiheit, eine Tätigkeit ohne massive persönliche Konsequenzen abzulehnen, sei durch Arbeitszwang und eine konkrete Anforderung ebenso aufgehoben, wie die Möglichkeit der Wahl einer anderen Beschäftigung. Im Übrigen werde durch jede obrigkeitliche Zuweisung an eine bestimmte Arbeitsstelle - auch wenn sie nur wenige Stunden dauern sollte - die Freiheit der Wahl des Aufenthaltsortes zumindest zeitweise erheblich eingeschränkt.

Die Einbeziehung einer solchen Zwangsarbeit als Ersatzzeit entspreche dem Sinn und Zweck des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI, nämlich dem Schicksal des Verfolgten insoweit Rechnung zu tragen, als dieser durch nationalsozialistische Unrechtsmaßnahmen aus seinem normalen Alltag und damit auch aus der Rentenversicherung verdrängt werde. Der entschädigungsrechtliche Gedanke finde in diesem Zusammenhang seine besondere Anforderung. Unter dem Gesichtpunkt der Wiedergutmachung sei ein Ausgleich des durch Zwangsarbeit bedingten Verlustes der Möglichkeit des Erwerbs von Versicherungszeiten geboten.

Aus dem Umstand, dass § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI auf § 47 BEG Bezug nehme und dort nur zwei Alternativen der Freiheitseinschränkung geregelt seien, ergebe sich nicht, dass der Begriff der Freiheitseinschränkung iSd § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI ebenfalls nur auf diese beiden Fälle reduziert wäre. Dies folge bereits daraus, dass der Klammerzusatz nicht unmittelbar nach dem Begriff der "Einschränkung der Freiheit", sondern erst am Ende des ersten Satzes nachfolge. Der Verweis auf § 47 BEG in § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI könne daher nur als eine Klarstellung darüber aufgefasst werden, dass jedenfalls auch die beiden in § 47 BEG genannten Fälle zur Anrechnung von Ersatzzeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung führten. Eine abschließende Legaldefinition beinhalte der Verweis auf § 47 BEG dagegen nicht. Sie - die Klägerin - habe diesbezüglich hinreichend glaubhaft gemacht, dass sie im streitbefangenen Zeitraum kurzfristig zu verschiedenen Arbeiten herangezogen worden sei und auch Freiheitsbeschränkungen unterlegen habe, die die Tatbestandsvoraussetzungen des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI erfüllten.

Die Klägerin hat einen Fragebogen des Senats zu von ihr etwaig in September/Oktober 1939 verrichteten Arbeiten beantwortet. Auf ihre Antworten wird Bezug genommen. Sie trägt durch ihre Bevollmächtigte weiter vor, dass sie darin haftähnliche Bedingungen dargestellt habe. Dass "keine starke Bewachung" stattgefunden habe, stehe nicht entgegen. Eine Bewachung der Arbeitsgruppe bedinge für sich allein die geforderten haftähnlichen Bedingungen. Sie habe sich weder der Arbeit entziehen können, noch - eben wegen der Bewachung - den Arbeitsplatz verlassen oder das Arbeitssoll nicht erfüllen können. Zur Bewachung einer Arbeitsgruppe genüge wenigstens eine Person, um haftähnliche Bedingungen für die gesamte Arbeitsgruppe zu schaffen.

Die Klägerin stützt sich des Weiteren auf die von ihr beigebrachte Niederschrift vom 30.9.2009 in der Streitsache L 8 R 345/06 des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (LSG NRW). Danach erfülle lediglich das Heranziehen eines Verfolgten zur Zwangsarbeit in unregelmäßigen Abständen nicht die Voraussetzungen einer Verfolgungsersatzzeit wegen Freiheitsbeschränkung oder -entziehung. Die regelmäßige Heranziehung zur Zwangsarbeit, wie bei ihr geschehen, erfülle hingegen den Ersatzzeittatbestand.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 5.4.2007 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 5.5.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8.4.2004 zu verurteilen, für sie weitere Verfolgungsersatzzeiten von September 1939 bis Oktober 1939 anzuerkennen und ihre Regelaltersrente neu zu berechnen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil. Sie beruft sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 5.5.2009 (B 13 R 23/08 R, SozR 4-2600 § 250 Nr 5).

Auf Anfrage des Senats hat die Jewish Claims Conference (JCC) mitgeteilt, dass die Klägerin beim Art. 2- sowie Härtefonds nicht registriert sei. Die von der JCC - Zwangsarbeiterfonds - übersandten Unterlagen enthalten keine Informationen zum streitgegenständlichen Zeitraum.

