L 19 SF 474/17 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
19
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 18 AS 3636/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 SF 474/17 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 12.10.2017 wird ausgesetzt. Der Antragsteller hat die Kosten des Antragsgegners nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Entscheidung beruht auf § 199 Abs. 2 SGG. Danach kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen, wenn das Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat.

Der zulässige Aussetzungsantrag ist begründet.

Im Rahmen des bei der Entscheidung nach § 199 Abs. 2 SGG auszuübenden Ermessens (BSG, Beschluss vom 08.12.2009 - B 8 SO 17/09 R m.w.N.; LSG NRW, Beschluss vom 28.06.2013 - L 11 SF 74/13 ER mit Zusammenfassung des Meinungstandes; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., § 199 Rn. 8 m.w.N.; abweichend BSG, Beschluss vom 06.08.1999 - B 4 RA 25/98 B) sind die Interessen des Gläubigers an der Vollziehung des Titels mit dem Interesse des Schuldners, nicht vor der Beendigung des Instanzenzuges leisten zu müssen, abzuwägen. Zu gewichten sind daher die Folgen einer Ablehnung der Vollstreckungsaussetzung bei nachfolgender Aufhebung des angefochtenen Beschlusses einerseits und die Folgen einer Stattgabe des Aussetzungsantrages bei nachfolgender Zurückweisung der Beschwerde andererseits (Schmidt, a.a.O., § 199 Rn. 8 m.w.N.). Bei der Abwägung ist der in § 154 Abs. 2 SGG bzw. § 175 S. 1 SGG zum Ausdruck kommende Wille des Gesetzgebers zu berücksichtigen, Berufungen bzw. Beschwerden in der Regel keine aufschiebende Wirkung zuzumessen. Diese gesetzliche Wertung legt nahe, eine Aussetzung nur in Ausnahmefällen zuzulassen, wenn das Rechtsmittel offensichtlich Aussicht auf Erfolg hat (BSG, Beschluss vom 08.12.2009 - B 8 SO 17/09 R).

Bei der Abwägung der Interessen des Antragstellers, die Nachteile, die für ihn regelmäßig mit der Zwangsvollstreckung aus dem Titel verbunden sind, abzuwenden mit den Interessen des Antragsgegners auf Erhalt von Umzugskosten i.H.v. 2.927,40 EUR überwiegen die Interessen des Antragstellers. Nach summarischer Prüfung ist offen, ob eine Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch auf Verpflichtung des Antragstellers auf Übernahme von Umzugskosten i.H.v. 2.927,40 EUR glaubhaft gemacht ist.

Nach Rechtsprechung des Senats besteht kein Anordnungsgrund auf Verpflichtung der Erteilung einer Zusicherung nach § 22 Abs. 6 SGB II nicht mehr, wenn ein Leistungsberechtigter einen Umzug im Wege der Selbsthilfe durchgeführt hat. Ob und in welchem Umfang in einem solchen Fall die von einem Leistungsberechtigten verursachten Kosten vom Grundsicherungsträger als Leistungen nach dem SGB II zu übernehmen sind, kann der Abklärung im nachfolgenden Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben (Beschlüsse des Senats vom 23.03.2017 - L 19 AS 430/17 B ER und vom 29.03.2017 - L 19 AS 552/17 B ER). Vorliegend ist der Antragsgegner in seine neue Wohnung X 00, E umgezogen.

Nach § 22 Abs. 6 S. 2 SGB II soll die Zusicherung zur Übernahme der Umzugskosten erteilt werden, wenn der Umzug durch den kommunalen Träger veranlasst oder aus anderen Gründen notwendig ist und wenn ohne die Zusicherung eine Unterkunft in einem angemessenen Zeitraum nicht gefunden werden kann. Als Soll-Vorschrift ist diese Norm Ausdruck eines Regelermessens, d.h. der Grundsicherungsträger hat die Zusicherung bei Vorliegen der Voraussetzungen zu erteilen. Ein Ermessen wird ihm dagegen erst eröffnet, wenn eine vom Regelfall abweichende atypische Fallkonstellation vorliegt. Voraussetzung möglicher gebundener Ansprüche ist aber stets, dass sich die neuen Unterkunftskosten in den Grenzen der abstrakten Angemessenheit halten (BSG, Urteil vom 06.08.2014 - B 4 AS 37/13 R -, Rn. 19 juris). Vorliegend spricht mehr dafür als dagegen, dass Kosten der neuen Wohnung unangemessen sind.

Auf den Wert des § 12 WoGG + 10% Sicherheitszuschlag als Angemessenheitsgrenze kann erst abgestellt werden, wenn ein sog. Erkenntnisausfall vorliegt. Ein solcher ist erst dann gegeben, wenn kein schlüssiges Konzept zur Ermittlung der Angemessenheitsgrenzen vorliegt und der Grundsicherungsträger nicht in der Lage ist, dem Gericht eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage zu verschaffen und ggf. eine unterbliebene Datenerhebung und -aufbereitung nachzuholen (BSG, Urteil vom 16.06.2015 - B 4 AS 44/14 R -, Rn. 19 juris). Nach dem vom kommunalen Leistungsträger im Jahr 2014 erstellten Konzept zur Ermittlung der Mietobergrenzen (MOG) im SGB II und SGB XII beträgt die angemessene Brutto-Kaltmiete für einen Einpersonen-Haushalt mit einer örtlich zugestandenen Wohnfläche von 50 qm 407,00 EUR. Eine eingehende Überprüfung dieses Konzepts auf seine Schlüssigkeit ist im Rahmen des vorliegenden Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes nicht möglich (vgl. Senat, Beschlüsse vom 07.01.2016 - L 19 AS 1864/15 B ER und vom 15.05.2017 - L 19 AS 772/17 B ER)). Im Rahmen der möglichen Prüfungsdichte genügt das vom Antragssteller zugrunde gelegte Konzept den Anforderungen an ein "schlüssiges Konzept" nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Von der Schlüssigkeit eines Konzepts ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auszugehen, sofern die folgenden Mindestvoraussetzungen erfüllt sind:

