L 9 AL 84/13 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 3 AL 132/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AL 84/13 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 13.02.2013 geändert. Dem Kläger wird für das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Duisburg ab dem 16.03.2012 ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt L aus N beigeordnet. Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet. Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten für die gegen den Bescheid vom 09.12.2011 über die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 09.12.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.02.2012 gerichtete Anfechtungsklage zu Unrecht abgelehnt.

1. Nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit §§ 114 Satz 1, 115 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen vor.

a) Entgegen der Auffassung des SG bietet die Klage hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die zulässige Anfechtungsklage im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGG ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs (vgl. insoweit den Beschluss des Senats vom 30.01.2013 - L 9 AL 246/12 B -, juris Rn. 7) begründet, denn die angefochtenen Bescheide sind formell rechtswidrig. Es fehlt an der Anhörung, welche gem. § 24 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) vor Erlass eines belastenden Verwaltungsaktes durchzuführen ist.

aa) Die Beklagte hat den Kläger vor Erlass des Aufhebungsbescheids vom 09.12.2011 nicht angehört.

bb) Die Anhörung war nicht nach der abschließenden Regelung des § 24 Abs. 2 SGB X entbehrlich.

(1) Die Beklagte konnte sich vorliegend nicht auf § 24 Abs. 2 Nr. 1 SGB X stützen, wonach von einer Anhörung abgesehen werden kann, wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint.

Das Vorliegen von Gefahr im Verzug im Sinne der 1. Alternative des § 24 Abs. 2 Nr. 1 SGB X ist dann anzunehmen, wenn die vorherige Anhörung des Beteiligten selbst bei kürzester Anhörungsfrist (z.B. mündlich, telefonisch oder auch elektronisch) einen Zeitverlust auslösen würde und hierdurch mit hoher Wahrscheinlichkeit der Zweck der zu treffenden Regelung nicht zu erreichen wäre (vgl. Franz, in: jurisPK-SGB X, § 24 Rn. 40 m.w.N.). Für die 2. Alternative des § 24 Abs. 2 Nr. 1 SGB X ist ein über das allgemeine öffentliche Interesse an der Rechtmäßigkeit behördlichen Handelns hinausgehendes Interesse zu verlangen. Es muss sich um ein wertmäßig gleichwertiges öffentliches Interesse wie bei Gefahr im Verzug handeln. Zu verlangen ist daher, dass bei Durchführung einer Anhörung andernfalls der mit dem Verwaltungsakt verbundene Zweck ganz oder zu einem nicht unwesentlichen Teil vereitelt zu werden droht (vgl. Franz, a.a.O., Rn. 41 m.w.N.).

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Infolge der nachschüssigen Zahlung von Arbeitslosengeld am Monatsende (vgl. § 337 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III)) hätte eine Anhörung mit kurzer Frist nach Ablauf des Leistungsfortzahlungszeitraums gemäß § 126 SGB III in der bis zum 31.03.2012 geltenden Fassung (SGB III a.F.) am 08.12.2011 nicht zu einer Überzahlung von Arbeitslosengeld geführt, so dass weder Gefahr im Verzug vorlag noch ein besonderes öffentliches Interesse bestand, von der Anhörung abzusehen.

(2) Die Anhörung war auch nicht nach § 24 Abs. 2 Nr. 5 SGB X entbehrlich, weil es nicht um die Anpassung einkommensabhängiger Leistungen an geänderte Verhältnisse ging, sondern um einen Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen für die Leistung des Arbeitslosengeldes (vgl. den Beschluss des Senats vom 30.01.2013 - L 9 AL 246/12 B -, juris Rn. 9).

cc) Der Anhörungsmangel ist nicht durch Nachholung der Anhörung im Widerspruchsverfahren gem. § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden bzw. unbeachtlich.

