L 11 KA 44/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
11
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 16 KA 45/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KA 44/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 14.03.2018 wird zurückgewiesen. Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit steht ein Regress wegen Überschreitung des Arzneimittelrichtgrößenvolumens im Jahr 2010.

Die Klägerin ist als Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen.

Bereits für die Jahre 2005 bis 2007 setzte die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Westfalen-Lippe (Prüfungsstelle) gegen die Klägerin Regresse wegen Überschreitung der jeweiligen Arzneimittelrichtgrößenvolumina fest. In der Sitzung des Beklagten vom 09.06.2010 wurde für diese Jahre ein Vergleich geschlossen, mit dem der Regress auf insgesamt 14.000,00 EUR reduziert wurde. Für das Jahr 2008 beschloss die Prüfungsstelle eine schriftliche Beratung. Auch für das Jahr 2009 wurde gegen die Klägerin wegen Überschreitung des Arzneimittelrichtgrößenvolumens ein Regress festgesetzt. Der Beschluss des Beklagten ist Gegenstand des vor dem Senat geführten Parallelverfahrens L 11 KA 43/18.

Für das Jahr 2010 setzte die Prüfungsstelle gegen die Klägerin bestandskräftig einen Regress in Höhe von 398,50 EUR wegen der Verordnung von Arzneimitteln fest, die nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden dürfen.

Mit Schreiben vom 16.07.2012 übersandte die Prüfungsstelle der Klägerin die Richtgrößenstatistik für das Jahr 2010 und wies darauf hin, dass das Verordnungsvolumen das Richtgrößenvolumen um mehr als 25% überschreite. Sie wies darauf hin, dass für die Anerkennung von nicht bereits nach der Gemeinsamen Prüfvereinbarung (GPV) zu berücksichtigenden Praxisbesonderheiten eine von der Fachgruppentypik abweichende Patientenklientel und die dadurch verursachten Mehrkosten nachzuweisen seien.

Die Klägerin führte dazu mit Schreiben vom 30.08.2012 an, dass sie aufgrund ihrer Zusatzausbildung "gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin" ganz andere, problembehaftete Patientinnen habe. In einer Zeit, in der die Hormonersatztherapie in den Wechseljahren kontrovers diskutiert werde, bedeute dies auch einen Mehrkostenbedarf im ATC-Bereich (Anatomisch-Therapeutisch-Chemische Einordnung von Wirkstoffen und Arzneimitteln) G03F (Gestagene und Östrogene). Es handele sich um eine besonders kostenintensive Therapiegruppe der 50-59-jährigen Frauen. Der Statistik lasse sich entnehmen, dass sie in diesem Bereich besonders viele Patientinnen habe. Auch das Problem der Harninkontinenz nehme mit Beginn der Wechseljahre zu. Hieraus resultiere der Einsatz der Urologica (Bereich G04B). Die mit Ring- oder Würfelpessartherapie behandelten Patientinnen benötigten häufiger Antiinfektiva und Antiseptica. Besonders wichtig sei ihr die Gruppe G02C. Die an hormonbildenden Tumoren leidenden Patientinnen seien seit Jahren in ihrer Behandlung.

Mit Bescheid vom 10.12.2012 setzte die Prüfungsstelle wegen Überschreitung der Arzneimittelrichtgrößen im Jahr 2010 einen Regress in Höhe von 9.396,73 EUR fest. Sie zog von der Überschreitung des Richtgrößenvolumens (45.194,06 EUR) den bereits festgesetzten Regressbetrag (398,50 EUR) ab und berücksichtigte als Praxisbesonderheiten die Differenz zwischen den Mehrkosten für die ATC-Bereiche GO3A, GO3C und JO6B nach Fallzahlen und den Mehrkosten für diese ATC-Bereiche nach defined daily dose (DDD; 13.270,89 EUR). Die verbleibende Überschreitung des Richtgrößenvolumens (31.524,67 EUR) bereinigte die Prüfungsstelle um 25 % des Arzneimittelrichtgrößenvolumens (19.813,89 EUR). Den restlichen Betrag (11.710,78 EUR) multiplizierte sie mit einer arztindividuellen Nettoquote von 80,24 % (Teil der Arzneimittelkosten, der nach Bereinigung des Bruttopreises um kassenindividuelle Rabatte und Zuzahlungen verbleibt). Die Anerkennung der Mehrkosten in den ATC-Bereichen GO3A, GO3C und JO6B entspreche der Handhabung in den Vorjahren. Anders als in den Vorjahren könnten Mehrkosten in den ATC-Bereichen GO3H und GO3D nicht mehr als Praxisbesonderheiten anerkannt werden. Bei der Richtgrößenprüfung für das Jahr 2009 sei bereits ausgeführt worden, dass ab 2010 erwartet werden könne, dass in diesen Bereichen bestehende Wirtschaftlichkeitsreserven ausgeschöpft werden. Mehrkosten in den ATC-Bereichen GO4B, GO2C und GO3F seien nicht als Praxisbesonderheit anzuerkennen. Bezüglich der ATC-Bereiche GO4B und GO2C sei keine Praxisbesonderheit anzuerkennen, weil der Vortrag der Klägerin hierzu zu allgemein sei. Im ATC-Bereich GO3F lasse die Medikamentenauswahl auf Unwirtschaftlichkeit schließen.

