Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 24 AS 1149/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 AS 225/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Beigeladenen wird der Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 18.01.2016 geändert. Anstelle des Beigeladenen wird der Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller die vom Sozialgericht in der angefochtenen Entscheidung zuerkannten Leistungen zu erbringen. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde des Beigeladenen ist begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht den Beigeladenen anstelle des Antragsgegners zur Erbringung von Leistungen zum Lebensunterhalt an den Antragsteller in Form von Regelleistungen verpflichtet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (Anordnungsanspruch), und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (Anordnungsgrund). Eilbedürftigkeit besteht, wenn dem Betroffenen ohne die Eilentscheidung eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl. BVerfG, Beschl. vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05, Rn. 23 bei juris). Der gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) von den Gerichten zu gewährende effektive Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (BVerfG, Beschl. vom 16.05.1995 - 1 BvR 1087/91, Rn. 28 bei juris).
Der geltend gemachte (Anordnungs-)Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung -ZPO-). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. BSG, Beschl. vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01, Rn. 5 bei juris).
Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG, Beschl. vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05, Rn. 24 f. bei juris). Liegt ein Anordnungsanspruch nicht vor, ist ein schützenswertes Recht zu verneinen und der Eilantrag abzulehnen. Hat die Hauptsache hingegen offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist dem Eilantrag stattzugeben, wenn die Angelegenheit eine gewisse Eilbedürftigkeit aufweist. Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend berücksichtigt (BVerfG, Beschl. vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05, Rn. 26 bei juris; vgl. auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 86b Rn 29a).
Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage spricht viel dafür, dass der Antragsteller keinen Anspruch auf Leistungen zu seinem Lebensunterhalt gegen den Beigeladenen nach dem 3. Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch (SGB XII) hat. Dabei kann der Senat offen lassen, ob in Fällen erwerbsfähiger EU-Ausländer, bei denen kein Leistungsanspruch nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) besteht, ein Anspruch aus §§ 27 ff. SGB XII folgt, weil §§ 21 Satz 1, 23 Abs. 1 Satz 3 bzw. § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB XII entsprechend auszulegen sind (so u. a. Bundessozialgericht - BSG - Urteile vom 03.12.2015, B 4 AS 59/13 R, RdNrn. 18 ff. m.w.N., B 4 AS 44/15 R, RdNrn. 39 ff. bei juris; Urteile vom 16.12.2015, B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R, bisher im Volltext noch nicht veröffentlicht, sowie Urteil vom 17.02.2016, B 4 AS 24/14 R, bisher im Volltext noch nicht veröffentlicht; aA SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015, S 149 AS 7191/13, LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. vom 22.01.2016, L 29 AS 20/16 B ER und L 29 AS 21/16 B ER PKH, RdNrn. 23 ff. bei juris ; SG Dortmund, Beschl. vom 11.02.2016, S 35 AS 5396/16 ER, LSG Rheinland-Pfalz, L 3 AS 668/15 B ER, LSG NRW, Beschl. vom 07.03.2016, L 12 SO 79/16 B ER, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Vorliegend spricht deutlich mehr dafür als dagegen, dass ein Leistungsanspruch des Antragstellers in dem vom SG zugesprochenen Umfang gegen den Antragsgegner gegeben ist.
Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz Nrn. 1 bis 4 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) liegen offensichtlich vor, insbesondere bestehen keine durchgreifenden Bedenken gegen das Vorliegen von Hilfebedürftigkeit, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 Abs. 1 SGB II, und von Erwerbsfähigkeit, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 SGB II. Es spricht auch deutlich mehr dafür als dagegen, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht eingreift. Ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II sind danach Ausländer deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Als bulgarischer Staatsangehöriger kann sich der Antragsgegner zu 1) zwar nicht auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11.12.1953 (EFA) berufen; ohnehin hat das BSG die Erklärung des Vorbehalts durch die Bundesregierung am 19.12.2011 als wirksam erachtet (vgl. BSG, Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS 43/15 R, RdNr 18 ff. bei juris; Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS 59/13 R, RdNr. 13 bei juris). Nach der Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG erfordert die Anwendbarkeit der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 S 2 Nr. 2 SGB II aber eine Prüfung des Grundes bzw. der Gründe für eine im streitigen Leistungszeitraum (weiterhin) bestehende materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht nach den - im Wege eines Günstigkeitsvergleichs - anwendbaren Regelungen des Aufenthaltsgesetzes (§ 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU; vgl hierzu BSG, Urteil vom 30.01.2013, B 4 AS 54/12 R, RdNrn 31 ff. bei juris m.w.N.). Nach inzwischen ständiger Rechtsprechung des BSG hindert sozialrechtlich bereits das Vorliegen der Voraussetzungen für ein mögliches anderes (im Falle des § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU im Ermessenswege zu erteilendes) bzw. bestehendes Aufenthaltsrecht als ein solches aus dem Zweck der Arbeitsuche die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (BSG, Urteil vom 30.01.2013, B 4 AS 54/12 R, RdNrn. 31 ff. bei juris; BSG, Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R, RdNrn. 17 ff. bei juris) bzw. lässt den Leistungsausschluss "von vornherein" entfallen (BSG, Urteil vom 25.01.2012, B 14 AS 138/11 R, RdNrn. 20 f. bei juris). Ohne dass der Sachverhalt vollständig aufgeklärt wäre, spricht deutlich mehr dafür als dagegen, dass die mit Ausübung der abhängigen Beschäftigungen in der Zeit vom 22.04.2013 bis zum 15.04.2014 und vom 04.06.2014 bis zum 25.06.2014 begründete Erwerbstätigeneigenschaft des Antragstellers nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 3 lit. a und c der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten ( RL 2004/38/EG) aufrechterhalten geblieben ist (vgl. Europäischer Gerichtshof - EuGH -, Urteil vom 04.06.2009, Rechtssachen Vatsouras und Koupatantze, C-22/08 und C-23/08, RdNr. 31 bei juris; EuGH, Urteil vom 15.09.2015, Rechtssache Alimanovic, C-67/14, RdNrn. 55 f. bei juris). Insoweit neigt der Senat der Auffassung zu, dass die Formulierung "nach mehr als einem Jahr Tätigkeit" in § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU keine ununterbrochene Beschäftigung von mehr als einem Jahr Dauer gewesen sein muss. Der Wortlaut der Norm lässt sowohl die Auslegung zu, dass Kalendermonate (so Dienelt, in: Renner/Bergmann/ Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl., § 2 FreizügG/EU, RdNr. 104; GK-Aufenthaltsgesetz/Epe, IX-2, § 2 RdNr. 122) gemeint seien als auch, dass es um Beschäftigungsmonate (so Tewocht, in: Beck-OK Ausländerrecht, § 2 FreizügG/EU RdNr. 52; Oberhäuser, in: Hoffmann, Ausländerrecht, 2. Aufl., § 2 FreizügG/EU RdNr. 38; offen lassend: Brinkmann, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 1. Aufl. 2010, § 2 FreizügG/EU RdNr. 42) geht. Gesetzesbegründung, Erwägungsgründe der Freizügigkeits-RL und die Rechtsprechung des EuGH sprechen eher gehen eine einschränkende, auf Kalendermonate abstellende Auffassung (Oberhäuser, in: Hoffmann, Ausländerrecht, 2. Aufl., § 2 FreizügG/EU RdNr. 38; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl., § 2 FreizügG/EU, RdNrn. 103 ff. m.w.N.). Die letztgenannte Auffassung scheint auch der Europäische Gerichtshof zu vertreten (vgl. EuGH, Urt. vom 15.09.2015, Rechtssache Alimanovic, C-67/14, RdNrn. 27 und 53 ff.), stellt er doch ausdrücklich - unter Addition der verschiedenen Beschäftigungszeiten - darauf ab, dass zwei Mitglieder der Familie Alimanovic zwischen Juni 2010 und Mai 2011 weniger als ein Jahr in kürzeren Beschäftigungen bzw. Arbeitsgelegenheiten tätig waren.
