L 9 AY 79/20

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
Abteilung
9
1. Instanz
SG Kiel (SHS)
Aktenzeichen
S 22 AY 12/20 ER
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AY 79/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 26. April 2020 aufgehoben.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen gemäß § 2 AsylbLG unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 ab 15. Juli 2020 bis zum 31. Dezember 2020, längstens jedoch bis zur Bestandskraft des Bescheids vom 3. April 2020 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten für beide Rechts­züge.

Der Antrag des Antragstellers, ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin _______, _______, für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen, wird abgelehnt.

 

G r ü n d e:

 

I.

 

Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren über die Gewährung von Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) nach der Regelbedarfsstufe 1.

 

Der 1984 geborene Antragsteller ist Staatsangehöriger Jemens. Er hält sich seit dem 16. April 2018 in der Bundesrepublik Deutschland auf und lebt seit Mai 2018 in K_______ in der Gemeinschaftsunterkunft S_______.

 

Der Antragsteller beantragte am 20. April 2018 Asyl, ihm wurde eine Aufenthaltsgestattung erteilt (Verweis auf Bl. 2, 53 der Verwaltungsakte – VA).

 

Im Mai 2018 stellte er beim Antragsgegner einen Antrag auf Leistungen nach dem AsylbLG. Er gab an, in Griechenland bereits als asylberechtigt anerkannt zu sein (Bl. 12 der VA).

 

Mit Bescheid vom 9. Mai 2018 gewährte der Antragsgegner für den Zeitraum vom 9. Mai bis zum 31. Oktober 2018 eingeschränkte Leistungen gemäß § 1a AsylbLG (Bl. 13 der VA). Den hiergegen gerichteten Widerspruch (Bl. 20 der VA) wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 7. Juni 2018 als unbegründet zurück (Bl. 24 der VA).

 

Den Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Bescheid vom 8. Juni 2018 gemäß § 29 Asylgesetz (AsylG) als unzulässig ab. Die dagegen erhobene Klage wurde mit Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 16. Oktober 2018 (Az.: ___ A _____/18) abgewiesen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wurde am 11. Dezember 2019 durch das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen (Az.: ___ LA _____/18).

 

Mit Bescheiden vom 24. Oktober 2018, vom 15. März 2019 und vom 13. September 2019 hatte der Antragsgegner dem Antragsteller für den Zeitraum vom November 2018 bis März 2020 eingeschränkte Leistungen gewährt (Bl. 46, 66, 92f. der VA).

 

Am 31. Dezember 2019 beantragte der Antragsteller die Überprüfung der Leistungsbescheide vom 9. Mai 2018, vom 11. Mai 2018 und vom 24. Oktober 2018 (Bl. 109 der VA). Mit Bescheid vom 5. Februar 2020 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab (Bl. 121 der VA). Den hiergegen gerichteten Widerspruch (§ 129 f. VA) wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 13. März 2020 als unbegründet zurück (Bl. 131 ff. der VA). Der Bescheid ist Gegenstand des Klageverfahrens zum Az. S 22 AY 27/20 beim Sozialgericht Kiel.

 

Mit Bescheid vom 18. März 2020 schränkte der Antragsgegner die Leistungen weiterhin für den Zeitraum vom 1. April bis zum 30. September 2020 ein (Bl. 133 der VA).

 

Aufgrund der Weisungslage im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gewährte der Antragsgegner mit Bescheid vom 3. April 2020 dem Antragsteller ab 1. April 2020 bis auf weiteres Leistungen gemäß § 3 AsylbLG in Höhe von 316,00 EUR (Bl. 149 ff. der VA).

 