Nach der vom israelischen Finanzministerium übersandten Erklärung der Klägerin hat sie sich von 1939 bis 1940 in Lodz, Polen, von 1940 bis 1944 im Ghetto Lodz, Polen, von 8/1944 bis 10/1944 im Lager Auschwitz und von 10/1944 bis 5/1945 im Lager Halberstadt, Sudeten, aufgehalten und im Ghetto Lodz und Lager Halberstadt Zwangsarbeit verrichtet. Bis zu Kriegsbeginn sei sie körperlich und seelisch gesund gewesen. Als der Krieg ausgebrochen sei, sei sie in Lodz gewesen, und als das Ghetto entstanden sei, sei sie mit ihrer Familie dorthin gekommen. Sie sei bis 1944 im Ghetto gewesen. In der Zeit im Ghetto habe sie Zwangsarbeit geleistet, tagelang habe sie auf den Beinen gestanden und schwere Lasten auf den Schultern geschleppt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte der Beklagten und der Entschädigungsakte Nr. 000 des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte gem. §§ 153 Abs. 1, 110 Abs. 1, 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Abwesenheit der Klägerin und ihrer Prozessbevollmächtigten verhandeln und entscheiden, weil diese in der Terminsmitteilung, die ihr am 16.8.2010 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden ist, auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, aber unbegründet.

Die Zeit von September 1939 bis Oktober 1939 ist nicht als weitere Verfolgungsersatzzeit gem. § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI bei der Rentengewährung zu berücksichtigen.

Nach dem hier allein in Betracht kommenden § 250 Abs. 1 Nr. 4 Fälle 1 und 2 SGB VI sind Ersatzzeiten solche Zeiten vor dem 1.1.1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und Versicherte nach vollendetem 14. Lebensjahr in ihrer Freiheit eingeschränkt gewesen sind oder ihnen die Freiheit entzogen worden ist (§§ 43 und 47 BEG), wenn sie zum Personenkreis des § 1 BEG gehören (Verfolgungszeit).

1. Eine Freiheitsentziehung iS des § 43 Abs. 1 und 2 BEG im fraglichen Zeitraum liegt nicht vor. Die Klägerin befand sich während der fraglichen Zeit weder in Haft noch zwangsweise in einem Ghetto.

2. Die Klägerin ist in der fraglichen Zeit auch nicht iS des § 250 Abs. 1 Nr. 4 Fall 1 SGB VI in ihrer "Freiheit eingeschränkt" gewesen. Unter Zeiten der Freiheitseinschränkung versteht der Gesetzgeber, wie der Klammerhinweis auf § 47 BEG belegt, Zeiten, in denen der Verfolgte den Judenstern getragen oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Illegalität gelebt hat (§ 47 Abs. 1 BEG). Außerdem stellt § 47 Abs. 2 BEG eine Vermutung dahin gehend auf, dass ein Verfolgter, der unter falschem Namen gelebt hat, in der Illegalität unter menschenunwürdigen Bedingungen gelebt habe. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht. Auf die entsprechende Frage im Senatsfragebogen hat die Klägerin angegeben, ab dem 17.11.1939 den Davidstern bzw. ein anderes Kennzeichen getragen zu haben. Ein Leben in der Illegalität ist von der Klägerin nicht vorgetragen worden.

3. Die Klägerin unterlag darüber hinaus keinen Beschränkungen, die es rechtfertigen, die fragliche Zeit von September bis Oktober 1939 als (a.) Leben unter haftähnlichen Bedingungen bzw. (b.) Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen iS des § 43 Abs. 3 BEG der Freiheitsentziehung gleichzustellen.

a. Haftähnliche Bedingungen setzen zwar keine vollständige und nachhaltige Absonderung von der Umwelt voraus, erfordern aber immerhin, dass der Verfolgte erheblichen und laufend streng überwachten Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit unterworfen war und nach den sonstigen sich ergebenden Bedingungen ein Leben führen musste, das dem eines Häftlings sehr nahe kam (BSG, Urt. v. 21.5.1974, 1 RA 63/73, SozR 2200 § 1251 Nr. 5, juris; BGH, Urteil v. 15.12.1977, IX ZR 43/74, juris). Zu der letztgenannten Voraussetzung gehört insbesondere, dass die Verbindung mit der bisherigen Umwelt abgeschnitten ist. Das Wesen der Haft beruht eben in der Einschließung und in der Unterbrechung der bisherigen Lebensbeziehungen (BGH aaO). Die Voraussetzungen eines Lebens unter haftähnlichen Bedingungen sind vorliegend nicht erfüllt.

