L 4 SO 135/18

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 30 SO 47/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 135/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 30. April 2014 wird zurückgewiesen.

Die Klage wird abgewiesen

Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Bewilligung eines Mehrbedarfs auch für die Zeit vor Ausstellung des entsprechenden Schwerbehindertenausweises.
Der 1959 geborene Kläger ist voll erwerbsgemindert und bezog seit 1. August 2005 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) – Sozialhilfe von der Beklagten, in deren Zuständigkeitsbereich er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Mit Abhilfebescheid vom 25. Juni 2010 stellte das Versorgungsamt Wiesbaden für den Kläger fest, dass in seiner Person ab Dezember 2018 die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G" vorlagen und der Grad seiner Behinderung 100 betrug. Das Versorgungsamt stellte ihm unter dem 2. Juli 2010 einen entsprechenden Schwerbehindertenausweis aus.

Nach Vorlage dieses Schwerbehindertenausweises am 5. Juli 2010 bei der der Beklagten bewilligte diese mit Leistungsbescheid vom 6. Juli 2010 unter Änderung des Leistungsbescheids vom 23. April 2010 mit Wirkung ab 1. Juli 2010 bis zum 30. April 2011 einen Mehrbedarf aufgrund des Merkzeichens „G“ in Höhe von 61,03 Euro monatlich.

Mit Schreiben vom 19. Juli 2010 erhob der Kläger hiergegen Widerspruch und machte einen Anspruch auf Berücksichtigung des Mehrbedarfs ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse geltend, die ausweislich des Bescheides des Versorgungsamtes im Dezember 2008 eingetreten sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 2012 wies die Beklagte den hiergegen eingelegten Widerspruch als unbegründet zurück, weil die Anspruchsvoraussetzungen für den pauschalierten Mehrbedarf nicht vor Ausstellung des entsprechenden Schwerbehindertenausweises eintreten könnten. Weitergehende Leistungen für den Zeitraum Dezember 2008 bis Juni 2010 seien nicht geltend gemacht worden; auch sei ein über den Regelsatz hinausgehender Bedarf weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, der eine abweichende Festsetzung des Regelbedarfs nach § 27a Abs. 4 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) – Sozialhilfe - begründen würde.

Am 23. Februar 2012 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Wiesbaden erhoben.

Der Kläger hat ausgeführt, dass die im Widerspruchsbescheid zitierte Entscheidung des Bundessozialgerichts von November 2011 noch auf der bis zum 6. Dezember 2006 geltenden Fassung des § 30 SGB XII beruhe, nach der in der Tat der Besitz eines Schwerbehindertenausweises als Anspruchsvoraussetzung normiert gewesen sei. Die ab dem 7. Dezember 2006 geltende neue Fassung des § 30 SGB XII stelle aber nicht mehr allein auf den Zeitpunkt der Vorlage des Schwerbehindertenausweises ab. Zudem sei die erhebliche Behinderung des Klägers bereits bei der Beklagten zuvor aktenkundig gewesen. Die in dem Bescheid des Versorgungsamtes enthaltene Festlegung des Eintritts der Behinderung finde auch bereits steuerrechtliche Berücksichtigung.

Die Beklagte hat vorgetragen, dass es ihr vor dem 5. Juli 2010 nicht bekannt gewesen sei, dass der Kläger einen Antrag auf Zuerkennung einer Schwerbehinderung bzw. des Merkzeichens „G" gestellt habe bzw. insoweit ein Klageverfahren angestrengt gehabt habe. Einem Sozialhilfeträger sei nicht zuzumuten, dass er die Notwendigkeit einer Leistung erahne. So bestehe auch kein Anspruch auf eine nachträgliche Gewährung von höheren Leistungen der Hilfe zur Pflege, wenn einer Person von der Pflegekasse nachträglich eine höhere Pflegestufe zuerkannt werde, der Sozialhilfeträger hiervon aber nichts gewusst habe. Es sei Aufgabe des Leistungsbeziehers, mögliche Mehraufwendungen, die eine abweichende Festsetzung der Regelleistung rechtfertigen könnten, auch der Behörde gegenüber substantiiert vorzutragen und nachzuweisen. Erst dann könne der Leistungsträger überhaupt eine mögliche Übernahme der Kosten prüfen. Mit der Novellierung sei es dem Gesetzgeber darum gegangen, lediglich die zeitliche Differenz zwischen Erlass des Bescheides einerseits und der Ausstellung des Schwerbehindertenausweises daraufhin andererseits einzuebnen. Eine Einbeziehung auch der Begründung des Bescheides als Wille des Gesetzgebers sei der Gesetzesbegründung in der Bundestagsdrucksache 16/2711, Seite 11 Nr. 8, nicht zu entnehmen.