Der Antragsteller hat am 21. April 2020 beim Sozialgericht Kiel Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Der Anordnungsanspruch ergebe sich aus § 2 AsylbLG. Er halte sich unstreitig länger als 18 Monate im Bundesgebiet auf. Er habe die Dauer seines Aufenthalts auch nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten liege nicht schon in der zur Aufenthaltsverlängerung führenden Nutzung der Rechtsposition, die der Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung erlangt habe, auch wenn ihm die Ausreise möglich und zumutbar wäre. Die frühere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, die dem entgegenstehe, sei aufgegeben worden. Vielmehr sei ein pflichtwidriges Verhalten zu fordern. Aktuell komme insbesondere aufgrund der Situation der Corona-Pandemie eine Ausreise nach Griechenland nicht in Betracht. Zwar wohne er in einer Unterkunft nach § 53 Abs. 1 AsylG, dennoch habe er einen Anspruch auf die Regelbedarfsstufe 1. Leistungsunterschiede zwischen Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG und Leistungsberechtigten nach dem Sozialgesetzbuch, Zwölftes Buch (SGB XII), seien nur gerechtfertigt, wenn und soweit die Bedarfslagen der beiden Gruppen in einem inhaltlich transparenten Verfahren sachgerecht ermittelt worden seien. An einer entsprechenden Erhebung der Verbrauchsausgaben von Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz fehle es. Ohne eine solche erscheine die pauschale Annahme des Gesetzgebers, dass regelmäßig einander fremde Personen gemeinsam wie Ehegatten oder Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft wirtschaften würden, nicht haltbar. Synergieeffekte könnten zum Teil bereits dann nicht erzielt werden, wenn für andere Mitbewohner Anspruchseinschränkungen nach § 1a AsylbLG festgestellt oder Leistungen mit geringeren Regelbedarfsstufen gewährt werden würden. In Gemeinschaftsunterkünften würden regelmäßig einander fremde Personen aus unterschiedlichen Nationen und Kulturkreisen untergebracht. Bei generell knapp bemessenen Leistungen bestehe kein besonderes Nähe- und Vertrauensverhältnis untereinander, welches einem gemeinsamen Wirtschaften in der Regel zugrunde gelegt werde. Eine Prüfung, ob er tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften mit anderen Leistungsberechtigten erziele, sei bisher seitens der Antragsgegner nicht durchgeführt worden.

 

Der Antragsteller hat wörtlich beantragt,

 

die Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig Leistungen gemäß § 2 AsylbLG unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren und monatsentsprechend auszuzahlen.

 

Der Antragsgegner hat beantragt,

 

          den Antrag abzuweisen.

 

Der Antragsteller erfülle die Voraussetzungen einer Leistungseinschränkung gemäß § 1a Abs. 4 AsylbLG. Die sekundäre Immigration solle sanktioniert werden. Vor diesem Hintergrund gebe es keinen Anspruch auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG. Die Höhe der dem Antragsteller gewährten Leistungen entspreche der gesetzlichen Regelung für alleinstehende Personen, die in einer Gemeinschaftsunterkunft lebten.

 

Mit Beschluss vom 26. April 2020 hat das Sozialgericht Kiel den Antrag abgelehnt. Ein Anspruch auf Leistungen gemäß § 2 AsylbLG bestehe nicht. Jedes Verhalten, das der Rechtsordnung widerspreche, sei ein objektiver Rechtsmissbrauch. Ausreichend sei, dass der Leistungsberechtigte trotz Ausreisepflicht nicht ausreise. Dies sei im vorliegenden Fall gegeben. Der Asylantrag des Antragstellers sei mit Bescheid vom 8. Juni 2018 abgelehnt worden. Mit Urteil des Schleswig-Holstei­nischen Verwaltungsgerichts vom 16. Oktober 2018 sei der Bescheid nach Zurückweisung des Antrags auf Zulassung der Berufung vom 11. Dezember 2019 bestandskräftig geworden. Der Antragsteller sei damit ausreisepflichtig, sein Verbleib stelle damit einen objektiven Rechtsmissbrauch dar. Dieser sei dem Antragsteller auch subjektiv vorwerfbar. Ob die Ausreise aktuell zumutbar sei, sei nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck der Vorschrift des § 2 AsylbLG ohne Bedeutung. Maßgebend sei allein der Zusammenhang zwischen der gesamten Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland und dem Fehlverhalten des Ausländers, gleichgültig, ob dieses Fehlverhalten einmalig oder auf Dauer angelegt sei bzw. ob es war oder ob es sich wiederholt habe. Bereits die Gesetzesbegründung zeige, dass gerade ein einmaliges Verhalten bei oder vor der Einreise nach Deutschland zum Anlass genommen werden könne, dem Ausländer nach Ablauf von drei bzw. vier Jahren einen Anspruch auf analoge Leistungen vorzuenthalten. Ein Ausländer, der seinen Aufenthalt selbst missbräuchlich beeinflusst habe, sei nicht schutzbedürftig. § 2 AsylbLG unterscheide sich von § 1a AsylbLG. Die Rechtsprechung zu § 1a AsylbLG sei demnach nicht übertragbar. Nach der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom 11. Dezember 2019 habe der Antragsteller die Möglichkeit gehabt, freiwillig auszureisen. Zu diesem Zeitpunkt hätten noch keine Reisebeschränkungen im Zusammenhang mit der Corona-Pande­mie bestanden. Durch die Bescheide des Antragsgegners vom 9. Mai 2018, 24. Oktober 2018, 15. März 2019 und 13. September 2019 sei dem Antragsteller auch bekannt gewesen, dass er ausreisepflichtig sei.

