L 9 AS 458/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 18 AS 1618/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 AS 458/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Wer als Behörde wegen Personalmangel eine Hauspolitik praktiziert, wonach jüngere Widersprüche vor älteren einer Bearbeitung zugeführt werden und darüber keinerlei Zwischenmitteilung an Widerspruchsführer erlässt, muss nach einer Widerspruchsdauer von über sieben Jahren im Rahmen der Widerspruchsentscheidung den Einwand unzulässiger Rechtsausübung für die angefochtene Erstattungsforderung prüfen (hier bejaht).

Die Berufungen gegen die Urteile des Sozialgerichts Neuruppin vom  24. Januar 2019 werden zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger für die beiden Verfahren auch für die Berufungsinstanz.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die Kläger wenden sich gegen Erstattungsforderungen des Beklagten für den Zeitraum vom 15. April 2008 bis zum 30. April 2009.

 

Die Klägerin zu 1) ist die Mutter des am  geborenen Klägers zu 2) (im Folgenden: die Kläger). Die beiden Kläger wohnten im Zeitraum ab April 2008 zusammen mit der Tochter der Klägerin zu 1), Frau E R, und  dem damaligen Lebensgefährten der Klägerin zu 1), Herrn T S, in W. Die Klägerin zu 1) war in dieser Zeit in einer Filiale von D S (in W), Herr T S in der Firma K GmbH beschäftigt. Anlässlich der Geburt des Klägers zu 2) erhielt die Klägerin zu 1) Mutterschaftsgeld, einen Zuschuss zum Mutterschaftsgeld, Elterngeld und Kindergeld. Herr S erhielt einen Festlohn sowie die Erstattung von Reisekosten (Spesen) aufgrund einer separaten Reisekostenabrechnung.

 

Die Klägerin zu 1) stellte für die o.g. gesamte Bedarfsgemeinschaft (im April und Mai 2008 noch bestehend aus zunächst drei Personen) am 15. April 2008 bei dem Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Grundsicherung, konkret zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

 

Der Beklagte bewilligte mit mehreren Bescheiden, Änderungs- und Aufhebungsbescheiden vom 14. Mai 2008, 21. Juli 2008, 8. September 2008 u.a. den beiden Klägern für den Zeitraum vom 15. April 2008 bis zum 31. Oktober 2008 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes im Hinblick auf das schwankende Einkommen der Klägerin zu 1). Für die Kläger erfolgten Bewilligungen in folgender Höhe:

                                    Klägerin zu 1)                      Kläger zu 2) 

April 2008:                28,39 Euro

Mai 2008:                  0,00  Euro

Juni 2008:                 36,87 Euro                           31,56 Euro

Juli 2008:                  113,59 Euro                         50,79 Euro

August 2008:             111,83 Euro                         50,03 Euro

September 2008:     136,94 Euro                         61,25 Euro

Oktober 2008:          130,60 Euro                         58,42 Euro

 

Auf den Fortzahlungsantrag vom 18. September 2008 bewilligte der Beklagte u.a. den beiden Klägern für die Zeit vom 1. November 2008 bis 30. April 2009 mit Bescheiden und Änderungsbescheiden vom 7. Oktober 2008, vom 18. November 2008 und vom 4. Dezember 2008, zuletzt mit Änderungsbescheid vom 20. Januar 2009, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in folgender Höhe:

 

November und Dezember 2008 sowie Februar 2009, März 2009 und April 2009:

Klägerin zu 1)                                 Kläger zu 2)

112,89 Euro                                     48,60 Euro


Januar 2009:

Klägerin zu 1)                                  Kläger zu 2)

73,84 Euro                                       28,98 Euro

 

Anlässlich des Fortzahlungsantrags der Bedarfsgemeinschaft für den Anschlusszeitraum ab dem 1. Mai 2009 reichte die Klägerin zu 1) auf Aufforderung erstmals die Spesen- und Reisekostenabrechnungen für Herrn S für die Zeit ab 16. April 2008 ein. Der Beklagte lehnte daraufhin die weitere Bewilligung von Leistungen ab Mai 2009 ab.

 

Mit Bescheid vom 17. Juni 2009 hob der Beklagte die Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 15. April 2008 bis 31. Oktober 2008 u.a. für die beiden Kläger auf. Die Spesen, die Herr S in dem Zeitraum erhalten habe, seien als Einkommen der (gesamten) Bedarfsgemeinschaft – so auch der beiden Kläger –  zu berücksichtigen. Der Beklagte bewilligte den Klägern in dem Bescheid Leistungen wie folgt:

 

Juli 2008 insgesamt 34,91 Euro:

Klägerin zu 1)                                   Kläger zu 2)

24,12 Euro                                       10,79 Euro)

 

Für die übrigen Monate (15. April 2008 bis zum 31. Oktober 2008) setzte der Beklagten die Leistungen dagegen auf monatlich 0 Euro für die beiden Kläger fest.

 

Der Beklagte forderte in dem o.g. Bescheid unter Berufung auf die geänderte Bewilligung die Erstattung überzahlter Leistungen für den Zeitraum in Höhe von insgesamt 775,36 Euro von den beiden Klägern, konkret wie folgt:

 

Klägerin zu 1)                                  Kläger zu 2)

534,10 Euro                                     241,26 Euro.

