L 9 AL 293/11 NZB

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 24 AL 858/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AL 293/11 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1.
Zum Gewährleistungsgehalt des § 62 SGG sowie des Art. 103 GG.
2.
Auch eine Anordnung des persönlichen Erscheinens verletzt eine Entscheidung bei Abwesenheit des Klägers nicht unbedingt den Anspruch auf rechtliches Gehör.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Köln vom 27.09.2011 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde vom 31.10.2011 gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts (SG) Köln vom 27.09.2011 ist gemäß § 145 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber nicht begründet.

1. Die Beschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.

Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt und nicht wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betroffen sind (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Das ist hier der Fall. Die Klage betrifft eine laufende Geldleistung für nicht mehr als ein Jahr bzw. einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt, denn der Kläger begehrt nach dem eindeutigen Antrag seines Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 27.09.2011 die Gewährung von Arbeitslosengeld für den 01.11.2007 und damit für einen Tag. Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt 750,- Euro offensichtlich nicht. Ausgehend von dem zuletzt bezogenen Bruttolohn aus versicherungspflichtiger Beschäftigung in Höhe von 4.000 Euro beträgt das kalendertägliche Bemessungsentgelt (vgl. § 131 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III)), aus dem dann nach § 129 i.V.m. §§ 133, 134 SGB III das kalendertägliche Arbeitslosengeld durch Vornahme weiterer Abzüge zu ermitteln wäre, maximal 133,33 Euro.

Der Kläger hat die Nichtzulassung der Berufung im Urteil SG auch fristgemäß innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils am 14.10.2011 eingelegt (vgl. § 145 Abs. 1 Satz 2 SGG).

2. Die Beschwerde ist indes nicht begründet. Die Berufung ist nicht gemäß § 144 Abs. 2 SGG zuzulassen.

Nach § 144 Abs. 2 SGG ist eine Berufung zuzulassen, wenn

1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,

2. das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

3. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

a) Die Rechtssache hat offensichtlich keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Es liegt auch keine Divergenz im Sinne von § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG vor. Entsprechendes macht der Kläger auch nicht geltend.

b) Die Berufung ist auch nicht nach § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG zuzulassen. Die vom Kläger geltend gemachten Verfahrensmängel einer Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) und des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 103 SGG) liegen nicht vor.

aa) Das SG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nicht verletzt.

(1) Soweit der Kläger sinngemäß meint, das SG habe eine unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen, indem es die Abweisung der Klage - auch - damit begründet habe, dass der Kläger am 01.11.2007 mangels objektiver und subjektiver Verfügbarkeit nicht im Sinne von § 119 Abs. 1 SGB III arbeitslos gewesen sei, und hätte ihn vor seiner Entscheidung auf diesen rechtlichen Gesichtspunkt hinweisen müssen, beruht dieser Einwand auf einer Verkennung des Gewährleistungsgehalts des § 62 SGG sowie des Art. 103 Abs. 1 GG und trifft nicht zu.

Aus dem Recht auf rechtliches Gehör ergibt sich keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Richters. Der Richter muss auch nicht auf sämtliche Gesichtspunkte hinweisen, die die Beteiligten in ihren wechselseitigen Schriftsätzen bislang nicht angesprochen haben. Ein Gericht verstößt lediglich dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn es ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt oder auf rechtliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 84, 188 (190); 86, 133 (144 f.)).

Auch wenn die Beklagte ihre ablehnende Entscheidung nicht auf die fehlende Verfügbarkeit des Klägers gestützt hat, musste ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter damit rechnen, dass das SG auf die fehlende Verfügbarkeit des Klägers abstellen wird. Die objektive und subjektive Verfügbarkeit gehört zu den unmittelbar gesetzlich geregelten Voraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld, die in einem auf Gewährung von Arbeitslosengeld gerichteten Rechtsstreits stets zu prüfen sind. Dass die Verfügbarkeit des Klägers am 01.11.2007 zweifelhaft war, musste sich jedem kundigen und gewissenhaften Prozessbeteiligten aufdrängen. So hat der Kläger im vorliegenden Verfahren vor dem SG mehrfach ausdrücklich vorgetragen, er habe sich beginnend mit dem 01.11.2007 selbstständig machen wollen, und sogar im Schriftsatz vom 24.11.2010 ausdrücklich eingeräumt, es sei richtig, dass er nie arbeitslos gewesen sei. Zudem hatte er im vorangegangenen Klageverfahren S 1 AL 32/08 selbst vorgetragen (Schriftsatz vom 14.08.2008), er habe wegen der beabsichtigten selbstständigen Tätigkeit nie mehr vermittelt werden sollen. Vor diesem Hintergrund erschließt sich nicht, warum das SG den Kläger darauf hätte hinweisen müssen, dass seine Verfügbarkeit und damit auch seine Arbeitslosigkeit zweifelhaft sei.

Lediglich ergänzend sei insoweit angeführt, dass, selbst wenn man eine Verletzung der Hinweispflicht des SG annähme, das Urteil des SG nicht auf dieser Verletzung rechtlichen Gehörs beruhen würde. Zum einen wird die Entscheidung des SG selbstständig von der zusätzlichen Erwägung getragen, der Kläger habe sich nicht rechtzeitig persönlich arbeitslos gemeldet, worauf bereits die Beklagte in ihrer ablehnenden Entscheidung abgestellt hatte. Zum anderen erschließt sich nicht, warum das SG die fehlende subjektive Verfügbarkeit des Klägers am 01.11.2007 aufgrund seines Vortrags im Beschwerdeverfahren anders hätte beurteilen können sollen.

(2) Der weitere Einwand des Klägers, das SG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem es trotz der Anordnung seines persönlichen Erscheinens und seiner

Abwesenheit im Termin zur mündlichen Verhandlung am 27.09.2011 in der Sache entschieden habe, greift ebenfalls nicht durch.

Zwar darf ein Gericht nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch ohne einen ausdrücklichen Vertagungsantrag nicht ohne weiteres in der Sache entscheiden, wenn ein Beteiligter, dessen persönliches Erscheinen angeordnet war, sich zu dem Termin begründet entschuldigt hat (vgl. BSG, Urt. v. 01.08.1978 - 7 RAr 42/77 -, juris Rn. 13; Urt. v. 27.01.1993 - 6 RKa 19/92 -, juris Rn. 17; Urt. v. 16.12.1993 - 13 RJ 37/93 -, juris Rn. 18). Die Anordnung des persönlichen Erscheinens hat jedoch nicht die Funktion, das rechtliche Gehör der Beteiligten sicherzustellen, sondern nur vermittels des durch die Anordnung bedingten Erscheinens vor dem Gericht können die Beteiligten auch ihr rechtliches Gehör wahren. Von daher kann aus der Anordnung des persönlichen Erscheinens nicht zwingend darauf geschlossen werden, dass ohne das Erscheinen der Beteiligten keine Sachentscheidung des Gerichts ergehen könnte oder dürfte (vgl. BSG, Beschl. v. 31.01.2008 - B 2 U 311/07 B -, juris Rn. 4). Das SG hat hier auch nicht "ohne weiteres" in der Sache entschieden. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hatte die voraussichtliche Abwesenheit des Klägers am 31.08.2011 angezeigt und nur für den Fall um Terminsaufhebung gebeten, dass das Gericht die Anwesenheit des Klägers für unabdingbar erforderlich erachte. Indem das SG den Verhandlungstermin aufrechterhalten und die mündliche Verhandlung durchgeführt hat, hat es zu erkennen gegeben, dass es die persönliche Anwesenheit des Klägers nicht als erforderlich ansah. Vor allem war der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG durch seinen Prozessbevollmächtigten vertreten und dieser hat auch für ihn einen Sachantrag gestellt (vgl. hierzu BSG, Beschl. v. 31.01.2008 - B 2 U 311/07 B -, juris Rn. 5). Vor diesem Hintergrund erschließt sich nicht, warum der Kläger nicht trotz seiner persönlichen Abwesenheit im Termin am 27.09.2011 ausreichend Gelegenheit zur Äußerung gehabt haben soll. Dies gilt umso mehr, als sein Prozessbevollmächtigter keinen unbedingten Vertagungsantrag gestellt und damit ein persönliches Erscheinen des Klägers offensichtlich selbst nicht für erforderlich gehalten hat (vgl. insoweit auch BSG, Beschl. v. 31.01.2008 - B 2 U 311/07 B -, juris Rn. 6).

Selbst wenn man entgegen den vorstehenden Ausführungen eine Verletzung rechtlichen Gehörs annähme, könnte die Entscheidung des SG hierauf nicht beruhen. Aus der Beschwerdebegründung geht nicht hervor, was der Kläger unabhängig von dem unterbliebenen und nach den Ausführungen zu (1) auch nicht erforderlichen Hinweis auf

die nach Auffassung des SG fehlende objektive und subjektive Verfügbarkeit des Klägers am 01.11.2007 im Falle seiner persönlichen Anwesenheit z.B. zur nicht rechtzeitigen Arbeitslosmeldung vorgetragen hätte (vgl. insoweit auch BSG, Beschl. v. 31.01.2008 - B 2 U 311/07 B -, juris Rn. 6). Auch wenn man weiter unterstellen würde, dass der Kläger den Inhalt seiner Beschwerdebegründung vollständig in der mündlichen Verhandlung vor dem SG vorgetragen hätte, ist es ausgeschlossen, dass das SG von seinem Rechtsstandpunkt aus eine andere Entscheidung getroffen hätte (vgl. zum Maßstab des Beruhens BVerfGE 62, 392 (396); 89, 381 (392 f.)). Insoweit gelten die Ausführungen im letzten Absatz zu (1) entsprechend. Auf ein Verschulden des Klägers kommt es in Bezug auf die verspätete Arbeitslosmeldung nach der Auffassung des SG nicht an.

bb) Das SG hat auch seine Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 SGG) nicht verletzt. Es musste sich entgegen der Auffassung des Klägers von seinem Rechtsstandpunkt aus nicht dazu gedrängt fühlen (vgl. zu diesem Maßstab Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 144 Rn. 34 m.w.N. zur Rechtsprechung des BSG), die Akten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens beizuziehen, um festzustellen, wann Leistungen des Klägers dem Grunde nach eingefordert werden durften. Hierauf kam es nach den die Entscheidung des SG tragenden Erwägungen nicht an. Der Anspruch des Klägers auf Arbeitslosengeld für den 01.11.2007 scheiterte nach Auffassung des SG an der fehlenden Verfügbarkeit und der verspäteten Arbeitslosmeldung des Klägers. Das arbeitsgerichtliche Verfahren und sein Ausgang waren hierfür ohne Bedeutung.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 Abs. 1 S. 1 SGG.

4. Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG). Nach § 145 Abs. 4 S. 4 SGG wird das Urteil des SG mit der Ablehnung der Nichtzulassungsbeschwerde rechtskräftig.
Rechtskraft
Aus
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