 

Gegen den ihm am 27. April 2020 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 27. Mai 2020 Beschwerde erhoben. Er verfolgt sein Begehren weiter. Die zu § 1a AsylbLG entwickelte Rechtsprechung zur Auslegung des Merkmals „rechtsmissbräuchlich“ sei auch im Rahmen des § 2 AsylbLG heranzuziehen. Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal sei, ob eine Rückkehr in das schutzgewährende Land (hier Griechenland) rechtlich wie tatsächlich möglich und auch zumutbar sei. Eine Beschränkung der Leistungen auf ein durch etwaige Minderbedarfe für Kurzaufenthalte geprägtes Existenzminimum sei unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsstatus und ohne Rücksicht auf die Berechtigung einer ursprünglich gegenteiligen Prognose jedenfalls dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn der tatsächliche Aufenthalt die Spanne eines Kurzaufenthalts deutlich überschreite. Er halte sich seit Frühjahr 2018 in Deutschland auf, sein Aufenthalt sei nicht kurzfristig. Es sei auch nicht damit zu rechnen, dass er in absehbarer Zeit nach Griechenland abgeschoben werde, weil die Lage in griechischen Flüchtlingslagern in jeder Hinsicht menschenunwürdig und konkret gesundheitsgefährdend sei. Eine Beschränkung auf Leistungen nach § 3 AsylbLG sei damit nicht gerechtfertigt.

 

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

 

den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 26. April 2020 aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, ihm vorläufig Leistungen gemäß § 2 AsylbLG unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren und monatsentsprechend auszuzahlen.

 

Der Antragsgegner beantragt,

 

die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die Leistungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.

 

II.

 

Die Beschwerde des Antragstellers hat in tenoriertem Umfang Erfolg.

 

Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht erhoben worden (§ 173 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Sie ist statthaft, weil die Berufung in der Hauptsache nicht der Zulassung bedürfte (§§ 172 Abs. 3 Nr. 1, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Ausgehend von der monatlichen Differenz zwischen den gewährten monatlichen Leistungen und den zukunftsoffen begehrten Analogleistungen bezogen auf den Zeitraum ab Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist die Wertgrenze von 750,00 EUR überschritten.

 

Die Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 SGG hat das Sozialgericht im Einzelnen zutreffend definiert. Der Senat nimmt auf die diesbezüglichen Ausführungen nach § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG Bezug.

 

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch auf Leistungen nach dem § 2 AsylbLG i. V. m. dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) glaubhaft gemacht.

 

Der Antragsteller gehört zum leistungsberechtigten Personenkreis nach dem AsylbLG. Die ursprünglich erteilte Aufenthaltsgestattung ist gemäß § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AsylG am 11. Dezember 2019 erloschen. Nach dieser Vorschrift erlischt die Aufenthaltsgestattung im Übrigen, wenn die Entscheidung des Bundesamtes unanfechtbar geworden ist. Nach Auskunft des Antragsgegners ist dem Antragsteller am 2. Juni 2020 eine Duldung (§ 60a Aufenthaltsgesetz – AufenthG) erteilt worden. Er war also ab 11. Dezember 2019 vollziehbar ausreisepflichtig und daher leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG. Aktuell besteht die Leistungsberechtigung nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG (Besitz einer Duldung nach § 60a AufenthG).

 

Er erfüllt auch die Anforderungen für die Analogberechtigung gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG. Danach sind abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch und Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

 

Die Voraussetzungen liegen vor. Der Antragsteller hält sich seit 16. April 2018 und so länger als 18 Monate im Bundesgebiet auf. Er hat die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

 

Der Begriff des Rechtsmissbrauchs wird im AsylbLG nicht definiert. Er wurzelt in dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben (vgl. § 242 Bürgerliches Gesetzbuch). Als vorwerfbares Fehlverhalten beinhaltet er eine objektive (Missbrauchstatbestand) und eine subjektive Komponente (Verschulden). Der Vorschrift des § 2 AslbLG und damit dem – die Beeinflussung der Aufenthaltsdauer dienenden – Rechtsmissbrauch liegt der Gedanke zu Grunde, dass niemand sich auf eine Rechtsposition berufen darf, die er selbst treuwidrig herbeigeführt hat (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R, juris Rn. 32 m. w. N.).

 

In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Der Ausländer soll danach von Analogleistungen ausgeschlossen sein, wenn die von § 2 AsylbLG vorgesehene Vergünstigung andernfalls auf gesetzwidrige oder sittenwidrige Weise erworben wäre. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit) führt zum Ausschluss von Analog­leistungen (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R, juris Rn. 32 m. w. N.). Die Gesetzesbegründung führt insoweit beispielhaft die Vernichtung des Passes und Angabe einer falschen Identität (BT-Drucks. 15/420, S. 121) als typische Fallgestaltungen eines Rechtsmissbrauchs an, es sei denn, sie wären ihrerseits eine Reaktion auf oder eine vorbeugende Maßnahme gegen objektiv zu erwartendes Fehlverhalten des Staates, bei dem um Asyl nachgesucht wird – wie etwa eine rechtswidrige Zurückweisung bei der Einreise oder eine rechtswidrige Verweigerung der Einreise. Auf Rechtsmissbrauch kann sich der Staat dann nicht berufen, wenn er sich selbst rechtswidrig oder rechtsmissbräuchlich verhält.

 

Ausgehend von diesem Maßstab ist für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs nicht schon die zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition ausreichend, die der Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung erlangt hat, wenn es ihm möglich und zumutbar wäre, auszureisen (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R, juris Rn. 35). Im vorliegenden Fall besaß der Antragsteller am 11. Dezember 2019 jedoch weder eine formelle Rechtsposition (z. B. Duldung) noch ein materielles Aufenthaltsrecht (z. B. Aufenthaltsgestattung). Erst am 2. Juni 2020 ist ihm eine Duldung erteilt worden. Jedoch kann vor dem Hintergrund der obigen vom Bundessozialgericht aufgestellten Grundsätze und angesichts der dort zitierten Gesetzesbegründung bloßes Nichtstun (konkret: das Unterlassen der freiwilligen Ausreise ab dem 11. Dezember 2019) auch bei Leistungsberechtigten, die weder ein materielles Aufenthaltsrecht noch eine formale Rechtsposition haben, nach Auffassung des erkennenden Senats nicht rechtsmissbräuchlich sein. Dass der Antragsteller sich ansonsten unredlich verhalten hat oder sich einer Abschiebung widersetzt hat, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Vielmehr hat er selbst angegeben, bereits in Griechenland als asylberechtigt anerkannt worden zu sein.

 

Ab 2. Juni 2020 scheitert die Annahme eines Rechtsmissbrauchs bereits an der gewährten Duldung. Ist die Abschiebung ausgesetzt, bleibt nach dem AufenthG die Ausreisepflicht zwar unberührt (§ 60a AufenthG). Eine asylbewerberleistungsrechtlich beachtliche Rechtspflicht im eigentlichen Sinn ist damit nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt, aber mangels Vollziehbarkeit der Abschiebung nicht verbunden. Es wäre widersprüchlich, den Aufenthalt des Ausländers vorübergehend zu dulden und ihm gleichzeitig den Aufenthalt als Rechtsmissbrauch vorzuwerfen, obwohl der Staat selbst zeitweise darauf verzichtet, die Ausreisepflicht durchzusetzen. Nach der Ausländer nicht ausnehmenden prinzipiellen Ordnung des Verhältnisses des Einzelnen zum Staat im Grundgesetz vermittelt die Duldung dem Ausländer eine geschützte Rechtsposition. Sie stellt einen ihn begünstigenden Verwaltungsakt dar, auf dessen Erteilung der Ausländer bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen einen Rechtsanspruch hat. Hält der Staat, etwa aus völkerrechtlichen bzw. humanitären Gründen oder zur Wahrung der politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland, den weiteren Verbleib des Ausländers selbst für erforderlich oder ist eine Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen sogar unmöglich, kann dem Ausländer die Inanspruchnahme einer Duldung nicht vorgeworfen werden. Nicht in dem Nichtausreisen des Ausländers trotz (formaler) Ausreisepflicht (Duldung) liegt ein Rechtsmissbrauch, sondern allenfalls in den Gründen, die hierzu geführt haben. Der Aufenthaltsstatus (Duldung) ist für die Beantwortung der Frage, ob der Ausländer seinen Aufenthalt rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat, unerheblich. Hat der Ausländer diese Gründe zu vertreten, hat er also insoweit selbst Einfluss auf das Geschehen genommen, kann nur deshalb, nicht aber wegen bestehender Ausreisepflicht, ein Rechtsmissbrauch bejaht werden (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R, juris Rn. 35 m. w. N.).