Die Heilung eines Anhörungsfehlers im Widerspruchsverfahrens setzt nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) voraus, dass (a) die Behörde dem Betroffen in dem angefochtenen Verwaltungsakt die wesentlichen Tatsachen mitteilt, auf die sie ihre Entscheidung stützt, wobei es hinsichtlich der Wesentlichkeit auf die - u.U. unzutreffende - Rechtsauffassung der Behörde ankommt, (b) dem Betroffenen Gelegenheit gegeben wird, zu den von der Behörde für entscheidungserheblich gehaltenen Tatsachen Stellung zu nehmen, wobei dies in der Regel durch die Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheids gewährleistet ist, es sei denn, die Behörde verwertet im Widerspruchsverfahren neue Tatsachen zu Lasten des Betroffenen, und (c) die Behörde im Widerspruchsbescheid erkennen lässt, dass sie die vorgebrachten Argumente des Widerspruchsführers zur Kenntnis genommen und abgewogen hat (vgl. BSG, Urt. v. 22.10.1998 - B 7 AL 106/97 R -, juris Rn. 26; Urt. v. 13.12.2001 - B 13 RJ 67/99 R -, juris Rn. 26 ff.; Urt. v. 11.06.2003 - B 5 RJ 28/02 R -, juris Rn. 29; Schütze, in: v. Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010 § 41 Rn. 15).

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, denn die Beklagte hat dem Kläger im Bescheid vom 09.12.2011 nicht alle Tatsachen mitgeteilt, die aus ihrer Sicht für die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 09.12.2011 wesentlich waren, und hat sich im Widerspruchsbescheid auf neue Tatsachen gestützt, zu denen sich der Kläger im Widerspruchsverfahren nicht äußern konnte. Aus Sicht der Beklagten, die sowohl im Bescheid vom 09.12.2011 als auch im Widerspruchsbescheid vom 15.02.2012 erkannt hat, dass aufgrund der gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X erst nach dem 09.12.2011 erfolgten Bekanntgabe des Aufhebungsbescheids teilweise eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit vorliegt, kam es auf die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X an. Dies kommt nicht nur dadurch zum Ausdruck, dass die Beklagte diese Vorschrift ohne weitere Konkretisierung im Bescheid vom 09.12.2011 zitiert hat, sondern zeigt sich vor allem daran, dass die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 15.02.2012 ausführlich zu den Voraussetzungen von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X Stellung nimmt. Zu der nach dieser Vorschrift erforderlichen inneren Tatsache der Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis des Wegfalls der Anspruchsvoraussetzungen enthielt der Bescheid vom 09.12.2011 jedoch keine Ausführungen. Hierauf ist die Beklagte, ohne dass sich der Kläger hierzu geäußert hat oder hätte äußern können, erstmals im Widerspruchsbescheid eingegangen (vgl. zum Vorstehenden auch BSG, Urt. v. 09.11.2010 - B 4 AS 37/09 R -, juris Rn. 13 sowie den Beschluss des Senats vom 30.01.2013 - L 9 AL 246/12 B -, juris Rn. 10).

dd) Der Anhörungsmangel ist schließlich bislang auch nicht im gerichtlichen Verfahren geheilt worden. Eine Nachholung der Anhörung parallel zum gerichtlichen Verfahren, welche grundsätzlich gem. § 41 Abs. 2 SGB X bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz möglich ist, setzt ein eigenständiges, nicht notwendigerweise formelles Verwaltungsverfahren voraus, in dessen Rahmen die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zur Äußerung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen gegeben hat und an dessen Ende sie zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält (BSG, Urt. v. 09.11.2010 - B 4 AS 37/09 R -, juris Rn. 14; Urt. v. 07.07.2011 - B 14 AS 144/10 R -, juris Rn. 21). Ein solches Anhörungsverfahren parallel zum gerichtlichen Verfahren ist bislang nicht erfolgt (vgl. zum Ganzen auch den Beschluss des Senats vom 30.01.2013 - L 9 AL 246/12 B -, juris Rn. 11).