 

Mit Bescheiden vom gleichen Tag hob der Beklagte auch die Leistungsbewilligung u.a. für die beiden Kläger für den Anschlusszeitraum vom 1. November 2008 bis 30. April 2009 auf. Er bewilligte Leistungen für die beiden Kläger wie folgt:

 

November 2009      

Klägerin zu 1)                                   Kläger zu 2)

6,83 Euro                                          3,07 Euro

 

Dezember 2009      

Klägerin zu 1)                                   Kläger zu 2)

21,08 Euro                                       9,19 Euro

 

Für die übrigen Monate des Bewilligungszeitraumes Januar 2009 bis einschließlich April 2009 erfolgte eine Leistungsbewilligung in Höhe von jeweils 0 Euro monatlich.

 

Auf der Basis der so geänderten Bewilligungen setzte der Beklagte für  diesen Zeitraum gegenüber den Klägern eine Erstattungsforderung in Höhe von insgesamt 870,10 Euro fest; für die beiden Kläger unterteilte sich die Gesamtforderung wie folgt:

 

Klägerin zu 1)                                  Kläger zu 2)

 

610,38 Euro                                     259,72 Euro.

 

Die Klägerin zu 1) legte für alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft, so auch die beiden Kläger, gegen die Bescheide vom 17. Juni 2009 Widerspruch ein. Sie wandte sich mit ihrer schriftlichen Begründung vom 22. Juli 2009 gegen die Berücksichtigung der Spesen, die Herr T S erhalten hatte. Der Beklagte bestätigte den Eingang des Widerspruchs mit Schreiben vom 10. Juli 2009. Mit Schreiben vom 28. August 2009 wies er die Kläger darauf hin, dass die Bearbeitung des Widerspruchs durch die Widerspruchsstelle erfolgen werde.

Ab dem 1. Juni 2009 bewilligte der Beklagte den Klägern wieder Leistungen bis September 2009 und berücksichtigte die Spesen als Einkommen. Mit Bescheid vom 31. Mai 2010 änderte der Beklagte die Leistungsbewilligung ab dem Juni 2009 unter Berufung auf die Berücksichtigung der Spesen. Die Klägerin erhob auch dagegen Widerspruch und wandte sich auch mit diesem gegen die Berücksichtigung der Spesen als Einkommen.

 

Für die Zeit ab Oktober 2009 bis einschließlich November 2013 beantragten und bezogen die beiden Kläger keine Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende von dem Beklagten. Erst auf den erneuten Antrag vom 12. Dezember 2013 bewilligte der Beklagte der Bedarfsgemeinschaft, bestehend allein aus den beiden Klägern, laufende Leistungen ab Dezember 2013. Der Leistungsbezug erfolgte dann ununterbrochen bis zum 31. August 2015. Ab dem 1. September 2015 beendete der Beklagte zunächst die Bewilligung von Leistungen im Hinblick auf einen vorrangigen (höheren) Wohngeldanspruch. Ab 1. Dezember 2015 erhielten die Kläger erneut Leistungen von dem Beklagten (nach Aktenlage zuletzt bis 30. April 2016). Während dieser Zeit erhob die Klägerin mehrere Widersprüche, betreffend laufende Bewilligungen sowie Aufhebungs- und Erstattungsbescheide, und erließ der Beklagte jeweils (zeitnah) mehrere Widerspruchsbescheide (so Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 2015 auf den Widerspruch vom 11. Mai 2015, Widerspruchsbescheide vom 16. Oktober 2015, 19. Oktober 2015 und 20. Oktober 2015 betreffend drei Widersprüche vom 5. September 2015 sowie Widerspruchsbescheid vom 21. Oktober 2015, adressiert an die Klägerin zu 1) als Vertreterin des Klägers zu 2) betreffend einen Widerspruch vom 5. September 2015). Eine Zwischenmitteilung an die Kläger zu den Widersprüchen gegen die Bescheide vom 17. Juni 2009 erfolgte zu keinem Zeitpunkt.

 

Die Widersprüche der Kläger gegen die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 17. Juni 2009 wies der Beklagte mit zwei Widerspruchsbescheiden vom 5. August 2016 und vom 8. August 2016 zurück. Zeitgleich mit den Widerspruchsbescheiden übersandte er jeweils eine Zahlungsmitteilung an die Klägerin zu 1) und forderte sie auf, bis zum 18. November bzw. bis zum 21. November 2016 die Erstattungsbeträge auf ein benanntes Konto zu überweisen.

 

Die Klägerin zu 1) hat gegen die beiden Widerspruchsbescheide vom 5. August und vom 8. August 2016 am 5. September 2016 zwei getrennte Klagen für die beiden streitigen Zeiträume zum Sozialgericht Neuruppin erhoben. Die Rückforderungen lägen nunmehr acht Jahre zurück. Sie sei davon ausgegangen, dass ihre Widersprüche vom Beklagten akzeptiert worden seien und sie sei nicht in der Lage, die zurückgeforderten Summen zu zahlen. Sie berufe sich auf Verwirkung. Sie mache alle formellen Fehler geltend, insbesondere Jahresfrist und Vertrauensschutz. Sie hätte bereits bei Antragstellung mitgeteilt, dass ihr damaliger Lebensgefährte S Spesen erhalte. Ihr sei dazu zugesagt worden, dass diese nicht berücksichtigt würden. Die Kontoauszüge für den streitigen lange zurückliegenden Zeitraum könne sie für den ehemaligen Lebensgefährten nicht einreichen, denn sie habe sich 2013 von ihm getrennt.