 

Der Antragsteller hat unabhängig von verfassungsrechtlichen Erwägungen (dazu SG Freiburg, Beschluss vom 20. Januar 2019 – S 7 AY 5235/19 ER, juris Rn. 33 ff.) im Hinblick auf § 2 Satz 4 Nr. 1 SGB XII (Regelbedarfsstufe 2 bei Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft oder in Aufnahmeeinrichtungen) Anspruch auf Leistungen unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 nach § 15 AsylbLG. Nach dieser Vorschrift ist für Leistungsberechtigte des Asylbewerberleistungsgesetzes, auf die bis zum 21. August 2019 gemäß § 2 Absatz 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch entsprechend anzuwenden war, § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I S. 2022), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2541; 2019 I S. 162) geändert worden ist, weiter anzuwenden. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Analogleistungen haben in der Person des Antragstellers jedoch bereits vor dem 21. August 2019 vorgelegen. In der in Bezug genommenen Regelung des § 2 hat es eine Sonderregelung im Hinblick auf die Regelbedarfsstufe für Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften nicht gegeben.

 

Auch eine Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG steht dem Anspruch auf Analogleistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht entgegen. Darauf, dass auch Analogleistungsberechtigte nach § 1a AsylbLG sanktioniert werden können, hat der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 6. Juli 2020 (L 9 AY 78/20 B ER, juris Rn. 26 ff.) hingewiesen. Nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG gilt die Leistungseinschränkung gemäß § 1a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG für alle Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 Nrn. 1 und 1a AsylbLG, denen bereits von einem anderen EU-Mitgliedstaat oder von einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat im Sinne des Satzes 1 der Vorschrift entweder internationaler Schutz (Nummer 1) oder aber aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht gewährt worden ist (Nummer 2) und dieser fortbesteht. Nach dem Wortlaut kommt es allein darauf an, dass in einem anderen EU-Mitgliedsstaat oder in einem am Verteilmechanismus der Europäischen Union teilnehmenden Drittstaat, andernorts als in Deutschland, internationaler Schutz bzw. ein Aufenthaltsrecht gewährt worden ist und dieser Status fortdauert. Da Griechenland den Antragstellern bereits einen entsprechenden Schutzstatus gewährt, käme es nach dem Wortlaut des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG ab erfolgter Einreise für die Kürzung von Leistungen ohne weitere Bedarfsprüfung auf weitere Voraussetzungen nicht an. Indessen fordert die Rechtsprechung für eine solche Einschränkung des Anspruchs im Wege einer normerhaltenden, teleologischen Reduktion, dass dem Leistungsberechtigten ein pflichtwidriges Verhalten vorzuwerfen ist (z.B. LSG Bayern, Beschluss v. 17. September 2018, L 8 AY 13/18 B ER, juris, Rn. 27 ff.), bzw., dass dem Betroffenen die Rückkehr in das schutzgewährende Land aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen möglich und zumutbar ist (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 19. November 2019, L 8 AY 26/19 B ER, juris Rn. 17). Dem hat sich der Senat bereits in der vorangegangenen Entscheidung angeschlossen (Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 6. Juli 2020 – 9 AY 78/20 B ER, juris Rn. 26 ff.). Dem Betroffenen ist seit Antragstellung aber bereits die Rückkehr nach Griechenland aufgrund der derzeitigen Ein- und Ausreisebeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie nicht zumutbar. Deshalb kann dahinstehen, inwieweit allein das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1a Abs. 4 AsylbLG überhaupt einem Anspruch des Antragstellers auf Analogleistungen entgegenstehen könnte, wenn der Leistungsträger die Leistungseinschränkung – wie hier der Antragsgegner mit Rücksicht auf soziale Härten im Zuge der Corona-Pandemie – tatsächlich nicht vollzieht.

 

Es besteht auch ein Anordnungsgrund, da ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung das Existenzminimum nicht sichergestellt erscheint; einem Leistungsberechtigten kann unter dem Aspekt der Menschenwürde (Art. 1 GG) regelmäßig nicht zugemutet werden, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, wenn – wie vorliegend – ein Anspruch auf existenzsichernde Leistungen glaubhaft dargelegt ist.

 

Vor dem Hintergrund, dass im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nur diejenigen Mittel zur Verfügung gestellt werden, die zur Behebung der aktuellen Notlage erforderlich sind, erscheint es allerdings geboten, den Leistungszeitraum zu begrenzen. Zusprüche im Eilverfahren ergehen nach ständiger Senatsrechtsprechung nur für maximal sechs Monate. Für eine längere Verpflichtung des Antragsgegners besteht derzeit kein Eilbedürfnis, zumal aufenthaltsbeendende Maßnahmen ggf. in näherer Zukunft vollzogen werden könnten.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG. Sie berücksichtigt, dass der Antragsteller faktisch obsiegt hat.

 

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist nicht geboten, da dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens vom Antragsgegner zu erstatten sind.

 

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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