ee) Einer Bewilligung von Prozesskostenhilfe steht nicht entgegen, dass die Klage im Falle rechtmäßiger Nachholung des Anhörungsverfahrens im Ergebnis erfolglos bleiben könnte, weil sich die angefochtenen Bescheide als materiell rechtmäßig erweisen könnten (vgl. zum Ganzen ausführlich den Beschluss des Senats vom 30.01.2013 - L 9 AL 246/12 B -, juris Rn. 12 ff.). Zudem ist möglicherweise durch weitere Ermittlungen von Amts wegen zu klären, ob infolge der nach der Begutachtung durch die Beklagte neu hinzugetretenen psychischen Erkrankung des Klägers spätestens ab dem 09.12.2011 die Voraussetzungen des § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F. vorlagen. Ein Anspruch des Klägers auf Krankengeld dürfte demgegenüber nach dem Beschwerdevorbringen gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) ausscheiden, weil die psychische Erkrankung des Klägers während der durch die orthopädischen Gesundheitsstörungen verursachten Arbeitsunfähigkeit hinzugetreten sein dürfte und der Anspruch auf Krankengeld wegen der zuletzt genannten Erkrankung erschöpft ist. Eine Beiladung und Verurteilung der Krankenkasse des Klägers gemäß § 75 Abs. 2 2. Alt., Abs. 5 SGG (vgl. hierzu im Allgemeinen BSG, Urt. v. 02.11.2000 - B 11 AL 25/00 R - juris Rn. 25) dürfte daher nicht in Betracht kommen.

b) Die Rechtsverfolgung ist in Anbetracht der vorstehenden Ausführungen nicht mutwillig.

c) Es liegen auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine ratenfreie Bewilligung von Prozesskostenhilfe vor. Der Kläger ist als Bezieher von Arbeitslosengeld II außerstande, die Kosten der Prozessführung im Sinne von § 73a SGG i.V.m. § 115 ZPO aus seinem Einkommen aufzubringen.

Er hat auch im Sinne von § 118 Abs. 2 Satz 1 ZPO glaubhaft gemacht, dass er nicht über nach § 115 Abs. 3 ZPO einzusetzendes Vermögen verfügt. Der Kläger ist zwar zusammen mit seiner Ehefrau Eigentümer einer von ihm selbst nicht genutzten Eigentumswohnung, die nicht zu dem nach § 115 Abs. 3 Satz 2 ZPO i.V.m. § 90 Abs. 2 Nr. 8 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) geschützten Vermögen gehört. Der Senat hält es jedoch bei der im vorliegenden Prozesskostenhilfeverfahren allein möglichen summarischen Prüfung für unwahrscheinlich, dass die Wohnung im Sinne von § 90 Abs. 1 SGB XII verwertbar ist. Zum einen ist das Wohneigentum mit Grundpfandrechten der D AG belastet, die zum 20.08.2012 noch eine Darlehensforderung in Höhe von 64.185,19 Euro gesichert haben. Da die Kläger seit 2011 keine Zins- und Tilgungsleistungen mehr erbracht haben, dürfte diese Forderung infolge weiterer angefallener Zinsen sogar noch angewachsen sein. Ob die Wohnung einen der offenen Darlehensforderung entsprechenden Wert hat und im Falle einer Verwertung durch Verkauf auch erzielen könnte, erscheint in Anbetracht ihres renovierungsbedürftigen Zustandes äußerst zweifelhaft. Auch eine weitere Belastung dürfte deshalb nicht möglich sein, zumal der Kläger bereits mit seinen Darlehensraten gegenüber der D AG in Verzug ist und voraussichtlich kein weiteres Darlehen bekommen wird. Zum anderen setzt eine Verwertbarkeit im Sinne von § 90 Abs. 1 SGB XII voraus, dass sich die Möglichkeit einer Verwertung in einem zeitlich vorhersehbaren Rahmen bewegt (vgl. BSG, Urt. v. 19.05.2009 - B 8 SO 7/08 R -, juris Rn. 21 m.w.N.). Ein solcher zeitlich vorhersehbarer Rahmen kann hier gegenwärtig nicht festgestellt werden, da sich der Kläger nach eigenem Vorbringen schon länger um einen Verkauf bemüht, jedoch keinen Käufer gefunden hat.

Der Senat verkennt nicht, dass zur endgültigen Klärung der Verwertbarkeit des Vermögens weitere Ermittlungen notwendig wären. Diese müssen jedoch nicht im Verfahren auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe erfolgen, zumal die Möglichkeit besteht, nach einer etwaigen Verwertung der Eigentumswohnung nach § 120 Abs. 4 ZPO vorzugehen.

2. Die Beiordnung des Prozessbevollmächtigten des Klägers folgt unabhängig vom Wert des Streitgegenstandes im Hinblick auf die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage aus § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (§ 73a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).

4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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