 

Nach Ansicht des Beklagten liege eine Verwirkung nicht vor. Allein der Zeitablauf reiche hierfür nicht aus, den Klägern sei aufgrund der Bestätigung des Eingangs ihrer Widersprüche bekannt gewesen, dass eine Bearbeitung erfolgen werde. Sie hätten sich danach nicht bei dem Beklagten gemeldet, um die Bescheidung ihrer Widersprüche anzumahnen oder diese mittels Untätigkeitsklage zu erzwingen. Mit Blick darauf sei es rechtsmissbräuchlich, wenn sie sich ihrerseits auf die Verwirkung beriefen. Die Klägerin zu 1) habe die für sie günstige Folge der aufschiebenden Wirkung ihrer Widersprüche hingenommen. Verjährung sei nicht eingetreten, diese richte sich nach §§ 50 Abs. 4 i.V.m. Abs. 4 Satz 3, 52 SGB X. Bei einem Erstattungsbescheid handele es sich um einen Verwaltungsakt, der zur Feststellung und Durchsetzung des Anspruchs erlassen werde und daher dessen Verjährung hemme. Werde er unanfechtbar, gelte die 30-jährige Verjährungsfrist. Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht erklärt, er sei seinerzeit mit der Masse der Widerspruchsverfahren personell überfordert gewesen. Es sei deshalb innerhalb der Behörde beschlossen worden, sich zunächst auf die jüngeren (Widerspruchs-)Verfahren zu konzentrieren und die älteren Verfahren zurückzustellen. Davon sei auch das streitbefangene Widerspruchsverfahren der Kläger erfasst worden.

 

Mit zwei Urteilen jeweils vom 24. Januar 2019 hat das Sozialgericht auf den entsprechenden Klageantrag der Kläger die gegenüber den beiden Klägern ergangenen Bescheide vom 17. Juni 2009 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 5. August 2016 (Zeitraum vom 15. April 2008 bis zum 31. Oktober 2008) und vom 8. August 2016 (Zeitraum vom November 2008 bis April 2009) aufgehoben, soweit mit diesen Erstattungsforderungen geltend gemacht würden. Insoweit hätten sich die Kläger wirksam auf die Einrede der Verwirkung berufen.

 

Verwirkung trete ein, wenn der Berechtigte mit dem Geltendmachen seines Rechtsanspruchs längere Zeit gewartet habe (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzugetreten seien, die die nunmehrige Erhebung des Anspruchs dem Dritten gegenüber nach Treu und Glauben als unzulässig erscheinen ließen (Umstandsmoment). Das sei der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf habe vertrauen dürfen, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde, der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut habe und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet habe, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen werde.

 

Vorliegend lägen das Zeitmoment und das Umstandsmoment unstreitig vor. Die Widerspruchsverfahren hätten mehr als sieben Jahre gedauert. Der Kammer sei kein Grundsicherungsträger bekannt, bei welchem ein Widerspruchsverfahren auch nur ansatzweise so lange dauere. Ein maßgebendes Verwirkungsverhalten könne auch konkludent erfolgen. Das Zeitmoment könne insoweit Auswirkungen auf das Umstandsmoment haben, wenn es besonders stark ausgeprägt sei. Die Kläger hätten ihre Widersprüche zeitnah begründet. Sie hätten damit erwarten dürfen, dass auch der Beklagte sich in angemessener Zeit damit auseinandersetzen werde. Dies habe er aber nicht getan. Es sei nachvollziehbar, dass die Kläger in Anbetracht des langen Schweigens nach Einreichung ihrer Widerspruchsbegründung davon ausgegangen seien, dass der Beklagte ihre im Widerspruch vorgetragene Auffassung (stillschweigend) akzeptiert habe. Darüber hinaus habe der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer erklärt, dass die lange Bearbeitungsdauer damit zu erklären sei, dass er seinerzeit mit der Masse der Widerspruchsverfahren personell überfordert gewesen und intern beschlossen worden sei, sich zunächst mit den jüngeren Verfahren zu befassen und die älteren (Widerspruchs-)Verfahren zurückzustellen. Der Beklagte sei verpflichtet gewesen, die Kläger entsprechend zu informieren und ihnen mitzuteilen, dass ihre Widersprüche erst zu einem späteren Zeitpunkt bearbeitet werden könnten. In der Rechtsprechung zu Untätigkeitsklagen werde zum hinreichenden Grund für die Nichtbearbeitung eines Widerspruchs regelmäßig gefordert, dass die Behörden Widerspruchsführer bei einer besonderen Belastung über die sachlichen Gründe informierten. Die Kläger hätten zwar Untätigkeitsklagen erheben können. Dafür hätte es aus ihrer Sicht aber keinen Grund gegeben. Sie hätten insoweit vielmehr alles getan, um eine zeitnahe Widerspruchsbearbeitung zu ermöglichen.

 

Auf die Eingangsbestätigung betreffend die Widersprüche könne sich der Beklagte nicht berufen. Dabei habe es sich schlicht um eine Standardbestätigung gehandelt. Es sei dieser für nicht Rechtskundige nicht zu entnehmen, ob bereits eine inhaltliche Befassung mit dem Widerspruch erfolgt und ob eine Nichtabhilfeentscheidung bereits ergangen sei.

 

Die Kläger hätten schließlich seit Ende 2013 weitere Leistungsanträge bei dem Beklagten gestellt und gegen andere Bescheide Widersprüche erhoben, über die der Beklagte zeitnah entschieden habe. Das Vertrauen der Kläger, dass der Beklagte keine Erstattungsforderungen mehr geltend machen werde, werde auch durch gesetzliche Bestimmungen geschützt, die ein zügiges Verwaltungsverfahren regelten, so § 9 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und § 88 SGG (Untätigkeitsklage). Die Kläger hätten glaubhaft vorgetragen, dass sie sich darauf eingerichtet hätten, die Erstattungsforderungen nicht mehr zahlen zu müssen.