Gleichzeitig mit Bekanntgabe des Regressbescheids bot die Prüfungsstelle der Klägerin eine Vereinbarung an, den Erstattungsbetrag um 1/5 zu reduzieren. Die Klägerin nahm das Angebot nicht an.

Am 18.12.2012 legte die Beigeladene zu 7) Widerspruch gegen den Regressbescheid ein. Die Nettoquote sei um 3,9 Prozentpunkte zu hoch.

Die Klägerin legte am 09.01.2013 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie ergänzend aus, dass auch die Mehrkosten in den ATC-Bereichen GO3H und GO3D als Praxisbesonderheiten zu berücksichtigen seien. Sie könne ihren Patientinnen Gestagen nicht vorenthalten und müsse sie zur Not wegen des Regresses künftig auffordern, die entsprechenden Kosten privat zu tragen. Die Praxisbesonderheit im Bereich der Harninkontinenz ergebe sich bereits aus der Diagnosehäufigkeit. Offenbar vertrauten ihre Patientinnen ihr ihre intimsten, unangenehmsten Probleme an. Den Bereich G02C betreffend habe sie bei einer Patientin in einem besonders frühen Stadium ein wachstumshormonproduzierendes Adenom festgestellt. Nach der neurochirurgischen Operation habe sie weiter das kostspielige Somatostain verordnen müssen, weil sich die Patientin nur von ihr und in der Neurochirurgie habe behandeln lassen wollen. Inzwischen habe sich der Prolaktinspiegel normalisiert.

Am 16.01.2013 legte die Beigeladene zu 1) Widerspruch gegen den Regressbescheid ein. Die Mehrkosten im ATC-Bereich GO3C (Estrogene) seien nicht als Praxisbesonderheiten anzuerkennen. Es sei wegen der damit verbundenen Risiken ein zurückhaltender Einsatz der Hormontherapie geboten.

Mit Beschluss vom 11.11.2015 reduzierte der Beklagte den Regress auf 9.360,43 EUR. Im Übrigen wies er die Widersprüche der Klägerin sowie der Beigeladenen zu 1) und 7) zurück. Die Regressforderung sei zu verringern, weil die Nettoquote nicht 80,24 % betrage, sondern lediglich 79,93 %. Im Übrigen sei der angegriffene Bescheid nicht zu beanstanden. Er wiederholte und vertiefte im Wesentlichen die Ausführungen der Prüfungsstelle. Für kompensierende Einsparungen sei nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich. Die Widerspruchsbegründung führe nicht zur Anerkennung weiterer Praxisbesonderheiten. Die Klägerin habe in den Bereichen GO3H und GO3D kostenintensivere Präparate bevorzugt. Ihre Behauptung, dass fast alle Störungen in der Gynäkologie wie Gelbkörperschwäche, prämenstruelles Syndrom, Hypermenorrhoen, Menometorrhagien etc. auf dem Boden von Gestagenmangelerscheinungen aufträten, rechtfertige den insgesamt gesteigerten Umfang der Verordnungen in diesem Bereich nicht. Hierzu hätte es substantiierter Ausführungen bedurft. Die endokrinologische und reproduktionsmedizinische Ausbildung der Klägerin gebiete nicht die Anerkennung einer Praxisbesonderheit. Es handele sich bei der Qualifikation der Klägerin nicht um einen aus der Morbiditätsstruktur der Patienten herrührenden Umstand. Sie habe im Jahr 2010 nur einmal die Gebührenordnungsposition (GOP) 08521 EBM-Ä angesetzt. Ein Vergleich mit typischen reproduktionsmedizinischen Praxen scheide aus. Im ATC-Bereich GO4B habe die Klägerin mit Detrusitol und Vesikur vorrangig kostenintensive Präparate mit Kosten pro DDD in Höhe von 2,00 EUR bzw. 1,92 EUR verordnet. Ein gegenüber der Vergleichsgruppe höherer Anteil an Patientinnen mit urologischen Erkrankungen sei in der Praxis der Klägerin nicht nachgewiesen. Die Verordnung von Urologika gehöre zum typischen Spektrum einer frauenärztlichen Praxis. Allein die Angabe einer Diagnose genüge nicht, um die Vermutung der Unwirtschaftlichkeit zu entkräften. Die Klägerin habe ihm, dem Beklagten, nicht durch Vorlage sämtlicher verordnungsrelevanter Patientendaten ermöglicht, Erkenntnisse hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit der Verordnungen zu erlangen. Hinsichtlich des ATC-Bereichs GO2C seien insbesondere die Verordnungskosten für Dostinex nicht als Praxisbesonderheit anzuerkennen. Der Verordnungsanteil anderer Gynäkologika (hier Dostinex, Bromocriptin und Cabergolin) an den Arzneimittelkosten der Klägerin betrage nur 1,6 %. Die Verordnung von Arzneimitteln aus dem ATC-Bereich GO2C sei als fachgruppentypisch anzusehen. Zudem genüge der Vortrag der Klägerin nicht den Darlegungsanforderungen für Praxisbesonderheiten. Es fehle an einer genauen Darlegung in Bezug auf einzelne Patientinnen, deren Krankheitsbilder sowie deren Vor- und/oder Begleitmedikation. Bezüglich des ATC-Bereichs GO3F treffe zwar zu, dass die Praxis der Klägerin in den relevanten Altersstufen der 50- bis 59- und der 60- bis 69-jährigen Patientinnen einen gegenüber der Fachgruppe deutlich erhöhten Anteil aufweise. Gleichwohl hätten sich Umfang und Notwendigkeit der Verordnungskosten in diesem Bereich dem Beklagten nicht erschlossen. Anhand der Präparateauswahl sei erkennbar, dass entgegen dem Standard in der Berufsgruppe einer lokalen Behandlungsweise mittels Cremes oder Gels nicht der Vorzug eingeräumt worden sei. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum sei das Kostenvolumen in diesem Bereich noch weiter angestiegen. In Bezug auf die ATC-Bereiche GO1A und GO1B seien die Erwägungen der Klägerin nicht hinreichend substantiiert und auch nicht überzeugend. Die in früheren Verfahren geäußerte Annahme der Klägerin, Inimur sei das Präparat erster Wahl, treffe nicht zu. Es handele sich vielmehr um ein überholtes Therapiekonzept. Zudem bestehe im ATC-Bereich GO1A Einsparpotential durch ein Ausweichen auf apotheken-, aber nicht verschreibungspflichtige Medikamente (OTC-Präparate). Für eine Unwirtschaftlichkeit spreche auch, dass die Fallkosten pro Patient gegenüber den Vorjahren, für die bereits eine Regressierung bzw. (für das Jahr 2008) eine schriftliche Beratung erfolgt sei, weiter angestiegen seien. Die (von den Krankenkassen nachträglich aktualisierte) Nettoquote betrage 79,93 %. Dem lägen die nach § 296 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) übermittelten Daten zugrunde. Diese stimmten nicht mit den Daten nach der "GKV-Arzneimittelschnellinformation (GamSi)" überein, auf die sich die Beigeladene zu 7) beziehe. Zusammenfassend verbleibe eine Überschreitung des Richtgrößenvolumens von +39,78%.

Gegen den am 02.04.2016 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 13.04.2016 Klage erhoben. Es habe vorrangig eine Beratung erfolgen müssen. Der Beschwerdeausschuss Niedersachsen habe im Rahmen der Arzneimittelrichtgrößenprüfung für die Jahre bis einschließlich 2006 den Ärzten jeweils einen Vergleich angeboten. Für die nachfolgenden Jahre habe es in Niedersachsen keine Arzneimittelrichtgrößenprüfung mehr gegeben.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beschluss des Beklagten vom 11.11.2015 aufzuheben.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat er auf die Ausführungen im angegriffenen Beschluss Bezug genommen. Ergänzend hat er ausgeführt, dass der Grundsatz "Beratung vor Regress" nicht greife. Aufgrund der in den Jahren 2005, 2006, 2007 und 2009 festgesetzten Regresse fehle es an der Erstmaligkeit.

Die Beigeladene zu 1) hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die Klage durch Urteil vom 14.03.2018 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % sei nur im bereits vom Beklagten berücksichtigten Umfang durch Praxisbesonderheiten gerechtfertigt. Der Festsetzung eines Regresses stehe § 106 Abs. 5e Sätze 1 und 7 SGB V in der vom 01.01.2012 bis 31.12.2016 geltenden Fassung (a.F.) nicht entgegen. Die Klägerin habe das Richtgrößenvolumen nicht erstmalig um mehr als 25 % überschritten. Denn eine erstmalige Überschreitung sei nur anzunehmen, wenn eine solche - anders als hier - in der Vergangenheit nicht förmlich festgestellt worden sei.

Gegen das am 23.04.2018 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 23.05.2018 Berufung eingelegt. Da der Beschluss vom 11.11.2015 datiere, sei Verjährung eingetreten. Zudem verstoße der Beschluss gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG). In den Jahren 2007 bis 2011 hätten in Niedersachsen keine Arzneimittel-Richtgrößenprüfungen stattgefunden. Weiter sei sie nicht mit den Fachärzten für Gynäkologie und Geburtshilfe vergleichbar. Sie habe den Schwerpunkt auf gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin gelegt. Das SG habe die von ihr vorgetragenen Praxisbesonderheiten nicht geprüft.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 14.03.2018 abzuändern und den Beschluss des Beklagten vom 11.11.2015 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Ausschlussfrist von vier Jahren beginne bei Verordnungsregressen, die sich auf einen Prüfzeitraum von einem Jahr bezögen, mit dem Ende des geprüften Verordnungszeitraums. Der Ablauf der Ausschlussfrist werde wie im Verjährungsrecht z.B. durch eine von Amts wegen eingeleitete Prüfung gehemmt. Vorliegend sei die Richtgrößenprüfung für den Verordnungszeitraum 2010 mit Schreiben der Prüfungsstelle an die Klägerin vom 16.07.2012 eingeleitet worden. Zutreffend habe das SG darauf hingewiesen, dass er, der Beklagte, sich gründlich mit der Widerspruchsbegründung der Klägerin auseinandergesetzt habe und diese den Erwägungen im Klageverfahren zu Recht nicht entgegengetreten sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss entscheiden, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung entbehrlich ist.

Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen; denn der Beschluss des Beklagten vom 11.11.2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin daher nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG).

1. Rechtsgrundlage der Festsetzung des Regresses ist § 106 Abs. 5a Satz 3 SGB V a.F. Danach hat der Vertragsarzt bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 v.H. nach Feststellung durch die Prüfungsstelle den sich daraus ergebenden Mehraufwand den Krankenkassen zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet ist.

2. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist der angefochtene Bescheid des Beklagten nicht deswegen rechtswidrig, weil gemäß § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V a.F. anstelle eines Regresses lediglich eine individuelle Beratung hätte festgesetzt werden dürfen. Zwar bestimmt § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V (in der ab 01.01.2012 geltenden Fassung), dass abweichend von § 106 Abs. 5a Satz 3 SGB V a.F. bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % eine individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5a Satz 1 SGB V a.F. erfolgt. Dies gilt nach § 106 Abs. 5e Satz 7 SGB V a.F. auch für am 31.12.2011 noch nicht abgeschlossene Prüfverfahren, wenn die Entscheidung des Beschwerdeausschusses wie hier nach dem 25.10.2012 ergangen ist (BSG, Urteil vom 22.10.2014 - B 6 KA 3/14 R -). Der hierdurch vorgegebene Vorrang der individuellen Beratung vor einer Regressfestsetzung ("Beratung vor Regress") findet vorliegend jedoch keine Anwendung.