Beide Beschäftigungsverhältnisse berücksichtigend hat der Antragsteller mehr als ein Jahr der Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland aufzuweisen, auch wenn in einem Hauptsacheverfahren gegebenenfalls noch zu klären wäre, welche Gründe zu einer Beendigung des letzten Beschäftigungsverhältnisses geführt haben, das seitens des Arbeitgebers am 11.06.2014 fristgerecht zum 25.06.2014 während der Probezeit gekündigt worden ist, insbesondere, ob der damit verbundene Eintritt der Arbeitslosigkeit unfreiwillig gewesen ist. Unfreiwilligkeit in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn das Arbeitsverhältnis aus Gründen, die der Arbeitnehmer nicht zu vertreten hat, vom Arbeitgeber oder wegen eines legitimen Grundes durch den Arbeitnehmer beendet wurde (Oberhäuser, in: Hoffmann, Auslanderrecht, 2. Aufl., § 2 FreizügG/EU RdNr. 36 m.w.N.). Der jeweils an die Beendigung der Beschäftigungsverhältnisse anschließende Bezug von Leistungen nach dem SGB III zeigt, dass sich der Antragsteller auch bei der zuständigen Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch bezogen hat.
Anknüpfend an die Beendigung des letzten Beschäftigungsverhältnisses am 25.06.2014 ist auch die zeitliche Grenzen der Fortgeltung der Arbeitnehmereigenschaft von zwei Jahren, die sich aus der Entstehungsgeschichte des Art. 7 Abs. 3 Unionsbürger-Richtlinie ergeben, noch nicht überschritten (siehe zur Begründung Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl., § 2 FreizügG/EU RdNrn. 107 ff. mit zahlreichen Nachweisen).
Im Rahmen der Interessenabwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers an einer existenzsichernden Leistung und dem ausschließlich fiskalischen Interesse des Antragsgegners ist erstgenanntem Interesse der Vorzug zu geben. Im Übrigen ließe sich, wenn man mit dem BSG einen grundsätzlichen Leistungsanspruch eines erwerbsfähigen EU-Ausländers nach dem SGB XII anerkennt, ein Ausgleich zwischen den in Betracht kommenden Leistungsträgern nach Abschluss eines Hauptsacheverfahrens auch im Erstattungswege finden.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 177 Sozialgerichtsgesetz.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde des Beigeladenen ist begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht den Beigeladenen anstelle des Antragsgegners zur Erbringung von Leistungen zum Lebensunterhalt an den Antragsteller in Form von Regelleistungen verpflichtet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (Anordnungsanspruch), und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (Anordnungsgrund). Eilbedürftigkeit besteht, wenn dem Betroffenen ohne die Eilentscheidung eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl. BVerfG, Beschl. vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05, Rn. 23 bei juris). Der gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) von den Gerichten zu gewährende effektive Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (BVerfG, Beschl. vom 16.05.1995 - 1 BvR 1087/91, Rn. 28 bei juris).
Der geltend gemachte (Anordnungs-)Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung -ZPO-). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. BSG, Beschl. vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01, Rn. 5 bei juris).
Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG, Beschl. vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05, Rn. 24 f. bei juris). Liegt ein Anordnungsanspruch nicht vor, ist ein schützenswertes Recht zu verneinen und der Eilantrag abzulehnen. Hat die Hauptsache hingegen offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist dem Eilantrag stattzugeben, wenn die Angelegenheit eine gewisse Eilbedürftigkeit aufweist. Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend berücksichtigt (BVerfG, Beschl. vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05, Rn. 26 bei juris; vgl. auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 86b Rn 29a).
Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage spricht viel dafür, dass der Antragsteller keinen Anspruch auf Leistungen zu seinem Lebensunterhalt gegen den Beigeladenen nach dem 3. Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch (SGB XII) hat. Dabei kann der Senat offen lassen, ob in Fällen erwerbsfähiger EU-Ausländer, bei denen kein Leistungsanspruch nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) besteht, ein Anspruch aus §§ 27 ff. SGB XII folgt, weil §§ 21 Satz 1, 23 Abs. 1 Satz 3 bzw. § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB XII entsprechend auszulegen sind (so u. a. Bundessozialgericht - BSG - Urteile vom 03.12.2015, B 4 AS 59/13 R, RdNrn. 18 ff. m.w.N., B 4 AS 44/15 R, RdNrn. 39 ff. bei juris; Urteile vom 16.12.2015, B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R, bisher im Volltext noch nicht veröffentlicht, sowie Urteil vom 17.02.2016, B 4 AS 24/14 R, bisher im Volltext noch nicht veröffentlicht; aA SG Berlin, Urteil vom 11.12.2015, S 149 AS 7191/13, LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. vom 22.01.2016, L 29 AS 20/16 B ER und L 29 AS 21/16 B ER PKH, RdNrn. 23 ff. bei juris ; SG Dortmund, Beschl. vom 11.02.2016, S 35 AS 5396/16 ER, LSG Rheinland-Pfalz, L 3 AS 668/15 B ER, LSG NRW, Beschl. vom 07.03.2016, L 12 SO 79/16 B ER, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Vorliegend spricht deutlich mehr dafür als dagegen, dass ein Leistungsanspruch des Antragstellers in dem vom SG zugesprochenen Umfang gegen den Antragsgegner gegeben ist.
Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz Nrn. 1 bis 4 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) liegen offensichtlich vor, insbesondere bestehen keine durchgreifenden Bedenken gegen das Vorliegen von Hilfebedürftigkeit, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 Abs. 1 SGB II, und von Erwerbsfähigkeit, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 SGB II. Es spricht auch deutlich mehr dafür als dagegen, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht eingreift. Ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II sind danach Ausländer deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Als bulgarischer Staatsangehöriger kann sich der Antragsgegner zu 1) zwar nicht auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11.12.1953 (EFA) berufen; ohnehin hat das BSG die Erklärung des Vorbehalts durch die Bundesregierung am 19.12.2011 als wirksam erachtet (vgl. BSG, Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS 43/15 R, RdNr 18 ff. bei juris; Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS 59/13 R, RdNr. 13 bei juris). Nach der Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG erfordert die Anwendbarkeit der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 S 2 Nr. 2 SGB II aber eine Prüfung des Grundes bzw. der Gründe für eine im streitigen Leistungszeitraum (weiterhin) bestehende materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht nach den - im Wege eines Günstigkeitsvergleichs - anwendbaren Regelungen des Aufenthaltsgesetzes (§ 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU; vgl hierzu BSG, Urteil vom 30.01.2013, B 4 AS 54/12 R, RdNrn 31 ff. bei juris m.w.N.). Nach inzwischen ständiger Rechtsprechung des BSG hindert sozialrechtlich bereits das Vorliegen der Voraussetzungen für ein mögliches anderes (im Falle des § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU im Ermessenswege zu erteilendes) bzw. bestehendes Aufenthaltsrecht als ein solches aus dem Zweck der Arbeitsuche die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (BSG, Urteil vom 30.01.2013, B 4 AS 54/12 R, RdNrn. 31 ff. bei juris; BSG, Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R, RdNrn. 17 ff. bei juris) bzw. lässt den Leistungsausschluss "von vornherein" entfallen (BSG, Urteil vom 25.01.2012, B 14 AS 138/11 R, RdNrn. 