Mit Urteil vom 30. April 2014 hat das Sozialgericht ohne mündliche Verhandlung die Klage als unbegründet abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Berücksichtigung eines Mehrbedarfs als Schwerbehinderter für die Zeit vor dem 1. Juli 2010. 

Gegen das ihm am 17. Mai 2014 zugestellte Urteil hat der Kläger am 13. Juni 2014 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt (Aktenzeichen L 4 SO 99/14). Mit Beschluss vom 17. Januar 2017 hat das Gericht auf Antrag der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens angeordnet; am 7. August 2018 ist das Verfahren vom Amts wegen wieder aufgerufen und unter dem aktuellen Aktenzeichen fortgesetzt worden. Mit Schriftsatz vom 17. Oktober 2019 haben die Beklagte und mit Schriftsatz vom 18. Oktober 2018 der Kläger ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin und ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Der Kläger vertritt die Auffassung, den Ausführungen des BSG im Urteil vom 25. April 2018 (B 8 SO 25/18 R) könne nicht gefolgt werden. Dem Wortlaut von § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII lasse sich nicht entnehmen, dass der Mehrbedarf erst ab dem Zeitpunkt des Nachweises durch einen Bescheid oder den Schwerbehindertenausweis zu gewähren sei. Wortlaut, Historie, Gesetzgebungsmaterialen und Sinn und Zweck der Vorschrift sprächen dafür, dass es für den Beginn des Anspruchs auf dem genannten Zeitpunkt der Gewährung des Merkzeichens G ankomme, nach dem es nach der Neufassung des Gesetzes auf den „Besitz“ des Schwerbehindertenausweises/Bescheides der Versorgungsverwaltung nicht mehr ankomme. Es könnten daher nur die allgemeinen Regelungen des § 48 SGB X gelten. Die Vorschrift enthalte nur noch eine Regelung darüber, wie die Anspruchsvoraussetzungen nachzuweisen seien. Für eine solche Auslegung sprächen auch § 2 Abs. 2 Halbsatz 2 SGB I sowie Art. 20, 26 UN-Behindertenrechtskonvention.

Zum Hilfsantrag behauptet er, er sei aufgrund seiner Gehbehinderung nicht mehr in der Lage, maßgebliche Strecken zu Fuß zurückzulegen. Für alle seine Einkäufe, Arztbesuche, Behördengänge, sonstige Besorgungen, Besuch von Veranstaltungen und Freizeitaktivitäten habe er entsprechende Aufwendungen für Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln machen müssen. Gehe man von nur 3 wöchentlichen Fahrten in die A Stadter Innenstadt aus, ergäben sich bei einem Preis für eine Einzelfahrkarte von 2,60 Euro monatliche Kosten in Höhe von 67,60 Euro (2 x 2 Fahrkarten x 3 Fahrten wöchentliche x 52 Wochen: 12 Monate). Er habe mithin im fraglichen Zeitraum mithin nachweislich einen Mehrbedarf fast in der Höhe der Pauschale nach § 30 Abs. 1 SGB XII gehabt. Er habe darüber hinaus Aufwendungen für Fahrten außerhalb des Stadtgebiets von A-Stadt gehabt. Der genaue Bedarf sei gemäß § 287 ZPO zu schätzen.

Der Kläger beantragt, 

das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 30. April 2014 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 6. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Mai 2012 zu verurteilen, ihm im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem SGB XII für die Zeit vom 1. Dezember 2008 bis zum 30. Juni 2010 einen Mehrbedarf gemäß § 30 Abs. 1 SGB XI in Höhe von 17% der maßgeblichen Regelbedarfsstufe zu gewähren,
hilfsweise ihm einen Mehrbedarf durch abweichende Festsetzung des Regelbedarfs nach § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte trägt vor, nach dem Entscheidung des BSG vom 25. April 2018 sei für die Gewährung eines Mehrbedarfs nicht der Zeitpunkt maßgeblich, zu dem die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens vorlägen, sondern der Zeitpunkt des Feststellungsbescheides. Dementsprechend seien dem Kläger Leistungen gewährt werden. Weitergehende Ansprüche bestünden nicht. Der Kläger erhalte seit vielen Jahren Hilfen bei Einkäufen; ihm habe regelmäßig eine sog. C Kundenkarte zur Verfügung gestanden, die ihn berechtige, vergünstigt eine Monatskarte zum ÖPNV zu erwerben. Die geltend gemachten Einzelfahrkosten seien daher hinfällig. Der Kläger habe keine konkreten höheren Aufwendungen nachgewiesen. 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der Entscheidung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Berichterstatterin des Senats konnte als Einzelrichterin und ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit übereinstimmend einverstanden erklärt haben, § 155 Abs. 3 und 4, § 153 Abs. 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. 

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Bescheid vom 6. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Februar 2012 (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte den Bescheid vom 23. April 2010 nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch   Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) mit Wirkung vom 1. Juli 2010 zugunsten des Klägers geändert hat; darin liegt aber zugleich die Ablehnung der beantragten Gewährung des pauschalierten Mehrbedarfs nach § 30 Abs. 1 Zwölftes Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe - (SGB XII) bereits ab 1. Dezember 2008.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des pauschalierten Mehrbedarfs bereits ab 1. Dezember 2008. 

Der Beklagte ist für die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach den §§ 3 Abs. 2, 97 Abs. 1, 98 Abs. 1 SGB XII i. V. m. § 1 Abs. 1 Hessisches Ausführungsgesetz zum Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (HAG/SGB XII) örtlich und sachlich zuständiger Träger der Sozialhilfe. 

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X. Danach soll ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung bei einer Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorlagen, mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt.

Eine Änderung der Verhältnisse ist unter Berücksichtigung der die Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X hinsichtlich des Leistungsbeginns modifizierenden Norm (BSG, Urteil vom 10. November 2011 – B 8 SO 18/10 R –, SozR 4-3500 § 44 Nr. 2 Rn. 16) des § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB XII (in der bis 31. März 2011 geltenden Normfassung des Artikel 1 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, BGBl. I S. 3022), wonach bei einer Änderung der Leistung der Bewilligungszeitraum am Ersten des Monats beginnt, in dem der Antrag gestellt worden ist oder die Voraussetzungen für die Änderung eingetreten und mitgeteilt worden sind, erst mit Wirkung vom 1. Juli 2010 eingetreten, weil der Kläger den feststellenden Abhilfebescheid des Versorgungsamtes vom 25. Juni 2010 am 5. Juli 2010 bei der Beklagten vorgelegt hat. Ab diesem Zeitpunkt hat der Kläger Anspruch auf den pauschalierten Mehrbedarf, wovon auch der Beklagte zutreffend mit dem streitgegenständlichen Verwaltungsakte ausgegangen ist.

Nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII in der hier maßgeblichen Normfassung des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 2. Dezember 2006 - BGBl I 2670) wird ein Mehrbedarf für Personen, die – wie der Kläger - die Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 SGB XII noch nicht erreicht haben und voll erwerbsgemindert nach dem Sechsten Buch sind, und durch einen Bescheid der nach § 69 Abs. 4 des Neunten Buches zuständigen Behörde oder einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 des Neunten Buches die Feststellung des Merkzeichens „G“ nachweisen, ein Mehrbedarf von 17 v. H. der maßgebenden Regelbedarfsstufe anerkannt, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht. 

Bereits zu der bis zum 6. Dezember 2006 maßgeblichen Rechtslage, nach der die Gewährung eines Mehrbedarfs allein an den Besitz eines Ausweises mit dem Merkzeichen „G“ geknüpft war, hatte das Bundessozialgericht entschieden, dass nach dem Wortlaut der Regelung sowie ihrem Sinn und Zweck ein Normverständnis nicht zu begründen ist, welches die Zuerkennung des pauschalierten Mehrbedarfs bereits ab dem Zeitpunkt des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ erlaubt (BSG, Urteil vom 10. November 2011, B 8 SO 12/10 R, SozR 4-3500 § 30 Nr. 4). 

