L 7 AS 2352/16 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 32 AS 4478/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 2352/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 29.11.2016 geändert. Die Beigeladene wird verpflichtet, für die Zeit vom 20.09.2016 bis zum 31.01.2017 Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Beigeladene hat die Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T, E beigeordnet.

Gründe:

I.

Der am 00.00.1956 geborene Antragsteller ist bulgarischer Staatsangehöriger. Er lebt seit Oktober 2015 in Deutschland in einer Bedarfsgemeinschaft mit seiner 1969 geborenen Partnerin E O und deren 1992 geborenen Sohn E H.

Am 18.01.2016 beantragten die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beim Antragsgegner. Frau O arbeitet aufgrund eines bis zum 31.01.2017 befristeten Arbeitsvertrages als Zeitungszustellerin bei der Fa M GmbH Co KG E. Frau O hat eine Wohnung für eine Bruttowarmmiete iHv 576 EUR monatlich angemietet.

Mit Bescheid vom 04.03.2016 bewilligte der Antragsgegner Frau O Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 14.01.2016 bis zum 31.07.2016. Leistungen für den Antragsteller lehnte der Antragsgegner ab. Der Antragsteller halte sich nur zur Arbeitsuche in Deutschland auf, sei weder mit Frau O verheiratet noch der Vater des Sohnes von Frau O.

Am 14.04.2016 beantragte der Antragsteller bei der Beigeladenen Leistungen nach dem SGB XII. Mit Schreiben vom 14.04.2016 forderte die Beigeladene den Antragsteller auf, "vorrangig Sozialgeld beim Jobcenter Dortmund" zu beantragen, da er laut einem bulgarischen Gutachten erwerbsunfähig sei und er in Bedarfsgemeinschaft mit seiner Lebensgefährtin, die Arbeitslosengeld II beziehe, einen Anspruch auf Gewährung von Sozialgeld habe. Den gegen den Bescheid vom 04.03.2016 eingelegten Widerspruch wies der Antragsgegner mit Bescheid vom 09.06.2016 zurück. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Aufgrund eines Weiterbewilligungsantrags vom 28.06.2016 bewilligte der Antragsgegner Frau O mit Bescheid vom 05.07.2016 Leistungen vom 01.08.2016 bis zum 31.01.2017. Anfang Juli 2016 stellte der Antragsteller erneut einen Leistungsantrag bei der Beigeladenen, den diese mit Bescheid vom 26.07.2016 und Widerspruchsbescheid vom 10.11.2016 ablehnte. Hiergegen ist bei dem Sozialgericht Dortmund unter dem Aktenzeichen S 43 SO 685/16 ein Klageverfahren anhängig. Am 09.09.2016 beantragte der Antragsteller erneut Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beim Antragsgegner. Mit Bescheid vom 12.09.2016 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Über den am 19.09.2016 eingelegten Widerspruch ist nach Aktenlage noch nicht entschieden.

Am 20.09.2016 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht Dortmund beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu zahlen. Er hat eine eidesstattliche Versicherung zu seiner Mittellosigkeit sowie ein ärztliches Attest vom über die bei ihm vorliegenden Erkrankungen vorgelegt. Unter dem Aktenzeichen S 43 SO 524/16 ER hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht Dortmund zudem ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren auf Leistungen nach dem SGB XII gegen die Beigeladene anhängig gemacht.

Mit Beschluss vom 29.11.2016 hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung abgelehnt. Der Hauptantrag auf Verpflichtung des Antragsgegners sei zulässig, aber unbegründet. Der Antragsteller unterliege dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Ein Anspruch gegen den Antragsgegner auf vorläufige Leistungen nach § 43 SGB I scheide aus, weil nicht der Antragsgegner, sondern die Beigeladene erstangegangener Leistungsträger sei. Der Hilfsantrag auf Verpflichtung der Beigeladenen sei wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig.

Gegen diese am 29.11.2016 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 05.12.2016 erhobene Beschwerde des Antragstellers.

Mit Beschluss vom 14.12.2016 im Verfahren S 43 SO 524/16 ER hat das Sozialgericht den Antrag auf einstweilige Verpflichtung der Beigeladenen zur Leistungszahlung abgelehnt.

II.

Die zulässige Beschwerde ist im tenorierten Umfang begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den gegen die Beigeladene gerichteten Antrag auf einstweilige Verpflichtung zur Zahlung von Hilfe zum Lebensunterhalt abgelehnt.