 

Gegen die ihm am 26. Februar 2019 zugestellten beiden Urteile hat der Beklagte am 14. März 2019 jeweils Berufung zum Landessozialgericht eingelegt (Az.: L 1 AS 475/19 und L 9 AS 458/19).

 

Die Erstattungsforderungen seien nicht verwirkt. Die für die Verwirkung nach der Rechtsprechung des BSG (Hinweis auf B 3 KR 7/17 R) erforderlichen drei Voraussetzungen seien nicht erfüllt:

 

1.         Seit der Möglichkeit, das Recht geltend zu machen, müsse eine längere Zeit verstrichen sein (Zeitmoment).

2.         Der Schuldner habe sich darauf eingestellt, dass der Gläubiger aufgrund des geschaffenen Vertrauenstatbestandes sein Recht nicht mehr geltend machen werde. Dies sei der Fall, wenn der Berechtigte unter solchen Umständen untätig geblieben sei, die den Eindruck erweckten, dass er sein Recht gegenwärtig und auch in Zukunft nicht mehr geltend machen werde (Umstandsmoment).

3.         Während des für die Verwirkung erforderlichen Zeitraums dürfe der Berechtigte nichts zur Durchsetzung seines Rechts getan haben. So sei die Verwirkung ausgeschlossen, wenn er z.B. durch Mahnung, Widerspruch oder in sonstiger Weise zu erkennen gegeben habe, dass er auf seinem Recht beharre.

 

Im Fall der Kläger fehle es am Umstandsmoment. Mit Erlass der angefochtenen Erstattungsbescheide habe der Beklagte zu erkennen gegeben, dass die geltend gemachten Beträge auch tatsächlich gefordert würden. Ein gegenteiliges Verhalten habe es nicht gegeben. Eine ausdrücklich aufhebende Entscheidung bzw. einen Forderungsverzicht habe er gegenüber den Klägern nicht erklärt. Diesen sei damit bekannt gewesen, dass eine Entscheidung zu ihrem Widerspruch noch ausgestanden habe. Sie hätten sich ihrerseits nicht beim Beklagten gemeldet, um an die Bescheidung ihres Widerspruchs zu erinnern. Ein Nichtstun könne ein schutzwürdiges Vertrauen nur im Ausnahmefall und allenfalls dann begründen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten dürfe. Das sei hier nicht der Fall. Darauf, dass der Beklagte auf die Erstattungsforderung verzichtet habe, hätten die Kläger gerade nicht vertrauen können. Im vorliegenden Fall sei daher nur das Zeit- nicht aber das Umstandsmoment erfüllt. Dieses könne allenfalls zur Verjährung führen.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die beiden Urteile des Sozialgerichts Neuruppin vom 24. Januar 2019 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

 

Die Kläger beantragen,

 

            die Berufungen zurückzuweisen.

 

Die vom Beklagten angeführten gerichtlichen Entscheidungen seien allesamt nicht mit dem vorliegenden Sachverhalt vergleichbar, es liege ein besonderer Einzelfall vor.

Der Senat hat die beiden Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung unter seinem Aktenzeichen verbunden.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und die Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässigen Berufungen des Beklagten sind nicht begründet.

 

Das Sozialgericht hat zu Recht in den beiden verbundenen Klageverfahren jeweils die den Klägern gegenüber ergangenen angefochtenen Bescheide vom 17. Juni 2009 in der Gestalt der beiden Widerspruchsbescheide vom 5. August und vom 8. August 2016 insoweit aufgehoben, als der Beklagte mit diesen jeweils Erstattungsforderungen gegen die Klägerin zu 1) und ihren minderjährigen Sohn, den Kläger zu 2),  festgesetzt hat. Die Erstattungsforderungen sind zwar nicht verjährt, jedenfalls aber steht ihnen der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegen.

 

I. Streitgegenstand der Klagen und der Berufungen ist jeweils allein die Aufhebung der angefochtenen Bescheide, soweit diese eine Erstattungsforderung festsetzen, hingegen nicht die Aufhebung und Änderung der Bewilligung, die ebenfalls mit den genannten Ausgangsbescheiden vom 17. Juni 2009 erfolgt ist.

 

Zwar hat die Klägerin zu 1) die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide zunächst ohne Beschränkung vor dem Sozialgericht angefochten (Klageerhebung und schriftlicher Antrag des Bevollmächtigten vom 3. Januar 2019 im Verfahren S 18 AS 1618/16  sowie zu S 18 AS 1616/16). Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat die Klägerin zu 1) aber, rechtskundig vertreten, allein den Erstattungsteil der Bescheide und damit diese Verfügungen angefochten (vgl. die Anträge im Protokoll zur mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht). Damit wurden die Aufhebungsentscheidungen bzw. die Änderung der Leistungsbewilligungen bestandskräftig (§ 77 SGG). Außerdem ist Berufungsführer allein der Beklagte. Der Senat hat vor diesem Hintergrund nicht zu prüfen, ob die Aufhebung/Änderung der Bewilligungen für den streitigen Zeitraum zu Recht erfolgten, sondern lediglich, ob die Festsetzung der Erstattungsforderung dem Grunde und der Höhe nach rechtmäßig ist.

 

II. Gemessen daran sind die Bescheide in der Gestalt der Widerspruchsbescheide rechtswidrig, soweit sie eine Erstattungsforderung gegen die beiden Kläger festsetzen.

 

Maßgebender Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage für die zulässig erhobene Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung. Das ist der Zeitpunkt der Widerspruchsbescheide vom 5. und 8. August 2016. Gegenstand der Klage ist der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat (§ 95 SGG). Zu diesem Zeitpunkt der Widerspruchsbescheide waren die Erstattungsforderungen zwar noch nicht verjährt (1.), ihnen stand aber zumindest der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegen (2.).

 

1. Die Klägerin zu 1) hat sich bereits mit der Erhebung der beiden Klagen - zu diesem Zeitpunkt war sie noch nicht anwaltlich vertreten - darauf berufen, dass die Forderungen bereits acht Jahre zurückliegen. Damit hat sie die Einrede der Verjährung erhoben. Die Erhebung der Verjährungseinrede ist eine geschäftsähnliche Handlung, auf die §§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entsprechende Anwendung finden. Eine bestimmte Form wird für die Erklärung ebenso wenig verlangt wie eine spezifische Ausdrucksweise. So genügt es im Einzelfall bereits, dass der Schuldner auf den großen Zeitraum seit Entstehung der Forderung hinweist (MüKoBGB/Grothe, 9. Aufl. 2021, BGB § 214 Rdnr. 4). Das hat die Klägerin zu 1) für die Erstattungsforderungen getan.

 

Die Erstattungsforderungen sind nicht verjährt. Die Verjährung richtet sich nach § 50 Abs. 4  Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), wonach der Erstattungsanspruch in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres verjährt, in dem der Verwaltungsakt nach Absatz 3 (das meint den Erstattungsbescheid) unanfechtbar geworden ist. Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß (Abs. 4 Satz 2). Nach Abs. 4 Satz 3 bleibt § 52 SGB X unberührt.

 

Der Beklagte hat die Erstattungsforderung für beide streitigen Zeiträume auf § 50 Abs. 1 SGB X gestützt, die Aufhebung der Bewilligungsbescheide erfolgte gemäß §§ 40 Abs. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) i.V.m. § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Diese Aufhebung ist bestandskräftig (dazu bereits oben). Die Rechtsgrundlage ist auch für die die Erstattung für den gesamten Zeitraum zutreffend, denn die zunächst ab 15. April 2008 vorläufig bewilligte Leistung wurde mit den Bescheiden vom 21. Juli 2008 geändert und (teilweise) aufgehoben. Ein Vorläufigkeitsvorbehalt war danach nicht mehr enthalten.

 

Es kann im Fall der Kläger offen bleiben, ob die Erstattungsbescheide vom 17. Juni 2009 bereits die Verjährung i.S. des § 52 SGB X hemmten, denn bereits nach § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X ist die Verjährung nicht eingetreten (ablehnend zur Anwendung von § 52 SGB X auf „schlichte“ Erstattungsbescheide nach § 50 SGB X, die noch nicht „zur Durchsetzung ergehen“: BSG, Urteil vom 4. März 2021 - B 11 AL 5/20 R - juris Rdnr. 25 ff.; so auch Beschluss des erkennenden Senats vom 30. März 2022 – L 9 AS 216/22 B ER; Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 50 SGB X (Stand: 23.02.2022), Rdnr. 126.5; BeckOGK/Steinwedel, Stand vom 1.3.2021, SGB X § 50 Rdnr. 49b: „Nach Erlass des festsetzenden Verwaltungsaktes i.S. des Abs. 3 bedarf es eines „zusätzlichen“ [anspruchsfeststellenden oder –durchsetzenden] VA, um die 30-jährige Verjährung nach § 52 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 auszulösen“; a.A. LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 2. Juli 2020 – L 14 AS 553/20 B ER).  

 

Bereits § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X setzt für den Beginn der Verjährung voraus, dass der die Erstattung festsetzende Verwaltungsakt nach Abs. 3 bestandskräftig ist. Es reicht dagegen nicht aus, dass der Erstattungsanspruch (kraft Gesetzes) mit der Aufhebung einer zuvor bewilligten Leistung entstanden ist  (dazu Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 50 SGB X [Stand: 23.02.2022], Rdnr. 78). Anknüpfungspunkt für die Verjährung der Erstattungsforderung ist damit allein die Unanfechtbarkeit des Feststellungsbescheides. Daraus folgt: Vor der Unanfechtbarkeit des Feststellungsbescheids läuft keine Verjährungsfrist für den Erstattungsanspruch (Baumeister, a.a.O., Rdnr. 125.2).

 

Gemessen daran hat der Beklagte mit den Bescheiden vom 17. Juni 2009 die Leistungsbewilligung für die Zeiträume vom 15. April 2008 bis zum 31. Oktober 2008 und vom 1. November 2008 bis zum 30. April 2009 abgeändert und teilweise aufgehoben. Der Erstattungsanspruch ist damit kraft Gesetzes zu diesem Zeitpunkt jeweils entstanden. Die Bescheide haben auch Erstattungsforderungen (gemäß § 50 Abs. 3 SGB X) festgesetzt. Infolge der Widersprüche sind sie aber bis zur Entscheidung durch den Senat nicht bestandskräftig geworden; demgemäß konnte die Verjährung der Erstattungsforderungen nicht beginnen.

 

2. Der Erstattungsanspruch ist nicht verwirkt (unten a.), seine Festsetzung verstößt im Jahr 2016 aber gegen Treu und Glauben, § 242 BGB, in der Ausprägung der unzulässigen Rechtsausübung (unten b.).