- die Datenerhebung darf ausschließlich in dem genau eingegrenzten und muss über den gesamten Vergleichsraum erfolgen,

- es bedarf einer nachvollziehbaren Definition des Gegenstandes der Beobachtung,

- Festlegung der Art und Weise der Datenerhebung,

- Repräsentativität des Umfangs der eingezogenen Daten,

- Validität der Datenerhebung,

- Einhaltung anerkannter mathematisch-statistischer Grundsätze der Datenauswertung und

- Angaben über die gezogenen Schlüsse

(BSG, Urteil vom 10.09.2013 - B 4 AS 77/12 R m.w.N.). Gesichtspunkte, die gegen die Erfüllung dieser Anforderungen sprechen, drängen sich nicht auf und werden auch vom Antragsgegner sowie vom erstinstanzlichen Gericht nicht aufgezeigt.

Ein schlüssiges Konzept muss aber, um zur Ausfüllung des unbestimmten Rechtsgriff der Angemessenheit herangezogen werden zu können, in gewissen Abständen fortgeschrieben werden (BSG, Urteil vom 20.08.2009 - B 14 AS 41/08 R). Dementsprechend wird es unanwendbar, wenn die Aktualisierung über einen längeren Zeitraum unterbleibt und die zur Verfügung stehenden Daten deutlich veraltet sind (zu einem solchen Fall Senat, Beschluss vom 23.11.2016 - L 19 AS 2197/16 B ER). Bei der im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes möglichen Prüfungsintensität folgt der Senat der in der Rechtsprechung bereits vertretenen (Urteil des SG Dortmund vom 17.03.2017 - S 19 AS 4276/16) Auffassung, dass ein schlüssiges Konzept (in etwa) alle 2 Jahre fortzuschreiben ist (Senat, Beschluss vom 15.05.2017 - L 19 AS 772/17 B ER). Dieses Intervall entspricht den normativen Vorgaben sowohl für die Fortschreibung qualifizierter Mietspiegel nach § 558d Abs. 2 S. 1 BGB wie auch für die Aktualisierung der Festlegung von Angemessenheitsgrenzen durch Satzung nach § 22c Abs. 2 SGB II. Es ist kein sachlich einleuchtender Grund ersichtlich, hinsichtlich der Aktualisierung "schlüssiger Konzepte" strengere oder aber weniger strenge Anforderungen (in diesem Sinne wohl LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 05.12.2016 - L 15 AS 257/16 B ER) zu stellen. Eine unterlassene Fortschreibung des schlüssigen Konzept nach Ablauf von zwei Jahren seitens eines kommunalen Trägers begründet aber nicht zwangsläufig einen Erkenntnisausfall, da die Fortschreibung eines schlüssigen Konzepts nach Ablauf von zwei Jahren entsprechend der Bestimmung des § 558d Abs. 2 S. 1 BGB in Form einer Indexfortschreibung als zulässig erachtet wird (vgl. LSG NRW, Urteil vom 24.04.2017 - L 20 SO 418/14; SG Dortmund, Urteil vom 25.08.2017 - S 58 AS 3151/15; a.A. SG Bayreuth, Urteil vom 27.10.2016 - S 4 AS 1092/14). Ob die seitens des kommunalen Leistungsträgers im vorliegenden Fall erfolgte jährliche Anpassung der Angemessenheitsgrenze, zuletzt auf 415,00 EUR, den Anforderungen an eine Fortschreibung eines schlüssigen Konzepts entspricht, ist offen. Selbst wenn dies nicht der Fall ist, kann eine Indexfortschreibung kann nachgeholt werden. Es ist auch nicht offensichtlich, dass im Fall einer Indexfortschreibung eine Erhöhung der Angemessenheitsgrenze von 415,00 EUR um mehr als 129,00 EUR erfolgen wird.

Nach der Rechtsprechung des BSG kommt im Fall des Umzugs in eine unangemessene Wohnung jedoch ein Ermessenanspruch nach § 22 Abs. 6 S. 1 SGB II in Betracht (BSG, Urteil vom 06.08.2014 - B 4 AS 37/13 R -, Rn. 28 juris). Denn wenn kein Regelfall anzunehmen ist, liegt ein atypischer Fall nach § 22 Abs. 6 S. 1 SGB II vor, welcher vom Antragsgegner eine Ermessensentscheidung verlangt. Das Gesetz eröffnet den Leistungsträgern durch § 22 Abs. 6 S. 1 SGB II allgemein die Möglichkeit, Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten sowie eine Mietkaution auch dann zu übernehmen, wenn der Umzug nicht vom Leistungsträger veranlasst oder sonst erforderlich ist und/oder die Mietaufwendungen für die neue Unterkunft die abstrakte Angemessenheitsgrenze überschreiten. Der Anspruch der Leistungsberechtigten ist in diesem Fall auf einen Anspruch auf ordnungsgemäße Ermessensentscheidung gerichtet. Dem Leistungsträger wird durch § 22 Abs. 6 S. 1 SGB II sowohl bezüglich des "Ob" als auch des "Wie" der Leistungserbringung Ermessen eingeräumt. Offen ist, ob eine Ermessenreduzierung auf Null zu Gunsten des Antragsgegners sowohl hinsichtlich des "Ob" wie auch des "Wie" vorliegt.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Die Anordnung der Aussetzung der Vollstreckung ist unanfechtbar (§ 199 Abs. 2 S. 3 SGG).

Dieser Beschluss nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved