Ein behindertes Kind hat einen Anspruch auf eine persönliche Assistenz bei den Mahlzeiten während des Kindergartenbesuchs, um seine Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen

Bundesland
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Kategorie
Entscheidungen
Das hat kürzlich die 7. Kammer des Sozialgerichts Fulda im Rahmen eines Eilverfahrens entschieden. Ausgangspunkt des Rechtsstreits war die Weigerung des zuständigen Landkreises, einem Vierjährigen während der Mahlzeiten im Kindergarten eine persönliche Assistenz zur Verfügung zu stellen beziehungsweise die Kosten für eine entsprechende Kraft zu übernehmen.

Der 2011 geborene Junge, der seit Herbst 2014 den Kindergarten besucht, leidet seit seiner Geburt an einer Fehlbildung der Luft- und Speiseröhre. Die Erkrankung führt zu Schluckstörungen bei der Nahrungsaufnahme und kann beim Verschlucken zu Atemnot führen. Wegen der Behinderung erhält das Kind von der Pflegekasse Pflegegeld. Im ersten Jahr des Kindergartenbesuchs gewährte der Landkreis auch wegen einer Entwicklungsverzögerung eine Pauschale für eine Integrationshilfe; die Integrationskraft unterstützte den Jungen in diesem Zusammenhang auch bei den Mahlzeiten im Kindergarten. Den Verlängerungsantrag lehnte der Landkreis ab, da der Junge nunmehr altersentsprechend gut entwickelt sei. Die Betreuung bei den Mahlzeiten könne durch eine Integrationskraft erfolgen, die für ein anderes Kind, das dieselbe Einrichtung besuche, zuständig sei. Gegen die Entscheidung legte die alleinerziehende Mutter des Jungen, die selbst Leistungen nach dem SGB II („Hartz IV“) bezieht, Widerspruch ein und stellte Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht Fulda.

Das Sozialgericht Fulda hat dem Kind Recht gegeben und den Landkreis verpflichtet, in Zukunft vorläufig die Kosten für eine persönliche Assistenz zu den Mahlzeiten während des Kindergartenbesuchs zu übernehmen. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass es sich bei der persönlichen Assistenz um Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sechsten Kapitel des Sozialgesetzbuches (SGB) XII handele (§§ 53 ff.) und nicht um Leistungen der Pflegeversicherung (SGB XI) oder Hilfe zur Pflege. Der Besuch eines Kindergartens stelle einen wesentlichen Beitrag zur frühkindlichen Entwicklung dar und sei damit insgesamt auf Integration ausgerichtet, die ohne die persönliche Assistenz nicht möglich sei. Die begehrte Leistung sei nicht nach § 2 Abs. 1 SGB XII ausgeschlossen. Das Kind könne wegen der Verantwortung nicht dauerhaft durch Mitarbeiterinnen der Einrichtung beaufsichtigt werden. Die weitere Assistenzkraft sei nach den glaubhaften Angaben der Leiterin der Einrichtung bereits ausgelastet. Das Pflegegeld muss der vierjährige Junge nicht für die erforderlichen Hilfen verwenden. Der Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 SGB XII gelte bei Leistungen der Eingliederungshilfen im Verhältnis zu den Pflegeleistungen nicht, heißt es in der Entscheidung.

§ 53 Leistungsberechtigte und Aufgabe
(1) Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten.

(2) Von einer Behinderung bedroht sind Personen, bei denen der Eintritt der Behinderung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Dies gilt für Personen, für die vorbeugende Gesundheitshilfe und Hilfe bei Krankheit nach den §§ 47 und 48 erforderlich ist, nur, wenn auch bei Durchführung dieser Leistungen eine Behinderung einzutreten droht.

(3) Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.

(4) Für die Leistungen zur Teilhabe gelten die Vorschriften des Neunten Buches, soweit sich aus diesem Buch und den auf Grund dieses Buches erlassenen Rechtsverordnungen nichts Abweichendes ergibt. Die Zuständigkeit und die Voraussetzungen für die Leistungen zur Teilhabe richten sich nach diesem Buch.

§ 2 Nachrang der Sozialhilfe
(1) Sozialhilfe erhält nicht, wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält.

(2) Verpflichtungen anderer, insbesondere Unterhaltspflichtiger oder der Träger anderer Sozialleistungen, bleiben unberührt. Auf Rechtsvorschriften beruhende Leistungen anderer dürfen nicht deshalb versagt werden, weil nach dem Recht der Sozialhilfe entsprechende Leistungen vorgesehen sind.

Sozialgericht Fulda, Beschluss vom 28.01.2016, Az.: S 7 SO 55/15 ER
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