 

a. Das Rechtsinstitut der Verwirkung gilt auch im Sozialrecht  (BSG, Urteil vom 29. Januar 1997 - 5 RJ 52/94 - juris). Es beruht auf dem Grundsatz von Treu und Glauben, der als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips auch im öffentlichen Recht Geltung beansprucht (Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 50 SGB X [Stand: 23.02.2022], Rdnr. 131).

Danach entfällt eine Leistungspflicht, wenn der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche die Verwirkung auslösenden Umstände liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (BSG, a. a. O.). Dabei gilt: vor Ablauf der Verjährungsfrist kommt grundsätzlich keine Verwirkung in Betracht (LSG Thüringen, Urteil vom. 22. März 2018 - L 9 AS 323/16; BSG, Urteil vom 20. Januar 2021 – B 1 KR 31/20 R; Schaumberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Aufl., § 328 SGB III [Stand: 21.01.2019], Rdnr. 129).

 

Gemessen daran liegt im Fall der Kläger zwar ein besonderer Einzelfall vor, in dem die Geltendmachung der Erstattungsforderung aber nicht verwirkt ist. Eine Verwirkung scheitert konkret daran, dass nicht alle ihre Voraussetzungen zweifelsfrei nachgewiesen sind, insbesondere fehlt es an einem eindeutigen Umstandsmoment.

 

Zwar hat der Beklagte als Berechtigter seine Erstattungsansprüche und damit sein Recht zunächst – zeitnah –  geltend gemacht, indem er mit den angefochtenen Bescheiden vom 17. Juni 2009 von den Klägern die Erstattung der im Jahr 2008 und bis April 2009 überzahlten Leistungen festgesetzt hat. Zu diesem Zeitpunkt konnte die Klägerin zu 1) auch klar davon ausgehen, dass der Beklagte vom Bestehen einer Erstattungsforderung ausging und diese auch durchsetzen würde. Nach der Erhebung ihrer Widersprüche und der Bestätigung des Eingangs zuzüglich Mitteilung, wer für die Bearbeitung zuständig war, vergingen dann aber sieben Jahre, in denen der Beklagte nach außen, d.h. der Klägerin gegenüber, schlicht untätig blieb. Eine Widerspruchsbearbeitung war nicht erkennbar und fand auch tatsächlich wegen personeller Überlastung nicht statt.

 

Das notwendige Zeitmoment ist damit gegeben. Es liegt darin allerdings für die Kläger – bezogen auf die Erstattungsforderungen - allein ein schlichtes Unterlassen. Die Verwirkung ist dagegen ein Fall der unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens. Notwendig für die Annahme einer Verwirkung sind daher stets Anhaltspunkte, die über die schlicht fehlende Geltendmachung des Rechts hinausgehen (Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 50 SGB X [Stand: 23.02.2022], Rdnr. 131), denn letztere ist Gegenstand der Verjährung.

 

Für die Verwirkung müssen objektive Umstände oder ein Verhalten (des Gläubigers) vorliegen, aus denen heraus der Schuldner davon ausgehen kann, dass der Gläubiger sein Recht nicht (mehr) geltend machen wird. In der Rechtsprechung – auch des BSG – ist vor diesem Hintergrund anerkannt, dass allein die Untätigkeit in der Bearbeitung eines Widerspruchs oder eines Antrags durch eine Behörde grundsätzlich keine Verwirkung eines Rechts nach sich zieht. Nichtstun, also Unterlassen, kann ein schutzwürdiges Vertrauen für einen Schuldner in Ausnahmefällen allenfalls dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten darf (BSG, Urteil vom 21. April 2015 - B 1 KR 7/15 R - juris RdNr. 19 m. w. N.). Davon kann man im Fall der Kläger nicht ausgehen. Insoweit hat das Sozialgericht in seiner Entscheidung zwar zu Recht ausgeführt, dass der Beklagte als Behörde gemäß §§ 85 i.V.m. 88 Abs. 2 SGG zur Bescheidung der Widersprüche verpflichtet war. Das SGG gibt der Behörde in § 88 Abs. 2 SGG dafür auch eine Bearbeitungsfrist von drei Monaten vor, wenn nicht besondere Umstände eine längere Frist rechtfertigen. Bloßer Personalmangel gehört, wenn er nicht nur vorübergehend besteht, nicht zu den besonderen Umständen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/B. Schmidt, § 88 SGG Rdnr. 7b). Ungeachtet dessen schafft die Nichtbearbeitung eines Widerspruchs, selbst wenn eine Untätigkeitsklage des Widerspruchsführers erfolgversprechend wäre, allein kein Vertrauen dahingehend, dass die Behörde ihr Recht nicht mehr geltend machen wird. Dem Beklagten ist zudem zuzugeben, dass er über die bloße Untätigkeit hinaus kein weiteres eindeutig vertrauensbegründendes Verhalten erkennen ließ, aus dem die Kläger hätten schließen können, dass ihr Widerspruch gegen den Erstattungsbescheid bereits Erfolg hatte oder der Beklagte zumindest aus sonstigen Gründen bereits Abstand von der Erstattungsforderung genommen hatte. Die Klägerin  zu 1) hätte die Möglichkeit gehabt, ihrerseits Untätigkeitsklage zu erheben und den Erlass eines Widerspruchsbescheides zu erzwingen. Ohne Bedeutung ist insoweit, dass ihre Motivation für diese Klage nachvollziehbar deshalb beschränkt war, weil im Hinblick auf § 39 SGB II, der Widersprüche gegen Erstattungsbescheide nicht erfasst, ihr Widerspruch kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung hatte (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG). In der Folge war die Durchsetzung der Erstattungsforderung während des gesamten Widerspruchsverfahrens gehemmt.

