L 8 R 699/12 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 6 R 1052/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 R 699/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 8.8.2012 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.377,20 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin, ein in der Rechtsform der GmbH betriebenes Personaldienstleistungsunternehmen, begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 6.6.2012, mit dem diese Sozialversicherungsbeiträge für von der Antragstellerin an andere Unternehmen überlassene Arbeitnehmer auf der Basis des sog. Equal-pay-Lohnes verlangt. Die Antragsgegnerin stützt diese Nachforderung u.a. auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 14.12.2010 zur Tarifunfähigkeit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP).

Das Sozialgericht (SG) Köln hat die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 6.6.2012 angeordnet, soweit die Antragsgegnerin Nachforderungen für den Zeitraum vom 1.12.2005 bis 31.12.2006 geltend macht (Beschluss v. 8.8.2012). Unter Hinweis auf die Entscheidung des erkennenden Senates vom 10.5.2012 (L 8 R 164/121 B ER, juris) hat das SG ausgeführt, es bestünden erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides für den genannten Zeitraum, weil bei summarischer Prüfung von einer Verjährung gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) auszugehen sei. Bedingter Vorsatz der Antragstellerin hinsichtlich der Nichtentrichtung von Beiträgen bereits im Dezember 2010 könne nicht pauschal angenommen werden. Selbst bei unterstellter Kenntnis des Tenors des Beschluss vom 14.12.2010 sei ohne Vorliegen der schriftlichen Entscheidungsgründe nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass die Antragstellerin zu diesem Zeitpunkt bereits die Möglichkeit rückwirkender Beitragsforderung ernsthaft in Betracht gezogen habe.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin, mit der diese vorträgt: Das SG habe sich mit der "abweichenden Rechtsauffassung" anderer Gerichte nicht hinreichend auseinandergesetzt, wonach die Arbeitgeber der Zeitarbeitsbranche spätestens ab dem 14.12.2010 ihre rückwirkende Zahlungspflicht hätten für möglich halten müssen und die Nichtabführung der Beiträge billigend in Kauf genommen hätten. Die Antragstellerin habe selbst mit Schreiben vom 23.5.2011 vorgetragen, dass sie nach Prüfung der Sach- und Rechtslage die vorzunehmenden Beitrags- und Meldekorrekturen nicht bis zum 31.5.2011 vornehmen könne. Dies zeige, dass sie ihre Zahlungspflicht seit der Verkündung der Entscheidung des BAG für möglich gehalten habe. Entsprechendes habe sich auch aus einer von der Antragstellerin zitierten Pressemitteilung vom 18.3.2011 ergeben. Zudem habe der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin schriftsätzlich auf den Inhalt der Homepage der Antragsgegnerin vom 21.12.2010 verwiesen, wo diese selbst die Frage der Rückwirkung des Beschlusses des BAG als noch nicht beantwortbar bezeichnet habe.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 8.8.2012 aufzuheben und den Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 6.6.2012 abzulehnen, soweit die Antragsgegnerin Nachforderungen für den Zeitraum vom 1.12.2005 bis 31.12.2006 geltend gemacht hat.

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält den Beschluss des SG für zutreffend. Bedingter Vorsatz könne nur aufgrund konkreter unternehmensbezogener Feststellungen angenommen werden. Eine allgemeine Kenntnis der betroffenen Unternehmen bereits im Dezember 2010 könne man dagegen nicht unterstellen. Aus dem Hinweis ihres Prozessbevollmächtigten auf die Homepage der Antragsgegnerin vom 21.12.2010 folge nichts anderes. Sie habe ihren Bevollmächtigten erst 2012 mandatiert. Dessen Wissen könne ihr daher nicht rückwirkend zugerechnet werden.

Die Prüfakten der Antragsgegnerin sind beigezogen worden.

II.

Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist unbegründet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das SG die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 6.6.2012 angeordnet, soweit darin Nachforderungen für den Zeitraum vom 1.12.2005 bis 31.12.2006 geltend gemacht werden. Der Senat schließt sich der Begründung des SG in vollem Umfang an und sieht insoweit von einer eigenen Begründung ab (§ 142 Abs. 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Das Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin führt zu keiner anderen Beurteilung.

1. Die rechtlichen Voraussetzungen der 30jährigen Verjährungsfrist nach § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV sind geklärt. Danach ist Voraussetzung, dass der Beitragsschuldner die Beiträge vorsätzlich vorenthalten hat. Es reicht aus, dass der Vorsatz zur Vorenthaltung der Beiträge bis zum Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist eingetreten ist. Weiter genügt es, dass der Beitragsschuldner bedingt vorsätzlich gehandelt, er also seine Beitragspflicht für möglich gehalten und die Nichtabführung der Beiträge billigend in Kauf genommen hat. Diese Voraussetzungen müssen konkret festgestellt, d.h. anhand der Umstände des Einzelfalles und bezogen auf den betroffenen Beitragsschuldner durch Sachverhaltsaufklärung individuell ermittelt werden. Die objektive Beweislast trifft im Zweifel den Versicherungsträger, der sich auf die für ihn günstige längere Verjährungsfrist beruft (BSG, Urteil v. 30.3.2000, B 12 KR 14/99 R, SozR 3-2400 § 25 Nr. 7; Urteil v. 26.1.2005, B 12 KR 3/04 R, SozR 4-2400 § 14 Nr. 7; jeweils m.w.N.). Der erkennende Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass diese Grundsätze auch für die Nachforderung von Beiträgen auf der Grundlage des geschuldeten Equal-pay-Lohnes wegen der Unwirksamkeit der von der CGZP geschlossenen Tarifverträge gelten (Beschlüsse v. 10.5.2012, L 8 R 164/12 B ER, v. 25.6.2012, L 8 R 382/12 B ER, v. 20.9.2012, L 8 R 630/12 B ER; jeweils juris).

