L 7 AS 98/22

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 2 AS 65/19
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 98/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Eine Rechtsmitteleinlegung unter dem Vorhalt, dass Prozesskostenhilfe bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet wird, kann als unbedingte Einlegung des Rechtsmittels ausgelegt werden.

 

I.       Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 15. Februar 2022 wird zurückgewiesen.

II.      Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III.     Die Revision wird nicht zugelassen.

T a t b e s t a n d :

Im Berufungsverfahren sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Monate Oktober und November 2018 streitig.

Der Beklagte und Berufungsbeklagte (in der Folge: Beklagter) bewilligte der 1969 geborenen Klägerin und Berufungsklägerin (in der Folge: Klägerin) und ihrer 2003 geborenen Tochter "aufgrund der unklaren Einkommensverhältnisse für die Zukunft" nach § 41a SGB II vorläufig ua für Oktober und November 2018 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Bescheid vom 30.5.2018). Nachdem der Aufenthalt der Tochter bei der Klägerin endete, hob der Beklagte die Bewilligung für die Tochter auf und passte die der Klägerin bewilligten Leistungen entsprechend an (Änderungsbescheid vom 13.9.2018). In der Folge berücksichtigte der Beklagte die Nebenkostennachforderungen für die Jahre 2015/2016 bzw 2016/2017 bei der Bewilligung für November 2018 (Änderungsbescheide vom 12.11.2018).

Die Klägerin ließ gegen den Änderungsbescheid vom 13.9.2018 Widerspruch erheben. Es sei nicht ersichtlich, warum Leistungen vorläufig bewilligt worden seien. Die Rechtsbehelfsstelle des Beklagten wies den Widerspruch unter Einbeziehung der Änderungsbescheide vom 12.11.2018 zurück (Widerspruchsbescheid vom 12.12.2018, beim damaligen Bevollmächtigten eingegangen am 14.12.2018).
Mit der hiergegen allein im Namen der Klägerin am 11.1.2019 zum Sozialgericht München erhobenen Klage hat der damalige Klägerbevollmächtigte vorgetragen, dass nicht ersichtlich sei, warum bei "0" Einkommen vorläufig Leistungen bewilligt worden seien. Der Mehrbedarf für Warmwasser sei zu erhöhen. Die Tochter habe sich bei der Klägerin aufgehalten, so dass von einer temporären Bedarfsgemeinschaft auszugehen sei.

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. Die zulässige Klage sei nicht begründet. Der Änderungsbescheid vom 13.9.2018, geändert durch die Bescheide vom 12.11.2018, idG des Widerspruchsbescheides vom 12.12.2018, sei rechtmäßig und verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin habe in Oktober und November 2018 keinen Anspruch auf höhere Leistungen, als ihr bewilligt worden seien, gehabt. Die zunächst vorläufigen Bewilligungen gelten zwischenzeitlich nach § 41a Abs 3 S 1 SGB II als endgültig festgesetzt, nachdem der Bewilligungszeitraum zum 30.11.2018 geendet habe und bis zum 30.11.2019 keine abschließende Entscheidung ergangen sei.

Der Bedarf der Klägerin sei richtigerweise mit 1 155,57 Euro (416 Euro Regelbedarf für Alleinlebende, 9,57 Euro Mehrbedarf für Warmwassererzeugung, 910 Euro tatsächlich geschuldete Kosten für Unterkunft und Heizung) angesetzt worden. Einkommen sei nicht berücksichtigt worden. Die im Klageverfahren behauptete temporärere Bedarfsgemeinschaft sei trotz Aufforderung nicht substantiiert worden. Gleichzeitig sei nicht ersichtlich, wie die Berücksichtigung einer temporären Bedarfsgemeinschaft den allein streitigen Leistungsanspruch der Klägerin erhöhen sollte. Dass auch Leistungen der Tochter geltend gemacht würden, sei der anwaltlich erhobenen Klage nicht zu entnehmen. Nachdem in den angefochtenen Entscheidungen Einkommen nicht berücksichtigt worden sei und dem übrigen Vortrag der Klägerin im Klageverfahren keine Anhaltspunkte für einen höheren Leistungsanspruch zu entnehmen seien, bestünde kein Ansatzpunkt für einen höheren Leistungsanspruch (Gerichtsbescheid vom 15.2.2022, Zustellung an die Klägerin der Akte des Sozialgerichts nicht (eindeutig) zu entnehmen).
Mit Schreiben vom 1.3.2022 hat die Klägerin unter dem Betreff "Entwurf Berufung" "Antrag Klage - Entwurf" "Antrag auf Notanwalt und PKH" ausdrücklich "unter Vorbehalt" Klage erhoben. Die Beiordnung eines Rechtsanwalts durch das Gericht werde beantragt. Der Vorbehalt erlösche automatisch bei der Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Verfahren nach Klagestellung durch den Anwalt und der Beiordnung eines fähigen Rechtsanwaltes. Sie habe keine Ahnung, was das hier bedeute, und aus diesem Grund ein Recht auf einen Anwalt, der sie im Instanzenzug vertrete. Sie gehe davon aus, dass der Anwalt, der die Klage erhoben habe, gewusst habe, wieso.