 

b. Im Fall der Kläger traten indessen weitere Umstände zum bloßen Zeitablauf hinzu, worauf das Sozialgericht zutreffend hingewiesen hat. Diese führen in der Gesamtschau dazu, dass zwar der Beklagte berechtigt und verpflichtet war, über den Widerspruch trotz des Zeitablaufs noch zu entscheiden. Dem materiellen Erstattungsanspruch steht aber im Jahr 2016 Treu und Glauben entgegen, nämlich in der Gestalt der unzulässigen Rechtsausübung. Das hätte die Widerspruchsbehörde erkennen müssen und die Festsetzung der Erstattungsforderung durch den Ausgangsbescheid nicht schlicht bestätigen dürfen.

 

Neben dem Rechtsinstitut der Verwirkung kann einem Anspruch wie dem Erstattungsanspruch auch aus sonstigen, nicht in einem Verwirkungsverhalten der Behörde wurzelnden Gründen der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegenstehen (BSG, Urteil vom 20. Januar 2021 – B 1 KR 31/20 R, Rdnr. 36). So liegt der Fall hier.

 

Der Grundsatz strikter Maßgeblichkeit der materiellen Rechtslage kann ausnahmsweise durch Grundsätze des Vertrauensschutzes modifiziert werden. Die Rechtsordnung sanktioniert widersprüchliches Verhalten eines Beteiligten nicht grundsätzlich mit einem automatischen Rechtsverlust. Widersprüchliches Verhalten ist erst dann rechtsmissbräuchlich, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen (BSG, Urteil vom 16. Juli 2020 – B 1 KR 15/19 R –, BSGE 130, 299-306, Rdnr. 18). Im Fall der Kläger lagen ein widersprüchliches Verhalten sowie besondere Umstände vor, die die Rechtsausübung zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides als treuwidrig erscheinen lassen. Widersprüchliches Verhalten bestand hier darin, dass der Beklagte nicht nur während eines nahezu biblischen Zeitraums von sieben Jahren keinerlei Bearbeitung der Widersprüche vorgenommen und auch keine Zwischenmitteilungen an die Kläger versandt hat. Vielmehr hat er den Ablauf des Zeitraums für die Widersprüche selbst hervorgerufen, indem er im Angesicht personeller Überlastung durch die schiere Zahl der Widersprüche eine Haus- und Behördenpolitik initiiert hat, die darauf angelegt war, dass Widersprüche nicht nach ihrem Eingang und damit strikt oder zumindest vorrangig ihrem Alter nach bearbeitet wurden. Der Beklagte hat vielmehr wegen des Rückstaus von Widersprüchen bei gleichzeitig unzureichender Personalausstattung eine Organisationsmaßgabe getroffen, nach welcher die neueren, das meint die jüngeren Widersprüche vorrangig vor den älteren bearbeitet wurden. Das erfasste nach seiner eigenen Angabe gegenüber dem Sozialgericht auch die Widersprüche der Kläger. Diese Verfahrensweise widersprach eklatant dem Beschleunigungsgrundsatz für die Bearbeitung von Widersprüchen, der in § 88 Abs. 2 SGG seinen prozessualen Ausdruck findet. Die Organisation führte auch im Fall der Kläger dazu, dass jüngere Widersprüche vorrangig bearbeitet wurden. Im Ergebnis führte es schließlich dazu, dass das Widerspruchsverfahren sogar einen Zeitraum von vier Jahren, der im Sozialrecht an anderer Stelle zu Rechtsverlaust und Verjährung führt, bei weitem überschritt. Sozialleistungen werden allgemein längstens für einen Zeitraum von vier Jahren nachgezahlt (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X), im Bereich des SGB II sogar nur für ein Jahr (§ 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II). Ansprüche auf Sozialleistungen verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind (§ 45 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB I). Auch in Verfahren, in denen ein Anspruch auf rückwirkende Leistungserbringung aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs erhoben wird, findet die Vier-Jahresfrist des § 44 Abs. 4 SGB X entsprechende Anwendung (BSG Urteil vom 27. März 2007 - B 13 R 58/06 R; BSG, Beschluss vom 8. Januar 2020 – B 13 R 307/18 B –, Rdnr. 8, juris).

Im Fall der Kläger ereignete sich der lange Zeitablauf von mehr als vier Jahren nicht unbeabsichtigt, sondern wurde durch die Organisationsentscheidung des Beklagten bewirkt und in Kauf genommen.

 

Gleichzeitig hat der Beklagte den Klägern in Kenntnis seiner praktizierten Hauspolitik und des dadurch erwartbar längeren Bearbeitungsstaus für die älteren Widersprüche keinerlei Zwischenmitteilung dergestalt gegeben, dass die Widerspruchsbearbeitung noch weiter andauere. Der Beklagte hat den Klägern auch nach Begründung der streitigen Widersprüche (Juli 2009) zunächst bis September 2009 Leistungen bewilligt. Schließlich endete die Leistungsgewährung der Kläger nach September 2009 für einen längeren Zeitraum von mehr als vier Jahren, nämlich bis November 2013. Auch dieses Ende des Leistungsbezugs veranlasste den Beklagten aber nicht dazu, eine Zwischenmitteilung zum Schicksal des weiter offenen Widerspruchs zu erteilen. Gleiches gilt für die Wiederaufnahme der Leistungsgewährung auf den erneuten Antrag vom Dezember 2013, damit mehr als vier Jahre nach Ende des Leistungsbezugs und des Widerspruchs sowie einer ununterbrochenen Weiterbewilligung der Leistungen über einen längeren Zeitraum bis Mai 2016. Gleichzeitig hat der Beklagte während der genannten Zeiten des Leistungsbezugs nach Juli 2009 mehrere Widersprüche der Kläger, betreffend spätere Bewilligungszeiträume, zeitnah beschieden (mehrere Widerspruchsbescheide aus 2015), so dass neuere Widerspruchsverfahren das hier streitige gewissermaßen überholt haben.

