L 19 AS 248/14

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 4 AS 758/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 248/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 08.01.2014 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Der Beklagte trägt die Hälfte der notwenigen außergerichtlichen Kosten der Kläger für das erstinstanzliche Verfahren. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Beklagte wendet sich gegen die Verurteilung, den Klägern für die Zeit ab dem 01.09.2012 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlichem Umfang zu bewilligen.

Die 1976 geborene Klägerin zu 1) und ihr Sohn, der 2008 geborene Kläger zu 2), sind italienische Staatsangehörige. Seit Mitte September 2010 hielten sie sich in der Bundesrepublik auf. Nach zwischenzeitlichem Aufenthalt in C und T zogen die Kläger im Juni 2012 nach L, wo sie in der Unterkunft Hotel M, M 00 eingewiesen wurden. Zum 01.12.2012 bezogen sie eine ca. 59 qm große Zweizimmerwohnung in der G-straße 00 in L zu einer Gesamtmiete von 479,41 EUR monatlich. Mit Urteil vom 18.09.2014 verurteilte das Amtsgericht L die Klägerin zu 1), die Wohnung zu räumen und an den Vermieter herauszugeben.

Aufgrund mehrerer, die Regelbedarfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes im Wege des Eilrechtsschutzes zusprechender Beschlüsse (Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 20.06.2012 - S 6 AS 2383/12 ER - =) Beschluss des LSG NRW vom 17.01.2013 - L 7 AS 1224/12 B ER -; Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 28.01.2013 - S 28 AS 102/13 ER -) bezogen die Kläger u.a. in der Zeit vom 01.09.2012 bis zum 30.06.2013 -je nach örtlicher Zuständigkeit - zunächst vom Jobcenter S, sodann vom Jobcenter Kreis T und schließlich vom Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe der Regelbedarfe. Ab Januar 2013 übernahm der Beklagte die Kosten für Unterkunft und Heizung. Für den Zeitraum ab Juli 2013 bewilligte er den Klägern unter Verweis auf§§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe der Regelbedarfe (Bescheid vom 11.06.2013 betreffend den Zeitraum Juli bis November 2013, Bescheid vom 09.12.2013 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 20.01.2014 betreffend den Zeitraum von Dezember 2013 bis Mai 2014).

In der Zeit vom 01.01.2014 bis 20.02.2014 war die Klägerin zu 1) sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Laut Angabe des Einwohnermeldeamtes der Stadt L verzogen die Kläger zum 01.04.2014 nach Großbritannien. Unter dem 09.07.2014 entzog der Beklagte den Klägern die bewilligten Leistungen für den Zeitraum ab 01.04.2014.

Am 27.09.2012 beantragten die Kläger beim Beklagten die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Durch Bescheid vom 15.10.2012 lehnte der Beklagte den Antrag unter Verweis auf § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ab. Da die Kläger sich allein zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland aufhielten, seien sie von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Hiergegen legten die Kläger, am 08.11.2012 Widerspruch ein, welchen der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21.01.2013 als unbegründet zurückwies.

Am 24.02.2013 haben die Kläger vor dem Sozialgericht Köln Klage erhoben. Sie haben in der Klageschrift schriftsätzlich beantragt, "den Bescheid vom 15.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.01.2013 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Klägern Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren".

In der mündlichen Verhandlung haben die anwaltlich vertretenen Kläger beantragt,

ihnen vorläufig für die Zeit ab dem 01.09.2012 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit Urteil vom 08.01.2014 hat das Sozialgericht Köln den Bescheid vom 15.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.01.2013 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, den Klägern ab dem 01.09.2012 vorläufig Leistungen nach dem SGB II in gesetzlichem Umfang zu bewilligen. Zur Begründung hat sich das Sozialgericht auf §§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III gestützt. Hiernach seien den Klägern vorläufig Leistungen nach dem SGB II zu gewähren, da die Frage der Vereinbarkeit des Ausschlusstatbestands des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit Gemeinschaftsrecht dem EuGH vorläge (Vorlagebeschluss des BSG vom 12.12.2013- B 4 AS 9/13 R).