2. Ausgehend hiervon ist zwei zentralen Argumenten der Antragsgegnerin bereits im Ansatz nicht zu folgen:

a) Ob ein Arbeitgeber der Zeitarbeitsbranche spätestens ab dem 14.12.2010 seine rückwirkende Zahlungspflicht für möglich gehalten und die Nichtabführung der Beiträge billigend in Kauf genommen hat, ist keine Rechts-, sondern eine Tatsachenfrage, die im konkreten Fall bezogen auf den individuellen Arbeitgeber zu beantworten ist. Dementsprechend kommt es nicht darauf an, wie andere Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sie bezogen auf andere Arbeitgeber beantwortet haben.

b) Da es entscheidend ist, ob der Arbeitgeber seine Beitragspflicht tatsächlich für möglich gehalten hat, ist es unerheblich, ob die Arbeitgeber der Zeitarbeitsbranche spätestens ab dem 14.12.2010 ihre rückwirkende Zahlungspflicht für möglich hätten halten müssen. Insoweit dürfen die Voraussetzungen des bedingten Vorsatzes nicht mit dem im Zivilrecht geltenden Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bei Fahrlässigkeit (vgl. § 276 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]) vermischt werden.

3. Soweit es in diesem Zusammenhang auf die Kenntnis des Arbeitgebers ankommt, ist bei juristischen Personen in erster Linie auf die Kenntnis der für sie handelnden vertretungsberechtigten Organwalter (vgl. BGH, Urteil v. 8.12.1989, V ZR 246/87, NJW 1990, 975 f. m.w.N.) abzustellen. Handelt es sich - wie im vorliegenden Fall - um eine GmbH, ist also die Kenntnis zumindest eines der Geschäftsführer maßgebend. Außerdem ist das Wissen derjenigen Mitarbeiter zuzurechnen, die mit der Wahrnehmung der Pflichten des Arbeitgebers bei der Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags gemäß § 28e Abs. 1 Satz 1 SGB IV bevollmächtigt sind (vgl. § 166 Abs. 1 BGB). Darüber hinaus kann das Wissen anderer Mitarbeiter zuzurechnen sein, sofern dieses Wissen bei ordnungsgemäßer Organisation im Betrieb weiterzugeben und im Rahmen der Erfüllung der Arbeitgeberpflichten abzufragen ist (vgl. BGH, Urteil v. 13.12.2000, V ZR 349/99, NJW 2001, 359 f.). Schließlich kommt auch die Zurechnung des Wissens eines (selbstständigen) Rechtsanwalts oder Steuerberaters im Rahmen der Wissensvertretung nach § 166 Abs. 1 BGB in Betracht, soweit die betreffenden Kenntnisse in Wahrnehmung des konkreten Mandats erlangt worden sind.

4. Im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung sind keine Umstände ersichtlich oder vorgetragen worden, die in diesem Sinne für eine Kenntnis der Antragstellerin von der Möglichkeit der rückwirkenden Beitragspflicht bereits im Dezember 2010 sprechen.

a) Soweit die Antragstellerin mit Schreiben vom 23.5.2011 vorgetragen hat, dass sie nach Prüfung der Sach- und Rechtslage die vorzunehmenden Beitrags- und Meldekorrekturen nicht bis zum 31.5.2011 vornehmen könne, besagt dies nichts über eine Kenntnis der mit dieser Prüfung befassten Personen bereits im Dezember 2010. Dasselbe gilt, soweit die Antragstellerin sich auf eine Pressemitteilung der Antragsgegnerin vom 18.3.2011 bezieht.

b) Das Wissen ihres Prozessbevollmächtigten muss die Antragstellerin sich frühestens ab dem Zeitpunkt der Mandatierung im Jahr 2012 zurechnen lassen. Daher kann der Senat es ausdrücklich dahinstehen lassen, ob und ggf. in welchem Umfang sich ein Mandant Kenntnisse seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen muss, die dieser nicht unmittelbar aus der Befassung mit dem Mandat erlangt hat.

c) Eine tatsächliche Vermutung, dass die Arbeitgeber von Zeitarbeitsunternehmen bereits im Dezember 2010 die Entscheidung des BAG vom 14.12.2010 kannten, lässt sich nach derzeitigem Sachstand nicht rechtfertigen. Ob im Falle einer Kenntnis des Beschlusses eine tatsächliche Vermutung dafür besteht, dass zugleich eine Verpflichtung zur Zahlung rückwirkender Beiträge für möglich gehalten wurde, kann daher dahingestellt bleiben (vgl. demgegenüber zur weiteren Entwicklung im Laufe des Jahres 2011: Senat, Beschluss v. 20.9.2012, a.a.O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung.

Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren gemäß § 197a SGG i.V.m. §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 4 Gerichtskostengesetz entspricht der ständigen Senatspraxis, im einstweiligen Rechtsschutz von einem Viertel des Hauptsachenstreitwerts auszugehen.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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