 

Um sich insoweit nicht später in einen unlösbaren Widerspruch zu seinem früheren Verhalten zu setzen (dazu BGH, Urteil vom 20. Mai 1968 - VII ZR 80/67, Rdnr. 24 f., juris), wäre der Beklagte den Widerspruchsführenden gegenüber zu einem transparenten Verhalten nach Treu und Glauben verpflichtet gewesen. Da er dies nicht getan hat, erscheinen im Rahmen einer rückblickenden Gesamtbetrachtung der Rechts- und Leistungsbeziehung die organisatorischen pflichtwidrigen Entscheidungen im Vergleich zum Gebaren im Übrigen widersprüchlich.

 

Die Berücksichtigung weiterer Umstände lassen die Rechtsausübung gegenüber den Klägern im Jahr 2016 als treuwidrig erscheinen. So war eine andauernde Bearbeitungsdauer von über sieben Jahren unter Berücksichtigung der streitigen Einzelrechtsfrage (Anrechnung von Spesen als bedarfsdeckendes Einkommen) wie auch des Rechtsgebiets für Außenstehende (Leistungsempfänger und Dritte) nicht im Ansatz nachvollziehbar. Leistungen der Grundsicherung wurden 2008/2009 regelhaft nur für sechs Monate, später (ab 1. August 2016)  für 12 Monate, damit einen überschaubaren Zeitraum, bewilligt. Bereits dies lässt erwarten, dass auch Widersprüche in angemessenem Zeitraum bearbeitet werden. Außerdem spricht der Zweck der Leistungen, den Lebensunterhalt zu sichern, ebenfalls dafür, dass Widerspruchsverfahren, die die Höhe oder endgültige Festsetzung der Leistungen nebst Erstattungen betreffen, für die Leistungsberechtigten zeitnah, jedenfalls innerhalb von spätestens vier Jahren, beendet werden. Denn es muss davon ausgegangen werden, dass gerade im Fall von Erstattungsforderungen die zunächst bewilligte existenzsichernde Leistung längst verbraucht ist. Erstattungsforderungen betreffen hier regelmäßig das Existenzminimum der Leistungsberechtigten. Es kann nicht erwartet werden, dass Leistungsbezieher/-innen auf Jahre hinaus in Anbetracht offener Widersprüche große Rückstellungen oder Ansparungen treffen können. Die zeitnahe Bearbeitung von Widersprüchen (und ihre entsprechende Organisation) hat daher im Bereich der Grundsicherung erhebliche Bedeutung.

 

Im Fall der Klägerin zu 1) kommt hinzu, dass allein die Anrechnung von Reisekosten/Spesen ihres damaligen Lebensgefährten streitig war. Es waren keine umfangreichen (Sachverhalts-)Ermittlungen notwendig, es handelte sich nicht um die u.U. komplexe Ermittlung des Einkommens eines Selbständigen. Es gab daher für die Kläger keinen äußeren Grund dafür anzunehmen, dass der Beklagte über den Widerspruch noch nicht entscheiden konnte, weil noch Ermittlungen z.B. zur Zwecksetzung des Einkommens, konkret ggf. zu dem Arbeitsvertrag des Lebensgefährten, vorzunehmen waren. Erwartbar wäre in diesem Fall gewesen, dass der Beklagte entweder die Kläger oder den ehemaligen Lebensgefährten unter Berufung auf ihre Mitwirkungspflicht entsprechend auffordern würde. Beides geschah jedoch nicht. Diese Umstände ließen bei der Klägerin zu 1) bis zum Jahr 2016 nachvollziehbar ein Vertrauen dergestalt entstehen, dass der Beklagte ihre Widersprüche entweder inhaltlich akzeptiert oder aus anderen Gründen niedergeschlagen hatte und es lediglich an einem förmlichen Bescheid ihr gegenüber mangelte. Allein diese Betrachtung erscheint aus ihrer Sicht lebensnah.

 

Auf der anderen Seite hat der Beklagte selbst die maßgebende behördeninterne Ursache dafür gesetzt, dass die Widersprüche über Jahre hinweg nicht bearbeitet wurden und Vertrauen entstehen konnte. Solche Umstände lassen die Aufrechterhaltung einer Erstattungsforderung in entsprechender Anwendung des allgemeinen Rechtsgedankens aus § 45 SGB I, § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X wohl bereits nach vier Jahren, jedenfalls aber nach mehr als sieben Jahren, als unzulässige Rechtsausübung i.S. des § 242 BGB erscheinen.

 

Gemessen daran hätte die Widerspruchsbehörde im Fall der Kläger, ausgehend von der für sie maßgeblichen Sach- und Rechtslage im August 2016, die Erstattungsforderung in Kenntnis des sich aus der Verwaltungsakte ergebenden Gesamtgeschehens prüfen und von Amts wegen zumindest als „unbillig“ betrachten müssen (vgl. den dem Erlass von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen zugrundeliegenden Rechtsgedanken in §  76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Viertes Buch Sozialgesetzbuch – SGB IV).

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht. Es handelt sich um einen außergewöhnlichen Einzelfall (§ 160 Abs. 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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