20 f. bei juris). Ohne dass der Sachverhalt vollständig aufgeklärt wäre, spricht deutlich mehr dafür als dagegen, dass die mit Ausübung der abhängigen Beschäftigungen in der Zeit vom 22.04.2013 bis zum 15.04.2014 und vom 04.06.2014 bis zum 25.06.2014 begründete Erwerbstätigeneigenschaft des Antragstellers nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 3 lit. a und c der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten ( RL 2004/38/EG) aufrechterhalten geblieben ist (vgl. Europäischer Gerichtshof - EuGH -, Urteil vom 04.06.2009, Rechtssachen Vatsouras und Koupatantze, C-22/08 und C-23/08, RdNr. 31 bei juris; EuGH, Urteil vom 15.09.2015, Rechtssache Alimanovic, C-67/14, RdNrn. 55 f. bei juris). Insoweit neigt der Senat der Auffassung zu, dass die Formulierung "nach mehr als einem Jahr Tätigkeit" in § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU keine ununterbrochene Beschäftigung von mehr als einem Jahr Dauer gewesen sein muss. Der Wortlaut der Norm lässt sowohl die Auslegung zu, dass Kalendermonate (so Dienelt, in: Renner/Bergmann/ Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl., § 2 FreizügG/EU, RdNr. 104; GK-Aufenthaltsgesetz/Epe, IX-2, § 2 RdNr. 122) gemeint seien als auch, dass es um Beschäftigungsmonate (so Tewocht, in: Beck-OK Ausländerrecht, § 2 FreizügG/EU RdNr. 52; Oberhäuser, in: Hoffmann, Ausländerrecht, 2. Aufl., § 2 FreizügG/EU RdNr. 38; offen lassend: Brinkmann, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 1. Aufl. 2010, § 2 FreizügG/EU RdNr. 42) geht. Gesetzesbegründung, Erwägungsgründe der Freizügigkeits-RL und die Rechtsprechung des EuGH sprechen eher gehen eine einschränkende, auf Kalendermonate abstellende Auffassung (Oberhäuser, in: Hoffmann, Ausländerrecht, 2. Aufl., § 2 FreizügG/EU RdNr. 38; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl., § 2 FreizügG/EU, RdNrn. 103 ff. m.w.N.). Die letztgenannte Auffassung scheint auch der Europäische Gerichtshof zu vertreten (vgl. EuGH, Urt. vom 15.09.2015, Rechtssache Alimanovic, C-67/14, RdNrn. 27 und 53 ff.), stellt er doch ausdrücklich - unter Addition der verschiedenen Beschäftigungszeiten - darauf ab, dass zwei Mitglieder der Familie Alimanovic zwischen Juni 2010 und Mai 2011 weniger als ein Jahr in kürzeren Beschäftigungen bzw. Arbeitsgelegenheiten tätig waren.
Beide Beschäftigungsverhältnisse berücksichtigend hat der Antragsteller mehr als ein Jahr der Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland aufzuweisen, auch wenn in einem Hauptsacheverfahren gegebenenfalls noch zu klären wäre, welche Gründe zu einer Beendigung des letzten Beschäftigungsverhältnisses geführt haben, das seitens des Arbeitgebers am 11.06.2014 fristgerecht zum 25.06.2014 während der Probezeit gekündigt worden ist, insbesondere, ob der damit verbundene Eintritt der Arbeitslosigkeit unfreiwillig gewesen ist. Unfreiwilligkeit in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn das Arbeitsverhältnis aus Gründen, die der Arbeitnehmer nicht zu vertreten hat, vom Arbeitgeber oder wegen eines legitimen Grundes durch den Arbeitnehmer beendet wurde (Oberhäuser, in: Hoffmann, Auslanderrecht, 2. Aufl., § 2 FreizügG/EU RdNr. 36 m.w.N.). Der jeweils an die Beendigung der Beschäftigungsverhältnisse anschließende Bezug von Leistungen nach dem SGB III zeigt, dass sich der Antragsteller auch bei der zuständigen Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch bezogen hat.
Anknüpfend an die Beendigung des letzten Beschäftigungsverhältnisses am 25.06.2014 ist auch die zeitliche Grenzen der Fortgeltung der Arbeitnehmereigenschaft von zwei Jahren, die sich aus der Entstehungsgeschichte des Art. 7 Abs. 3 Unionsbürger-Richtlinie ergeben, noch nicht überschritten (siehe zur Begründung Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl., § 2 FreizügG/EU RdNrn. 107 ff. mit zahlreichen Nachweisen).
Im Rahmen der Interessenabwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers an einer existenzsichernden Leistung und dem ausschließlich fiskalischen Interesse des Antragsgegners ist erstgenanntem Interesse der Vorzug zu geben. Im Übrigen ließe sich, wenn man mit dem BSG einen grundsätzlichen Leistungsanspruch eines erwerbsfähigen EU-Ausländers nach dem SGB XII anerkennt, ein Ausgleich zwischen den in Betracht kommenden Leistungsträgern nach Abschluss eines Hauptsacheverfahrens auch im Erstattungswege finden.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 177 Sozialgerichtsgesetz.
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