Gegen das ihm am 30.01.2014 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 12.02.2014 Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, dass die Kläger gemäß § 7 Abs^ 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen seien.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 08.01.2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger stellen im Berufungsverfahren keinen Antrag.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der. beigezogenen Akten des Sozialgerichts Köln S 6 AS 2328/12 ER, S 28 AS 102/13 ER, S 40 AS 3786/12, S 24 AS 3335/13 ER und der Akte des Amtsgerichts L xxx Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung vorläufiger Leistungen nach §§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III für die Zeit ab dem 01.09.2012.

Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Bescheid vom 15.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.01.2013 aufgehoben und den Klägern vorläufige Leistungen nach §§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III für die Zeit ab dem 01.09.2012 zugesprochen.

Die von den Klägern erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 2, Abs. 4 SGG gerichtet auf die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von vorläufigen Leistungen nach §§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III ist unzulässig.

Mit der Änderung ihres Klageantrags in der mündlichen Verhandlung haben die Kläger die zunächst erhobene, auf die Gewährung von endgültigen Leistungen gerichtete, kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zurückgenommen und ihr Klageziel im Wege einer Klageänderung i.S.v. § 99 SGG auf die Gewährung von vorläufigen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts geändert.

Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 08.01.2013, welchem nach § 122 SGG i. V. m. § 165 ZPO volle Beweiskraft für die vorgeschriebenen Förmlichkeiten der mündlichen Verhandlung zukommt, haben die anwaltlich vertretenen Kläger in der mündlichen Verhandlung statt der zunächst beantragten endgültigen Leistungen nunmehr die Gewährung von vorläufigen Leistungen gemäß §§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, 328 Abs. 1 S.1 Nr. 1 SGB III beantragt. Diese Änderung des Klageantrags, aufweiche der Beklagte sich rügelos eingelassen hat (§ 99 Abs. 2 SGG), beinhaltet eine Rücknahme der gegen den Bescheid vom 15.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.01.2013 erhobenen und auf die Gewährung endgültiger Leistungen gerichteten kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage. Denn vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach §§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB IM stellen ein aliud gegenüber endgültigen Leistungen dar (BSG Urteil vom 29.04.2015 - B 14 AS 31/14 R - mit Zusammenfassung der Rechtsprechung). Die Rücknahme einer Klage muss nicht ausdrücklich erklärt werden, sondern kann auch konkludent in einer Antragsbeschränkung oder Klageänderung liegen (vgl. LSG Baden-Württemberg Urteil vom 18.09.2009 - L 8 U 5884/08 -; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 102 Rdnr. 7b).

Die demnach ausschließlich auf die Gewährung von vorläufigen Leistungen gerichtete Klage ist unzulässig. Zwar kann bei Ablehnung einer vorläufigen Leistungsgewährung eine kombinierte Anfechtungs- und (Verpflichtungs-)Leistungsklage nach § 54 Abs. 2, 4 SGG statthaft und zulässig sein (siehe zum Rechtsschutz betreffend Bescheide nach §§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, §328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III: BSG Urteile vom 10.05.2011-B4 AS 139/10 R-, SozR 4-4200 § 11 Nr. 38 und vom 06.04.2011 - B 4 AS 119/10 R-, BSGE 108, 86).

Prozessuale Voraussetzung für eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungs/Leistungsklage ist aber, dass eine ablehnende Verwaltungsentscheidung über die begehrte Leistung ergangen ist (vgl. BSG Urteile vom 20.12.2001 - B 4 RA 50/01 R - und vom 18.07.1996 - 4 RA 7/95 -, SozR 3-8570 § 8 Nr. 2). Vorliegend mangelt es an einem entsprechenden Verwaltungsakt.