§ 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V a.F. setzt voraus, dass es sich bei der zur Beurteilung anstehenden Überschreitung des Regelleistungsvolumens um mehr als 25 % im Prüfungszeitraum 2010 um eine "erstmalige" Überschreitung gehandelt hat. Hierzu bedürfte es der Feststellung, dass es nicht bereits in vorangegangenen Prüfungszeiträumen mindestens einmal oder gar wiederholt zu derartigen Überschreitungen gekommen ist (BSG, Urteil vom 22.10.2014 - B 6 KA 3/14 R -; Senat, Beschluss vom 20.11.2013 - L 11 KA 81/13 B ER -). Die Klägerin hat jedoch ihr Regelleistungsvolumen im Jahr 2010 nicht "erstmalig" im Sinne des § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V a.F. überschritten: Gegen sie sind auch für die Jahre 2005, 2006 und 2007 Regresse wegen Überschreitung des Arzneimittel-Regelleistungsvolumens und für 2008 eine schriftliche Beratung aus dem gleichen Grund festgesetzt worden.

Zwar muss es sich bei der vorangegangenen Überschreitung um eine solche handeln, die von der Prüfungsstelle "förmlich" festgestellt wurde. In welcher Form die Prüfgremien die Feststellung treffen, dass eine relevante Überschreitung vorliegt, und in welcher Art und Weise sie diese dokumentieren, gibt das Gesetz nicht vor. Regelmäßig dürfte diese Feststellung zwar durch einen Regressbescheid erfolgen, doch benennt § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V a.F. als Tatbestandsvoraussetzung allein eine "erstmalige Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent", stellt also auf den Umstand einer (nicht gerechtfertigten) Überschreitung als solchen, nicht hingegen auf die hierauf gegründete förmliche Festsetzung eines Regresses ab. Entscheidend ist daher die "Feststellung" des Umstandes, dass eine - nicht durch Praxisbesonderheiten gerechtfertigte - Überschreitung des Regelleistungsvolumens um mehr als 25 % gegeben ist. Der Annahme einer (vorangegangenen) Überschreitung im Sinne des § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V a.F. steht es daher nicht entgegen, wenn das Verfahren (wie hier für die Jahre 2005 bis 2007) durch eine vergleichsweise Regelung beendet worden ist, sofern dies die Tatsache einer Überschreitung des Regelleistungsvolumens (nach Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten) um mehr als 25 % als solche unangetastet lässt (BSG, Urteil vom 22.10.2014 - B 6 KA 3/14 R -).

3. Aufgrund der Schwerpunktbezeichnung "gynäkologische Endokrinologie und Reprodunktionsmedizin" ist die Klägerin weder einer anderen Vergleichsgruppe zuzuordnen noch folgt daraus eine Praxisbesonderheit.

Im Rahmen der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung ist die Bildung engerer Vergleichsgruppen dann erforderlich, wenn sich die Behandlungsausrichtung und Behandlungsmethoden einer bestimmten Gruppe von Ärzten so nachhaltig von derjenigen anderer Ärzte unterscheiden, dass die Vergleichbarkeit der ersten Gruppe mit den Praxen der anderen Gruppe sowohl hinsichtlich der überwiegend behandelten Gesundheitsstörungen als auch hinsichtlich der Zusammensetzung der Patientenklientel nur noch sehr eingeschränkt gegeben ist (BSG, Urteil vom 11.12.2002 - B 6 KA 1/02 R -). Eine Vergleichsgruppe "Gynäkologische Endokrinologen und Reproduktionsmediziner" sieht die RGV 2010 nicht vor. Sowohl nach ihrer Facharztbezeichnung als auch nach den von ihr behandelten Gesundheitsstörungen ist die Klägerin der Fachgruppe der Frauenärzte zuzuordnen. Einer eventuell zu bildenden engeren Vergleichsgruppe der reproduktionsmedizinischen Praxen gehört die Klägerin nicht an. Der Beklagte hat das Leistungsspektrum der Klägerin anhand der Häufigkeitsstatistik überprüft und festgestellt, dass die Klägerin die für den Bereich der Reproduktionsmedizin typische GOP 08521 EMB (Beratung des Ehepaares gemäß Nr. 14 der Richtlinien über künstliche Befruchtung, Abrechnung einmal im Reproduktionsfall) nur einmal abgerechnet hat. Wenn er daraus den Schluss gezogen hat, dass die Reproduktionsmedizin die Praxis der Klägerin nicht prägt, hat er sich im Rahmen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums gehalten.