Denn die Klägerin hat jedenfalls keine konkreten Tatsachen dahingehend vorgetragen, dass die - als wahr unterstellten - Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit laufend streng überwacht wurden. Dasselbe gilt für sonstige Umstände, die zu Bedingungen eines Lebens geführt haben, das dem eines Häftlings sehr nahe kam, z. B. die Unterbrechung der bisherigen Lebensbeziehungen. Dass die Klägerin von ihrer Familie getrennt wurde, ist von ihr nicht vorgetragen worden, ebenso keine bereits für September und Oktober 1939 schon existierenden kargen Lebensbedingungen, die als hafttypisch angesehen werden könnten (Blessin/Ehrig/Wilden, BEG, 3. A. 1960, § 43 Rn. 24). Die Berufung der Klägerin auf die die gesamte jüdische Bevölkerung von Lodz treffenden oben genannten einschränkenden Maßnahmen reicht dementsprechend nicht aus.

Weitere Ermittlungen des Senats drängen sich nicht auf. Es fehlt schon der schlüssige Vortrag der die Tatbestandsvoraussetzungen ausfüllenden Tatsachen.

b. Die Annahme von Zwangsarbeiten unter haftähnlichen Bedingungen lässt sich ebenfalls nicht rechfertigen.

Zwangsarbeit als Heranziehung zu unfreiwilliger Arbeitsleistung ist nur dann einer Freiheitsentziehung gleichzustellen, wenn sie unter haftähnlichen Bedingungen ausgeübt worden ist. Die haftähnlichen Bedingungen müssen nur während der Arbeitszeit vorgelegen haben (BSG, Urteil vom 5.5.2009, B 13 R 23/08 R, SozR 4-2600 § 250 Nr 5, mwN). Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen liegt danach nur vor, wenn die erzwungene Arbeit entweder unter strenger Bewachung in abgeschlossenen Räumen oder außerhalb solcher Räume unter Beseitigung jeder Bewegungsfreiheit und unter ständiger Befehlseinwirkung durch Aufsichtspersonen zu leisten war. Zu fordern ist, dass der Verfolgte wie ein Häftling in einem geschlossenen und bewachten Arbeitskommando arbeiten musste (BSG aaO mwN). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

Es fehlt schon ein entsprechender Vortrag solcher Arbeitsumstände durch die Klägerin. Ausgehend von ihren Angaben auf den Senatsfragebogen hat sie sofort nach Kriegsausbruch Schmutz- und Reinigungsarbeiten an manchmal 6-7 Tagen in der Woche verrichtet. Sie hat weiter angegeben, dass es "keine starke Bewachung" gegeben und sie bei der Arbeitsausübung Anweisungen durch die "Jued. Gemeinde" erhalten habe. Die behaupteten Arbeiten wurden mithin auch nach dem eigenen Vortrag der Klägerin für die Jüdische Gemeinde als Arbeitgeber ausgeübt. Durch ihre Eltern habe sie sich um diese Arbeiten bemüht. Dies sind alles Umstände, die nicht die Beseitigung jeder Bewegungsfreiheit und die ständige Befehlseinwirkung durch Aufsichtspersonen darstellen, sondern vielmehr dagegen sprechen. Die Ausführungen der Bevollmächtigten zu den Angaben der Klägerin lassen sich nicht auf ihre Angaben stützen, sondern stellen lediglich eine unzutreffende Subsumtion dar. Auf die Niederschrift in der Sache L 8 R 345/08 des LSG NRW kann sich die Klägerin ebenfalls nicht berufen, da in jener Sache die Haftähnlichkeit gerade festgestellt werden konnte.

Weitere Ermittlungen drängen sich nicht auf, da es an einem schlüssigen Vortrag der die Tatbestandsvoraussetzungen ausfüllenden Tatsachen fehlt. Im Übrigen hat der Senat der rechtskundig vertretenen Klägerin mit dem Senatsfragebogen die Gelegenheit gegeben, die maßgeblichen Umstände darzustellen. Es liegen keine Anhaltspunkte - insbesondere nicht im Vortrag der Klägerin - dafür vor, dass sie zur Sachverhaltsaufklärung noch Weiteres beitragen könnte.

4. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI nur dann erfüllt, wenn die Voraussetzungen von § 43 BEG bzw. § 43 BEG iVm § 47 BEG erfüllt sind. Der Klammerzusatz der Vorschrift "§§ 43 und 47 Bundesentschädigungsgesetz" ist iS einer Legaldefinition der freiheitsentziehenden und freiheitseinschränkenden Maßnahmen, die zur Anerkennung der Zeit auch als Verfolgungsersatzzeit führen, zu verstehen (vgl. BSG aaO). Auf die Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 5.5.2009 (B 13 R 23/08 R, SozR 4-2600 § 250 Nr 5) wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind nicht zu erstatten, §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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