Auch unter der ab 7. Dezember 2006 geltenden Normfassung des § 30 Abs. 1 SGB XII (insoweit geändert durch das Gesetz zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 2.12.2006 - BGBl I 2670) ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung für die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen Zuerkennung des Merkzeichens „G“ nicht der Zeitpunkt maßgeblich, zu dem die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens nach den Feststellungen des Versorgungsamts vorliegen, sondern der Zeitpunkt des Feststellungsbescheids als Nachweis (§ 21 Abs. 2 SGB X) gegenüber dem Sozialhilfeträger für das Vorliegen des Nachteilsausgleichs (BSG, Urteil vom 25. April 2018 – B 8 SO 25/16 R –, SozR 4-3500 § 30 Nr. 5, Rn. 11). Das Bundessozialgericht (aaO, Rn. 18) hat hierzu ausgeführt: 

„Dies ist dem Wortlaut der Regelung, ihrem Sinn und Zweck sowie der Gesetzesentwicklung zu entnehmen. Nach wie vor stellt der Wortlaut der Regelung auf einen „Bescheid“ oder (wie bisher) einen „Ausweis“ ab. Nach dem Tatbestand des § 30 Abs. 1 SGB XII scheidet ein Anspruch auf den Mehrbedarf deshalb für Zeiten, in denen weder ein Feststellungsbescheid ergangen noch ein Ausweis ausgestellt worden ist, aus. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck der Regelung sowie den hergebrachten Strukturen des Sozialhilferechts, wonach Sozialhilfe einen aktuellen Bedarf decken soll (so genanntes Gegenwärtigkeitsprinzip, vgl. nur BSGE 104, 213 = SozR 4-1300 § 44 Nr. 20, RdNr. 13) und nicht für vergangene Zeiträume zu erbringen ist, in denen ein etwa bestehender (Mehr-)Bedarf nicht gedeckt wurde (grundlegend dazu BSG, aaO, RdNr. 17 ff). Der Auffassung, dass der Gesetzgeber mit der Erweiterung der Nachweismöglichkeit zugleich eine Feststellungswirkung bezogen auf den Zeitpunkt begründen wollte, zu dem der Nachteilsausgleich vom Versorgungsamt rückwirkend anerkannt worden ist (so Simon in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 30 SGB XII RdNr. 44; Münder in Lehr- und Praxiskommentar, SGB XII, 10. Aufl. 2015, § 30 RdNr. 6; Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl. 2014, § 30 SGB XII RdNr. 8, allerdings mit dem nicht zutreffenden <vgl. insoweit BSG SozR 4-3500 § 30 Nr. 4 RdNr. 33> Hinweis auf § 18 SGB XII), steht der tatsächliche Wille des Gesetzgebers entgegen, wie er in der Gesetzesbegründung zur Änderung des § 30 Abs. 1 SGB XII zum 7.12.2006 (vgl. BT-Drucks 16/2711 S. 11) unzweifelhaft zum Ausdruck kommt (so auch Scheider in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Aufl. 2015 § 30 RdNr. 9.3). Danach hänge die Zuerkennung eines Mehrbedarfs bislang (also vor dem 7.12.2006) davon ab, dass die leistungsberechtigte Person einen Schwerbehindertenausweis besitze, was zur Folge habe, dass der Mehrbedarf erst ab dem Zeitpunkt der Ausstellung des Schwerbehindertenausweises und damit regelmäßig erst mehrere Wochen nach Bekanntgabe des Feststellungsbescheids in Anspruch genommen werden könne. Da Bescheid und Ausweis faktisch denselben Beweiswert hätten, solle die Gesetzesänderung den Zugang der Leistungsberechtigten zu den ihnen zustehenden Leistungen erleichtern und dadurch gleichzeitig bei den für das Feststellungsverfahren zuständigen Behörden und den Trägern der Sozialhilfe zum Abbau von Verwaltungsaufwand beitragen. Der Gesetzgeber verfolgte mit der Gesetzesänderung mithin erkennbar das Ziel, zwar den Betroffenen den Nachweis des Nachteilsausgleichs zu erleichtern, nicht aber, die Möglichkeit der Zuerkennung eines pauschalierten Mehrbedarfs im Rahmen des § 30 Abs. 1 SGB XII über den Zeitpunkt des Nachweises hinaus für die Vergangenheit zu eröffnen. Hätte er eine weitergehende Begünstigung gewollt, hätte es nahegelegen, nicht auf die bescheidmäßige Feststellung, sondern - insbesondere im Hinblick auf die Entscheidung des Senats vom 10.11.2011 (B 8 SO 12/10 R - SozR 4-3500 § 30 Nr. 4) - ausdrücklich auf den Zeitpunkt der ggf. auch rückwirkenden Zuerkennung des Nachteilsausgleichs abzustellen.“

Soweit der Kläger im Berufungsverfahren hilfsweise einen Mehrbedarf durch abweichende Festsetzung des Regelbedarfs nach § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII geltend macht, ist zunächst festzustellen, dass der Kläger nach seinem Vorbringen die abweichende Festsetzung des Regelbedarfs nach § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in der insoweit maßgeblichen Normfassung des Art. 1 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, BGBl. I 3022 (im Folgenden: a.F.) begehrt und nur versehentlich die aktuelle Normfassung bezeichnet hat. 

