L 1 KR 118/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 9 KR 80/17
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 118/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 88/22 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
Bemerkung

Nichtzulassungsbeschwerde

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Im Streit steht ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabis.

 

Der 1978 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.

Am 23. August 2016 beantragte er bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für ihm verordnete Cannabisblüten. Eine Erlaubnis der Bundesopiumstelle liege weiterhin vor.

Die Beklagte lehnte den Antrag auf Kostenübernahme von Cannabis (Medizinal-Cannabisblüten) mit Bescheid vom 24. August 2016 ab.

Der Kläger erhob Widerspruch: Die beantragte Therapie sei die einzige sinnvolle und erforderliche Maßnahme. Er leide an Coxarthrose, Anpassungsstörungen, Angstzuständen, Depressionen, Spannungskopfschmerz, Spondylolisthesis, Arthrose, Zoster und Migräne.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 1. März 2017 zurück. Zur Begründung verwies sie unter anderem auf die in einem früheren Antragsverfahren eingeholte Stellungnahme des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 16. März 2015 sowie einen Konsiliarbericht vor Aufnahme einer Psychotherapie zu psychotherapeutischen Behandlung vom 27. Juli 2016 auf Veranlassung des Psychotherapeuten S, wonach beim Kläger eine Neigung zu Analgelikaabusus bestehe.

 

Am 27. März 2017 beantragte der Kläger erneut die Versorgung mit Cannabisblüten unter Vorlage einer Verordnung des Facharztes für Anästhesiologie und Schmerztherapie Dr. G.

 

Gegen den Widerspruchsbescheid vom 1. März 2017 hat der Kläger am 28. März 2017 Klage beim Sozialgericht Neuruppin (SG) erhoben.

 

Die Beklagte hat nach Einholung einer neuerlichen Stellungnahme durch den MDK den weiteren Antrag mit Bescheid vom 18. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2017 abgelehnt. Auch hiergegen hat der Kläger Klage erhoben (vom 9. Oktober 2017; Az.: S 9 KR 276/17). Das SG hat die beiden Verfahren verbunden.

 

Der Kläger hat vorgetragen, der behandelnde Arzt entscheide eigenverantwortlich über die Behandlung. Deren Erforderlichkeit sei letztendlich durch den behandelnden Arzt Dr. G festgestellt. Er sei durchgängig seit 2012 bei dem Psychotherapeuten S wegen seiner Depression in Behandlung sowie bei Dr. G wegen der Coxarthrose, Anpassungsstörungen, Spannungskopfschmerz, Spondylolisthesis, Arthrose, Zoster sowie Migräne. Er habe große Schmerzen im gesamten Bewegungsapparat. Wegen dieser Schmerzen und der Migräne wolle er die Therapie mit Cannabisblüten durchführen. Er kaufe sich gelegentlich Cannabisblüten in der Apotheke, aber nicht in der Menge, die er eigentlich brauche. Vom 9. Oktober 2012 bis 12. Oktober 2012 sei er wegen seiner Kopfschmerzen in stationärer Behandlung gewesen zu sein sowie vom 15. April 2013 bis 6. Mai 2013 in stationäre Rehabilitation in der G Fachklinik W.

Soweit ihm die Beklagte eine Schmerzklinik empfehle, habe er diese bereits 2014 aufgesucht. Er sei dort mit Medikamenten vollgestopft worden. Weil sich der Kläger um seinen 5-Jährigen Sohn kümmern müsse, könne sich der Kläger nicht stationär in Behandlung begeben.

 

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 4. März 2019 abgewiesen. Dem Kläger stehe kein Anspruch nach § 31 Abs. 6 S. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) auf Versorgung mit Cannabis zu.

Es könne dahinstehen, ob die Erkrankungen des Klägers schwerwiegend im Sinne dieser Vorschrift seien. Denn die Voraussetzung, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung stehe, sei nicht gegeben. Diese lägen hier vor in Form von multimodalen Therapien im Rahmen von Rehabilitations- oder stationärer Behandlung. Die Schmerzbehandlung erfolge bei dem Kläger derzeit ausschließlich mittels Tabletten. Er habe in den letzten Jahren keine Rehabilitationsbehandlung und keine stationäre Behandlung in Anspruch genommen, bei der im Rahmen einer multimodalen Therapie weitere Therapieansätze hätten gefunden werden können. Die Behandlungen des Klägers in den Jahren 2012 und 2013 lägen zu lange zurück und könnten deshalb nicht berücksichtigt werden. Denn in der Zwischenzeit könnten sich sowohl die medizinischen Möglichkeiten als auch die Symptome des Klägers und sein Ansprechen auf Therapiemaßnahmen geändert haben. Nicht berücksichtigt werden könne, dass der Kläger aus persönlichen Gründen keine stationäre Behandlung durchführen wolle.

