L 15 U 30/08

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 14 U 75/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 U 30/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 11/09 B
Datum
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 02. Januar 2008 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Rechtsstreit wird um die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall geführt.

Die 1952 geborene Klägerin ist seit 1972 im Arbeitsbereich der Werkstatt für behinderte Menschen im Kreis H in der Verpackungsabteilung tätig. Wegen der Folgen einer in der Kindheit erlittenen Meningitis leidet sie an einer geistigen Behinderung sowie einer spastischen Heimiplege links. Sie ist auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen.

Am 27.07.2006 suchte die Klägerin, begleitet von einer Betreuerin, den Toilettenraum der Werkstatt auf und verrichtete dort die Notdurft. Die Betreuerin befand sich während des gesamten Zeitraums des Toilettengangs mit der Klägerin in der Behindertentoilette. Beim Wiederankleiden stürzte die Klägerin und zog sich eine Fraktur des linken oberen Sprunggelenks zu. Die Werkstatt für behinderte Menschen schilderte mit Schreiben vom 15.12.2006 den Hergang wie folgt: "Die Betreuerin X war - wie immer - während des gesamten Zeitraums des Toilettengangs in der Behindertentoilette. Die Toilette besteht nur aus einem Raum. Es gibt keine Kabine. Frau E wurde mit dem Rollstuhl zur Toilette gefahren. An der Toilette befinden sich Griffe. Die Betreuerin unterstützt Frau E beim Hochziehen an den Griffen. Frau E steht dann für die Zeit des Hoseherunterziehens eigenständig an den Griffen. Nach Beendigung des Toilettengangs wiederholt sich der Ablauf in umgekehrter Reihenfolge."

Mit Bescheid vom 11.10.2006 lehnte der Gemeindeunfallversicherungsverband Westfalen-Lippe (GUV), Rechtsvorgänger der Beklagten, die Entschädigung des Unfalls als Arbeitsunfall als Arbeitsunfall mit der Begründung ab, die Verrichtung der Notdurft sei grundsätzlich dem persönlichen unversicherten Lebensbereich zuzurechnen. Davon umfasst sei der gesamte Aufenthalt in der Toilettenanlage. Die Toilettenanlage habe auch keine besonderen Gefahrenmomente aufgewiesen, die als wesentliche Ursache des Sturzes angesehen werden könnten.

Mit dem Widerspruch machte die Klägerin geltend, es bestehe ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen ihrer Tätigkeit in der Werkstatt und dem Aufsuchen der Toiletten. Hinzu komme, dass sie nicht allein auf die Toilette gehen könne und dabei der Betreuung bedarf. Beim Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) stehe nicht nur die eigentliche Beschäftigung, sondern die Betreuung im Vordergrund. Diese Betreuung sei beim Toilettengang nicht unterbrochen worden. Der GUV wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.02.2007 zurück, eine Erweiterung des Versicherungsschutzes Behinderter, die in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen tätig seien, auch dem Grunde nach unversicherte, persönlichen Lebensbereich zu zurechnende Tätigkeiten sei nicht möglich.

Mit der Klage zum Sozialgericht Detmold hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt und zusätzlich noch vorgetragen, sie sei nicht aus innerer Ursache gestürzt, insbesondere habe sie keinen Schwächeanfall erlitten. Die Toilette habe auch einen besonderen Gefahrenherd dargestellt, da sie anders als normale Toiletten mit zusätzlichen Einrichtungen (z.B. Haltegriffen) "ausgestattet" sei.

Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 02.01.2008, auf dessen Begründung bezug genommen wird, die Klage abgewiesen.

Mit der Berufung wiederholt und vertieft die Klägerin ihr Vorbringen aus dem ersten Rechtszug.

Sie beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 02.01.2008 zu ändern und unter Aufhebung des Bescheides vom 11.10.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2007 festzustellen, dass der Unfall der Klägerin vom 27.07.2006 ein Arbeitsunfall war.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten und der Streitakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zurecht abgewiesen; denn die Klägerin hat keinen Arbeitsunfall erlitten.

Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer dem Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit. Die Klägerin war aufgrund der von ihr ausgeübten Tätigkeit in einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII Kraft Gesetzes versichert. Es fehlt aber an dem erforderlichen inneren Zusammenhang zwischen dem konkreten unfallbringenden Verhalten und dem generell versicherten Tätigkeitsbereich. Dieser innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (std. Rspr. des BSG, vgl. BSG SozR 3-2400 § 8 Nr. 1 mwN).

An diesem Zusammenhang fehlt es bei einem Unfall, der sich beim Verrichten der Notdurft ereignet. Diese Tätigkeit gehört zu den zahlreichen Verrichtungen, ohne die zwar eine ordnungsgemäße Arbeitstätigkeit nicht möglich ist, die aber trotzdem grundsätzlich im unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind (ständige gefestigte Rechtsprechung, vgl. BSG vom 27.08.1981 - 2 RU 47/79 - USK 81 220; BSG Soz-R 2200, § 548 Nr. 97 jeweils m.w.N. aus der Rechtsprechung). Dies gilt gegen der Auffassung der Klägerin nicht nur für Beschäftigte, die nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII unter Versicherungsschutz stehen, sondern auch für den Personenkreis der nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII Versicherten. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, die auf die Tätigkeit in der Werkstatt für behinderte Menschen abstellt und nicht etwa auf den Aufenthalt oder die Betreuung in einer solchen Einrichtung.

Die Betreuung des behinderten Menschen ist weder die vorrangige Aufgabe der Werkstatt für behinderte Menschen noch Zugangsvoraussetzung. Sie dient vielmehr der angemessenen beruflichen Bildung, der Beschäftigung zu einem der Leistung angemessenen Arbeitsentgelt und der Erhaltung, Entwicklung, Erhöhung sowie dem Wiedergewinnen der Leistungs- und Erwerbsfähigkeit (§ 136 Abs. 1 S. 2 des Neunten Buchs des Sozialgesetzbuchs - SGB IX). Zugangsvoraussetzung ist, dass der behinderte Mensch einerseits zwar wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden kann (§ 136 Abs. 1 S. 1 SGB IX), andererseits aber erwartet werden kann, dass er wenigstens ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen kann (§ 136 Abs. 2 SGB IX). Die Aufnahme erfolgt unabhängig vom Bedarf an begleitender Betreuung (§ 137 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB IX).

Auch Entstehungsgeschichte, Sinn und Zweck der Regelung sprechen gegen die von der Klägerin vertretene Auffassung. Die Reichsversicherungsordnung (RVO) in der bis zum 31.12.1996 geltenden Fassung enthielt keine § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII vergleichbare Regelung. Das BSG hat gleichwohl Versicherungsschutz für behinderte Menschen in anerkannten Werkstätten in der Unfallversicherung nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO für die auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten angenommen. Begründet hat das BSG diese Gleichstellung mit der im Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter vom 07.05.1975 (BGBl. I S. 1061) enthaltene Beschäftigungsfiktion für die Krankenversicherung und Rentenversicherung (vgl. BSGE 65, 138 ff.; BSG vom 01.07.1997 - 2 RU 32/96 - USK 9799). Auf der Basis dieser Rechtslage hat der Gesetzgeber mit § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII den Personenkreis behinderter Menschen, die in anerkannten Behindertenwerkstätten tätig sind, in die gesetzliche Unfallversicherung aufgenommen, um - bei gleicher Schutzbedürftigkeit - eine Gleichstellung mit Beschäftigten zu erreichen (vgl. Lauterbach-Schwerdtfeger, Rn 184 zu § 2 SGB VII; Amtliche Begründung der Bundesregierung, BT-Drucksache 13/2204 S. 74 unter ausdrücklichem Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG). Daraus folgt, dass die Ausgrenzung privater Verrichtungen aus dem Versicherungsschutz für beide Personengruppen identisch ist.

Die Toilette in der Werkstatt stellt auch keine gefährliche Betriebseinrichtung dar. Durch das Anbringen von Haltegriffen ist nicht - wie von der Klägerin vorgetragen - eine besondere Gefahrenquelle gegenüber normalen Toiletten geschaffen worden. Im Gegenteil wird dadurch zusätzlich für die Sicherheit des behinderten Personenkreises gesorgt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Es bestand kein Grund, nach § 160 Abs. 2 SGG die Revision zu zulassen.
Rechtskraft
Aus
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