Der Antrag ist zulässig. Die Anhängigkeit des entsprechenden eigenständigen einstweiligen Rechtsschutzverfahrens S 43 SO 524/16 ER sowie der ablehnende Beschluss des Sozialgerichts vom 14.12.2016 stehen einer Zulässigkeit der auf § 75 Abs. 5 SGG gestützten einstweiligen Verpflichtung der Beigeladenen nicht entgegen. § 75 Abs. 5 SGG ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren entsprechend anwendbar. Die Vorschrift soll verhindern, dass trotz Entscheidungsreife hinsichtlich der materiellen Anspruchsvoraussetzungen ein Folgeprozess notwendig wird, weil der in Anspruch genommene Leistungsträger nicht zuständig ist. Eine unzumutbare Beeinträchtigung der prozessualen Rechte des Beigeladenen ist hiermit nicht verbunden, denn er hat dieselben Verteidigungsrechte, wie ein Hauptbeteiligter. Dennoch macht eine Beiladung den Beigeladenen nicht zum Beklagten bzw Antragsgegner. Eine Verpflichtung des Beigeladenen ist damit nur von den Sachurteilsvoraussetzungen abhängig, die § 75 Abs. 5 SGG selbst aufstellt. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen für eine Klage brauchen nicht vorzuliegen, insbesondere ist auch eine anderweitige Rechtshängigkeit des entsprechenden Anspruchs gegen den Beigeladenen unschädlich (BSG, Urteil vom 19.05.1982 - 11 RA 37/81; Fock, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl., § 75 Rn 22). Nur wenn der Beigeladene bereits bestandskräftig über den Anspruch (ablehnend) entschieden hat, scheidet seine Verpflichtung nach § 75 Abs. 5 SGG aus. Dies ist indes hier nicht der Fall, da der Ablehnungsbescheid vom 26.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2016 im Verfahren S 43 SO 685/16 angefochten ist. Nicht zu entscheiden braucht der Senat über die Frage, ob das eigenständige Verfahren gegen die Beigeladene (S 43 SO 524/16 ER) noch zulässig ist.

Der gegen die Beigeladene gerichtete Antrag ist begründet. Der Antragsteller hat im tenorierten Umfang einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund iSd § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG glaubhaft gemacht.

Der Antragsteller hat die Leistungsvoraussetzungen des § 27 Abs. 1 SGB XII dem Grunde nach glaubhaft gemacht. Dies gilt namentlich für die Bedürftigkeit iSd § 19 Abs. 1 SGB XII. Der Antragsteller hat eidesstattlich versichert, nicht über bedarfsdeckendes Einkommen oder Vermögen zu verfügen. Der Umstand, dass es dem Antragsteller auch ohne Leistungen des Antragsgegners oder der Beigeladenen bislang gelungen ist, wirtschaftlich zu überleben, spricht für sich allein nicht ausschlaggebend gegen eine Hilfebedürftigkeit. Der Antragsteller lebt in einer Gemeinschaft mit Personen, denen in Form von Arbeitseinkommen, Kindergeld und Leistungen nach dem SGB II ein gewisses, wenn auch längst nicht bedarfsdeckendes Einkommen zur Verfügung steht. Der Senat hält es keinesfalls für ausgeschlossen, auch mit sehr geringen Mitteln eine gewisse Zeit auf geringstem Niveau zu überbrücken. Evtl verbleibenden Zweifeln an der Bedürftigkeit, die die Beigeladene unter Bezugnahme auf den Beschluss des SG vom 14.12.2016 geäußert hat, ist nicht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, sondern im Hauptsacheverfahren abschließend nachzugehen.

Der Umstand, dass nach § 21 Satz 1 SGB XII Personen, die als Erwerbsfähige dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten und zudem der Antragsteller nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII als Person, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus der Arbeitsuche ergibt, möglicherweise von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen ist, steht der höchstrichterlichen Rechtsprechung zufolge einem Anspruch nicht entgegen. Das BSG hat mit Urteilen vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 44/15 R und B 4 AS 43/15 B ER), vom 16.12.2015 (B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R), vom 20.01.2016 (B 14 AS 15/15 R und B 14 AS 35/15 R), vom 17.02.2016 (B 4 AS 24/14 R) sowie vom 17.03.2016 (B 4 AS 32/15 R) entschieden, dass sowohl für Arbeitsuchende, als auch für Personen, die in Ermangelung von Erfolgsaussichten bei der Arbeitsuche nicht über eine Freizügigkeitsberechtigung verfügen, zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen sind, wenn - wie bei dem Antragsteller - ein verfestigter Aufenthalt (über sechs Monate) vorliegt. Das in der Norm vorgesehene Ermessen ist aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten ist. Der Senat folgt der abweichenden Rechtsprechung einiger Instanzgerichte (vergl. ua LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.01.2016 - L 29 AS 20/16 ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11.02.2016 - L 3 AS 668/15 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.02.2016 - L 9 AS 1335/15 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2016 - L 12 SO 79/16 B ER) nicht (vgl nur Beschluss vom 21.07.2016 - L 7 AS 1045/16 B ER mwN).

Soweit der Antragsteller den Antragsgegner in Anspruch nehmen wollte, ist die Beschwerde unbegründet. Der Antragsgegner ist vorliegend nicht als zuerst angegangener Leistungsträger iSd § 43 SGB I zu verpflichten (vgl hierzu die ständige Rechtsprechung des Senats, ua Beschluss vom 21.07.2016 - L 7 AS 1045/16 B ER). Denn zuerst angegangen ist vorliegend nicht der Antragsgegner, sondern die Beigeladene. Zweifelhaft ist bereits, ob das Schreiben vom 14.04.2016 als den das durch den Antrag vom selben Tag ausgelöstes Verwaltungsverfahren abschließender Bescheid (§ 8 SGB X) anzusehen ist. Denn jedenfalls ist mit dem Antrag von Anfang Juli 2016 ein neues Verwaltungsverfahren eingeleitet worden, das noch nicht bestandskräftig beendet ist und zeitlich vor dem Neuantrag auf SGB II-Leistungen vom 09.09.2016 liegt.

Die bis zum 31.01.2017 befristete Verpflichtung der Beigeladenen orientiert sich an dem Bewilligungszeitraum gegenüber Frau O (Bescheid vom 05.07.2016).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren folgt aus §§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 114 f ZPO.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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