 

Gegen diese am 25. März 2019 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers vom 10. April 2019. Zu deren Begründung hat der Kläger sein bisheriges Vorbringen wiederholt. Der Behandler sei gegebenenfalls zu laden.

 

Der Kläger beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin vom 4.März 2019 sowie den Bescheid vom 24. August 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. März 2017 sowie den Bescheid vom 18. April 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn mit Medizinal-Cannabisblüten zu versorgen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Auf die genannten ärztlichen Gutachten und Stellungnahmen wird ergänzend verwiesen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Es konnte im schriftlichen Verfahren und durch den Berichterstatter alleine nach §§ 155 Abs. 3, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden werden. Beide Beteiligten haben sich im Erörterungstermin am 11. Mai 2022 mit einer solchen Vorgehensweise einverstanden erklärt. Gründe, von der erteilten Ermächtigung keinen Gebrauch zu machen, sind nicht ersichtlich.

 

Der zulässigen Berufung bleibt Erfolg versagt. Das SG hat die Klage zurecht und mit zutreffender Begründung abgewiesen. Der Kläger hat derzeit keinen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabis auf der Grundlage von § 31 Abs. 6 SGB V.

 

Gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol (= Δ9-Tetrahydrocannabinol = THC) oder Nabilon (ein synthetisches Cannabinoid), wenn

1.) a) eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder

b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,

2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (Satz 2). Die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt, die oder der die Leistung nach Satz 1 verordnet, übermittelt die für die Begleiterhebung erforderlichen Daten dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in anonymisierter Form; über diese Übermittlung ist die oder der Versicherte vor Verordnung der Leistung von der Vertragsärztin oder dem Vertragsarzt zu informieren (Satz 5).

 

Diese Voraussetzungen sind derzeit nicht erfüllt. Auf die Ausführungen hierzu im angegriffenen Gerichtsbescheid wird zunächst nach § 153 Abs. 2 SGG verwiesen.

 

Es liegt zudem keine begründete Einschätzung einer behandelnden Vertragsärztin oder eines Vertragsarztes zu dem erforderlichen Genehmigungsantrag vor, in welcher unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes die Verordnung für sinnvoll erachtet wird im Sinne des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V. Auch dieses Erfordernis muss erfüllt sein, da keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass für die Leiden des Klägers keine allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung stehen könnten.

 

Unabhängig von der Therapiehoheit des behandelnden Vertragsarztes muss die ärztliche Einschätzung nach dem Gesetzeswortlaut die zu erwartenden Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen darstellen. Ferner muss die Einschätzung den Krankheitszustand des Versicherten dokumentieren und eine Abwägung enthalten, mit der zum Ausdruck gebracht wird, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 30. März 2021 – L 11 KR 436/20 –, juris-Rdnr. 41). An einer solchen Darstellung der Therapiestandardmaßnahmen und der zu erwartenden Nebenwirkungen fehlt es hier. Der Behandler des Klägers Dr. G hatte am 11. November 2014 lediglich einen Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach dem Betäubungsmittelgesetz gestellt und hat unter dem 17. Februar 2017 unter Verwendung desselben Antrages ausgeführt, dass unter der praktizierten Selbstmedikamentation mit Cannabis Verbesserungen eingetreten seien. Der Kläger profitiere in hohem Maße im Vergleich zur „Standardtherapie“, die üblichen Medikamente seien „ausreichend ausgeschöpft.“ Wie bereits das SG ausgeführt hat, wird weder auf eine multimodale Therapie mit unter anderem stationärer Behandlung und Rehabilitationsmaßnahmen eingegangen, noch aufgeführt, weshalb eine normale medikamentöse Therapie nicht geboten ist.

Die begründete ärztliche Einschätzung ist einerseits sachliche Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch, andererseits aber gerade Ausdruck der ärztlichen Therapiehoheit. Fehlt sie, ist es selbst bei Berücksichtigung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 103 SGG) nicht Aufgabe des Gerichts, die Behandler so lange zu befragen, bis sich in der Zusammenschau eine ausreichende ärztlich begründete Einschätzung einstellt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. April 2021 – L 9 KR 402/19 - juris-Rdnr. 30).

 

Die Kostenentscheidung erfolgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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