Der angefochtene Bescheid vom 15.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.01.2013 verhält sich nicht über einen etwaigen Anspruch der Kläger auf Gewährung von vorläufigen Leistungen nach §§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III, sondern enthält ausschließlich die ablehnende Entscheidung des Beklagten über eine endgültige Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit ab dem 01.09.2012. Eine anderweitige Auslegung kommt angesichts des Wortlauts der Bescheide und des zeitlichen Ablaufs nicht in Betracht.

Der Regelungsgehalt eines Verwaltungsaktes ist ausgehend vom Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten und unter Berücksichtigung derjenigen Zusammenhänge, die die Behörde erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat, zu bestimmen (BSG, Urteil vom 06.04.2011, a.a.O., m.w.N.). Da dem Ausspruch der Vorläufigkeit eigenständiger Verfügungscharakter zukommt, muss ein Verwaltungsakt eindeutig erkennen lassen, ob und inwieweit eine vorläufige Regelung getroffen wurde (BSG, Urteil vom 06.04.2011, a.6.0. unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 15.8.2002 - B 7 AL 24/01 R -, SozR 3-4100 § 147 Nr. 1 und BSG Urteil vom 28.6.1990 - 4 RA 57/89 -, BSGE 67, 104). Hieran mangelt es vorliegend. Weder der Bescheid vom 15.10.2012 noch der hierüber ergangene Widerspruchsbescheid vom 21.01.2013 lassen ihrem Wortlaut nach auch nur andeutungsweise erkennen, dass neben der ablehnenden Entscheidung über die endgültige Bewilligung von Leistungen auch eine etwaige vorläufige Bewilligung vom Beklagten geprüft und abgelehnt worden ist. Zudem bestand im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung kein An-lass, über eine vorläufige Bewilligung nach §§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III zu entscheiden. Gemäß § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III, welcher nach § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II auch im Anwendungsbereich des SGB II entsprechend anwendbar ist, kann über die Erbringung von Geldleistungen vorläufig entschieden werden, wenn die Vereinbarkeit einer Vorschrift dieses Buches, von der die Entscheidung über den Antrag abhängt, mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Bundesverfassungsgericht oder dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist. Die Rechtsfrage, ob § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, war bei Erlass des Widerspruchsbescheids (21.01.2013) noch nicht beim EuGH anhängig. Die entsprechenden Vorlagebeschlüsse des Bundessozialgerichts (Rechtssache Alimanovic - C-67/14 -) sowie des Sozialgerichts Leipzig (Rechtssache Dano - C-333/13 -) datieren vom 12.12.2013 bzw. vom 03.06.2013, also nach Erlass des Widerspruchsbescheids.

Schließlich impliziert die Ablehnung der Bewilligung von endgültigen Leistungen keine automatische Ablehnung vorläufiger Leistungen. Denn nach Tatbestandsvoraussetzungen, Funktion und Zielrichtung handelt es sich um andersgeartete Regelungsgegenstände. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, vorläufige Leistungen nach §§ 40 Abs. 2 Nr. 1, SGB II, 328 SGB III als eigenständiges Institut (Leistung "sui generis") und gegenüber endgültigen Leistungen als aliud anzusehen, da ihnen nach Zweck und Wirkung eine völlig andere Funktion zukommt (BSG Urteile vom 29.04.2015, a.a.O.). Während eine endgültige Bewilligung daraufgerichtet ist, einen Anspruch dem Grunde und der Höhe nach verbindlich festzustellen, entspricht es Wesen und Aufgabe einer vorläufigen Bewilligung, bei unklarer Tatsachen- oder Rechtslage eine nicht auf Dauer ausgelegte Zwischenregelung zu treffen (BSG, a.o.O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und trägt dem Umstand Rechnung, dass erstinstanzlich die in weiten Teilen ungeklärte Rechtsfrage streitbefangen war, ob und unter welchen Umständen der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr: 2 SGB II zum Tragen kommt (LSG NRW Urteil vom 01.06.2015 - L 19 AS 1923/14 -)

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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