4. Es waren keine weiteren Praxisbesonderheiten anzuerkennen. Als Praxisbesonderheiten des geprüften Arztes kommen nur solche Umstände in Betracht, die sich auf das Behandlungs- oder Verordnungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe typischerweise nicht oder nicht in derselben Häufigkeit anzutreffen sind. Für die Anerkennung einer Praxisbesonderheit ist es deshalb nicht ausreichend, dass bestimmte Leistungen in der Praxis eines Arztes erbracht werden. Vielmehr muss substantiiert dargetan werden, inwiefern sich die Praxis gerade von den anderen Praxen der Fachgruppe unterscheidet. Die betroffene Praxis muss sich nach der Zusammensetzung der Patienten und hinsichtlich der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden, und diese Abweichung muss sich gerade auf die überdurchschnittlich häufig erbrachten Leistungen auswirken (Senat, Beschluss vom 19.03.2012 - L 11 KA 136/11 -).

Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Klägerin nicht ansatzweise. Sie hat keine Unterlagen vorgelegt, die geeignet wären, eine vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe "Frauenärzte" abweichende Patientenstruktur und damit Verordnungsnotwendigkeit zu dokumentieren.

5. Die Festsetzung eines Regresses das Jahr 2010 betreffend verstößt auch nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Soweit die Klägerin regionale Abweichungen in den für die Richtgrößenprüfung geltenden Maßstäben kritisiert, setzt sie sich weder mit der gesetzlichen Vorgabe auseinander, dass Richtgrößenvereinbarungen auf regionaler Ebene und als (regionale) Durchschnittswerte zu treffen sind (§ 84 Abs 6 Satz 1 SGB V) noch legt sie substantiiert dar, dass in Bezug auf die tatsächlichen Grundlagen in Westfalen-Lippe und Niedersachsen identische Verhältnisse herrschen (vgl. zu diesen Anforderungen BSG, Beschluss vom 25.01.2017 - B 6 KA 22/16 B -).

6. Dem Regressbescheid kann auch nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, die für Regressfestsetzungen geltende Ausschlussfrist sei nicht gewahrt worden. § 106 Abs. 2 Satz 7 Halbsatz 2 SGB V a.F. normiert eine zweijährige Frist. Für die Wahrung der Ausschlussfrist für Maßnahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung kommt es auf den Bescheid des Beklagten nicht an. Diese Funktion kommt vielmehr dem Bescheid der Prüfungsstelle zu (BSG, Beschluss vom 11.05.2011 - B 6 KA 5/11 B -). Die Frist ist vorliegend durch den Beschluss vom 10.12.2012, der der Klägerin weniger als zwei Jahre nach dem der Prüfung unterliegenden Zeitraums zugegangen ist, gewahrt. Ab der Kenntnis von diesem Bescheid war das Vertrauen der Klägerin, wegen ihrer Verordnungsweise im Jahr 2010 nicht mit Maßnahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung rechnen zu müssen, zerstört (vgl. zum Vertrauen als Grund für die Ausschlussfrist BSG, Beschluss vom 11.05.2011 - B 6 KA 5/11 B -). Nach Anrufung des Beschwerdeausschusses war dieser für die Durchführung des Verfahrens zuständig. Eine Frist, bis zu der ein Widerspruchsverfahren - das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss gilt als solches (§ 106 Abs. 5 Satz 6 SGB V a.F.) - abgeschlossen sein muss, ist gesetzlich nicht bestimmt und darf dementsprechend nicht allgemein von der Rechtsprechung vorgegeben werden. Die Beteiligten an dem Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss - neben dem betroffenen Arzt die Kassenärztliche Vereinigung und die Verbände der Krankenkassen (§ 106 Abs. 5 Satz 3 SGB V a.F.) - können bei nicht näher erklärten Verzögerungen im Verfahrensablauf jederzeit formlos um eine Entscheidung nachsuchen und - unter Beachtung der Maßgaben des § 88 SGG - Untätigkeitsklage erheben. Im Übrigen steht der Auffassung der Klägerin, allein durch Zeitablauf und eigenes Stillhalten könne die Entscheidungsbefugnis des Beschwerdeausschusses entfallen, entgegen, dass dieses Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen nicht über eigene Ansprüche entscheidet, sondern über Ansprüche der Kassenärztlichen Vereinigung (auf Rückzahlung von Honorar bei unwirtschaftlicher Behandlungsweise) und der Krankenkassen (auf Erstattung von Kosten für unwirtschaftlich verordnete Arzneimittel). Diese Institutionen haben grundsätzlich keine anderen Einflussmöglichkeiten auf den Verfahrensablauf bei dem Beschwerdeausschuss als der betroffene Arzt (BSG, Beschluss vom 11.05.2011 - B 6 KA 5/11 B -).

6. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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