L 19 AS 1723/11 NZB

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 10 AS 198/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 1723/11 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Kläger wird die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 15.08.2011 - S 10 AS 198/10 - zugelassen. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgen der Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe:

I.

Die Kläger beziehen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II). Mit ihrer am 05.03.2010 vor dem Sozialgericht Münster erhobenen Klage begehren sie unter Aufhebung des Bescheides vom 08.07.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.02.2010, den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom 25.05.2009 teilweise abzuändern und ihnen unter Berücksichtigung eines Verpflegungsmehraufwands bei der Einkommensanrechnung weitere Leistungen nach SGB II in Höhe von insgesamt 96,00 EUR für den Monat Mai 2009 zu gewähren.

Mit Urteil vom 15.08.2011 - auf dessen Inhalt Bezug genommen wird - hat das Sozialgericht Münster die Klage abgewiesen. Im Rahmen der Rechtsmittelbelehrung hat es darauf hingewiesen, dass das Urteil nur dann mit der Berufung angefochten werden kann, wenn diese nachträglich durch Beschluss des Landessozialgerichts zugelassen werde. Die Rechtsmittelbelehrung enthielt auch den Hinweis darauf, dass die Beschwerde innerhalb eines Monats nach Zustellung einzulegen sei. Das Urteil ist beiden Klägern, ausweislich der entsprechenden Postzustellungsurkunden, am 27.08.2011 zugestellt worden.

Mit Schriftsatz vom 26.09.2011, eingegangen beim Landessozialgericht ausweislich des Poststempels am 29.09.2011, haben die Kläger Beschwerde gegen das Urteil des Sozialgerichts eingelegt. Mit Schreiben vom 24.10.2011 hat die Senatsvorsitzende die Kläger darauf hingewiesen, dass die Beschwerde verfristet sei und Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Mit Schriftsatz vom 01.11.2011, eingegangen beim Landessozialgericht am 04.11.2011, haben die Kläger mitgeteilt, sie hätten die Beschwerde am 26.09.2011 per Einschrieben zur Post gegeben, wie sich aus den beigefügten Einlieferungsbelegen ergebe. Man gehe davon aus, dass die Beschwerde form- und fristgerecht eingelegt worden sei. Mit weiterem Schriftsatz vom 15.11.2011, eingegangen beim Landessozialgericht am 21.11.2011, haben die Kläger eine Begründung ihrer Beschwerde vorgelegt. Sie führen im Wesentlichen aus, das Sozialgericht habe verkannt, dass auch im SGB II eine - im Steuerrecht vorgesehene - Gleichstellung von Dienstreisen mit Einsatzwechseltätigkeiten erfolgen müsse. Der begehrte Verpflegungsmehraufwand sei nach alledem zu bewilligen gewesen.

Der Senat hat eine Auskunft der "Deutsche Post AG" (GB Vertrieb BRIEF ÖS - Betriebsleitung Stationärer Betrieb) vom 26.01.2012 eingeholt. Danach haben im Jahr 2011 bezahlte Briefe (hierunter falle auch das Einschreiben) zu 95,6 % den Empfänger am nächsten Tag nach der Einlieferung erreicht, es sei denn, die Einlieferung sei erst nach Einlieferungsschlusszeit der Postfiliale erfolgt oder es sei anstatt der Postfachadresse des Adressaten die Straßenanschrift verwendet worden.

Der Senat hat überdies eine Auskunft der "Deutsche Post AG" eingeholt, wonach die Einlieferungsschlusszeit für Briefe in der von den Klägern genutzten Filiale in C montags bis freitags 17:30 Uhr ist.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten sowie die Gerichtsakten Bezug genommen.

II.

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist - nach entsprechender Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - zulässig.

Nach § 145 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist die Nichtzulassungsbeschwerde innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten einzulegen. Das - mit ordnungsgemäßer Rechtmittelbelehrung versehene - Urteil ist am 27.08.2011 gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 178 Abs. 1 Nr. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) durch Einwurf in den zur Wohnung der Kläger gehörenden Briefkasten zugestellt worden. Damit endete die Frist zur Einlegung der Beschwerde gemäß § 64 Abs. 2 SGG am Dienstag, 27.09.2011, 24.00 Uhr. Der Schriftsatz der Kläger ist jedoch erst am 29.09.2011, somit verspätet, beim Landessozialgericht eingegangen.

Den Klägern ist indes Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Nach § 67 Abs. 1 SGG, der auch für das Berufungsverfahren entsprechend gilt (§ 153 Abs. 1 SGG), ist demjenigen, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist dabei innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen.

Mit Schreiben des Senats vom 24.10.2011 wurden die Kläger darauf hingewiesen, dass das Rechtsmittel verfristet sei. Die Kläger erklärten daraufhin mit Schriftsatz vom 01.11.2011, sie hätten den Beschwerdeschriftsatz am 26.07.2011 als Einschreiben zur Post aufgegeben. Dieses Schreiben kann - bei den anwaltlich nicht vertretenen Klägern - als konkludent gestellter Antrag auf Wiedereinsetzung angesehen werden.

Die Versäumung der Klagfrist war auch unverschuldet im Sinne von § 67 Abs. 1 SGG. "Ohne Verschulden" in diesem Sinne handelt derjenige, der diejenige Sorgfalt anwendet, die einem gewissenhaften Prozessführenden nach den gesamten Umständen und nach allgemeiner Verkehrsanschauung zuzumuten ist (Keller, in Meyer-Ladewig, SGG, 10. Aufl. 2012, § 67 Rn. 3; Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 31.03.1993 - 13 RJ 9/92 = BSGE 72, 158 = juris Rn. 15 f.). Für den Fall, dass - wie vorliegend - gesetzlich bestehende Fristen bis zum letzten Tag ausgeschöpft werden, erhöhen sich zwar diese Sorgfaltspflichten (Keller, a.a.O., § 37 Rn. 9n; BSG Urteil vom 31.03.1993 - 13 RJ 9/92 = BSGE 72, 158 = juris Rn. 16 m.w.N.; Bundesgerichtshof - BGH - Beschluss vom 03.07.1975 - III ZB 11/75 = juris Rn. 5; Bundesverwaltungsgericht - BVerwG - Beschluss vom 28.12.1989 - 5 B 13/89 = juris Rn. 3).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und der obersten Bundesgerichte kann der Bürger aber grundsätzlich darauf vertrauen, dass die nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden. Versagen diese Vorkehrungen, darf das dem Bürger, der darauf keinen Einfluss hat, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zur Last gelegt werden (BVerfG Kammerbeschluss vom 22.09.2000 - 1 BvR 1059/00 = juris Rn. 14; BVerfG Beschluss vom 04.12.1979 - 2 BvR 376/77 = juris 9 f.; BGH Beschluss v. 13.05.2004 - V ZB 62/03 = juris Rn. 11 m.w.N; Bundesarbeitsgericht - BAG - Urteil v. 08.06.1994 - 10 AZR 452/93 = juris Rn. 25).

In § 2 Abs. 3 der Post-Universaldienstleistungsverordnung (PUDLV) vom 15.12.1999 (BGBl. I, S. 2418), zuletzt geändert durch Art. 3 Abs. 26 des Gesetzes vom 07.07.2005 (BGBl I, S. 1970), ist normiert, dass von den an einem Werktag eingelieferten inländischen Briefsendungen - zu denen nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 PUDLV auch Einschreiben gehören - im Jahresdurschnitt mindestens 80% an dem ersten auf den Einlieferungsvorgang folgenden Werktag ausgeliefert werden müssen (E+1).

Nach Angaben der "Deutsche Post AG" haben Einschreiben im Jahr 2011, wie andere voll bezahlte Briefe auch, zu 95,6% den Empfänger am nächsten Tag der Einlieferung ("E+1") erreicht.

Die "Deutsche Post AG" auf hat Nachfrage des Senats angegeben, Einlieferungsschlusszeit für Briefe und Einschreiben sei bei der von den Klägern genutzten Postfiliale 17:30 Uhr. Dies sei durch entsprechende Aushänge auch kenntlich gemacht. Die Kläger konnten demnach nach obigen Ausführungen damit rechnen, dass das um 17:22 Uhr aufgegebene Einschreiben am nächsten Tag zugeht. Dass die Kläger die Straßenanschrift und nicht die Postfachadresse verwendet haben, wodurch nach den Angaben der "Deutsche Post AG" sich die Postlaufzeiten verlängern können, ist ihnen nicht vorzuwerfen. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist damit zulässig. Sie ist auch begründet.

Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung u.a. zuzulassen, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat.

Einer Sache kommt dann grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG zu, wenn sie Rechtsfragen aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern (Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 144 Rn 28). Eine solche Rechtsfrage wird vorliegend zur Beantwortung gestellt. Zwar sind die Fragen der Anrechnung von Einkommen sowie des Abzugs der Freibeträge nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II und § 30 SGB II Gegenstand zahlreicher höchstrichterlicher Rechtsprechung und zwar sowohl hinsichtlich der Frage der Anrechnung von Fahrtkosten (BSG Urteil v. 09.11.2010 - B 4 AS 78/10 R = juris Rn. 12; BSG Urteil v. 09.11.2010 - B 4 AS 7/10 R = juris Rn. 16) als auch der Berücksichtigung der Zulagen und Zuschläge als Entgeltbestandteile (vgl. BSG Urteil v. 01.06.2010 - B 4 AS 89/09 R = juris Rn. 15). Allerdings erscheint die Frage, ob in Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Hilfebedürftige seine Arbeit nicht dauerhaft an einem Ort verrichtet, sondern seine Arbeit an ständig wechselnden Tätigkeitsstätten, nämlich den jeweiligen Bewachungsobjekten, ausübt, eine Anwendbarkeit des § 6 Abs. 3 Alg-II VO - wie vom Sozialgericht angenommen - ausscheidet, bislang nicht höchstrichterlich geklärt.

Das Beschwerdeverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung durch die Beschwerdeführer bedarf es nicht, § 145 Abs. 5 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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