Die Klage weder zulässig noch begründet.

Der Kläger hatte den Streitgegenstand im Klageverfahrens wirksam auf die Zuerkennung des pauschalierten Mehrbedarfs nach § 30 Abs. 1 SGB XII (zur Abtrennbarkeit als eigener Streitgegenstand vgl. BSG, Urteil vom 19. Mai 2009, B 8 SO 8/08 R, BSGE 103, 181 = SozR 4-3500 § 42 Nr. 2; Urteil vom 14. April 2011, B 8 SO 18/09 R, SozR 4-3500 § 29 Nr. 3; Urteil vom 10. November 2011, B 8 SO 12/10 R, SozR 4-3500 § 30 Nr. 4), beschränkt und einen individuellen Mehrbedarfs erst im Berufungsverfahren hilfsweise geltend gemacht. Es handelt sich insoweit um eine Klageänderung i. S. v. § 99 Abs. 1 SGG im Berufungsverfahren, die zulässig ist, da die Beklagte sich hierauf rügelos eingelassen hat. 
Die geänderte Klage ist indessen nicht zulässig. Zwar hat der Beklagte im streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 2012 auch – ablehnend - über eine abweichende Festsetzung des Regelbedarfes entschieden, der Widerspruchsbescheid ist jedoch wegen der ursprünglichen und wirksamen Beschränkung der Klage auf den pauschalierten Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 SGB XII insoweit bestandskräftig geworden; die erstmalig am 30. Juli 2014 mit Schriftsatz gleichen Datums geltend gemacht Festsetzung des Regelbedarfes wahrt nicht die Klagefrist des § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Die geänderte Klage ist allerdings auch unbegründet, da die Voraussetzungen für eine abweichende Regelbedarfsfestsetzung nicht vorliegen.
Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. werden die Bedarfe abweichend festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist oder unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. 
Solche unabweisbar ihrer Höhe nach erheblich vom durchschnittlichen Bedarf abweichende Mehrbedarfe hat der Kläger nicht substantiiert dargetan. Er beschränkt sein Vorbringen darauf, dass er für alle seine Einkäufe, Arztbesuche, Behördengänge, sonstige Freizeitaktivitäten wegen seiner Gehbehinderungen „entsprechende“ Aufwendungen für Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln habe machen müssen. Gehe man davon aus, dass er im streitgegenständlichen Zeitraum nur dreimal wöchentlich entsprechend Fahrten in die A-Stadter Innenstadt unternommen habe, ergebe dies monatliche Kosten in Höhe von 67,60 Euro. Er habe auch Aufwendungen für Fahrten außerhalb des Stadtgebiets von A-Stadt. Der Kläger hat aber weder konkrete Mehraufwendungen wegen seiner Gehbehinderung dargelegt noch auch nur Anlass und Häufigkeit für erforderlich gehaltener Fahrten und deren Fahrziele. Ein unabweisbar höherer Bedarf für Mobilität als der durchschnittliche lässt sich hieraus nicht ableiten. Auch eine Schätzung des geltend gemachten Mehrbedarfs durch das Gericht nach § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) ist ungeachtet der Frage, ob die Norm über § 202 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren Anwendung findet, nicht möglich, da der anwaltlich vertretene Kläger die auch nach § 287 ZPO erforderliche schlüssige Darlegung von Ausgangs- und Anknüpfungstatsachen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 21. Januar 2016 – I ZR 90/14 – juris) für die Schätzung trotz des gerichtlichen Hinweises mit Berichterstatterverfügung vom 27. Dezember 2018 und 21. März 2019 unterlässt. Ohne die klägerische Darstellung der Schätzgrundlagen ist dem Gericht indessen eine Schätzung unmöglich, auch die Überprüfung der vom Kläger selbst vorgenommene Schätzung (auf 67,60 Euro) ist nicht möglich.
Da den Kläger auch die objektive Beweislast für den Mehrbedarf im Sinne von § 28 Abs.1 Satz 2 SGB XII a. F. dem Grunde und der Höhe nach trifft, konnte sein Begehren nicht zum Erfolg führen.

Die Kostengrundentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
Saved