Auf den Hinweis des Gerichts, dass die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts mangels Erfolgsaussichten der Berufung nicht beabsichtigt sei, verwies die Antragstellerin auf diverse Auszüge verschiedener Gerichtsentscheidungen ohne Bezug zu ihrer Berufung in der Sache. Ihr als juristisch nicht geschulter "Hartz IV Empfängerin" sei eine ordnungsgemäße Klage/Berufung und eine Verteidigung gegen den Staat und seine Willkür nicht möglich. Sie sei auf juristische Beratung und Vertretung angewiesen. Es gehe um 800 Euro. Weiter nahm die Klägerin Bezug auf ein gegen sie vom Hauptzollamt Rosenheim - Sachgebiet Vollstreckung - geführtes Verwaltungsvollstreckungsverfahren aus dem Bescheid des Beklagten vom 9.10.2018 wegen Aufhebung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Monate Juni und Juli 2018. Ausweislich der elektronischen Verwaltungsakte wurde hier die Bewilligung von Leistungen wegen (höheren) Einkommens als berücksichtigt teilweise aufgehoben und erstattet verlangt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 15.2.2022 sowie den Bescheid des Beklagten vom 13.9.2018, geändert durch Bescheide vom 13.11.2018 idG des Widerspruchsbescheides 12.12.2018 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr für die Monate Oktober und November 2018 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die vorliegenden Akten verwiesen, auch soweit diese vom Beklagten und dem Sozialgericht München beigezogen worden sind.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

1. Streitig ist neben der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung der Änderungsbescheid des Beklagten vom 13.9.2018, geändert durch die Bescheide vom 12.11.2018, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.12.2018 mit denen die der Klägerin für Oktober und November 2018 bewilligten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II wegen tatsächlicher Änderungen neu festgesetzt worden sind bzw das sinngemäße Begehren der Klägerin, höhere Leistungen zu erhalten, als ihr mit den genannten Bescheiden bewilligt worden sind.

2. Die Berufung ist zulässig. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass die Klägerin ihre Einlegung davon abhängig zu machen scheinte, dass ihr unter Beiordnung eines Rechtsanwalts Prozesskostenhilfe bewilligt wird. Bei sachgerechter Auslegung wurde die Berufung unbedingt eingelegt.

a) Bei Prozesserklärungen ist durch Auslegung das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln. Dabei ist nach dem in § 133 BGB zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken, der auch im öffentlichen Recht und im Prozessrecht gilt, bei der Auslegung von Erklärungen nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen (vgl BSG, Beschluss vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B -, Rn 6)

b) Auf dieser Grundlage kann das Schreiben der Klägerin vom 1.3.2022 an das Landessozialgericht nur so verstanden werden, dass sie damit gegen den Gerichtsbescheid vom 15.2.2022 unbedingt Berufung eingelegt hat, für deren Begründung sie hingegen die Beiordnung eines Rechtsanwalts begehrt. Dem Vortrag der Klägerin ist in der Gesamtschau zu entnehmen, dass sie eine Überprüfung der streitgegenständlichen Entscheidungen anstrebt, sich allerdings nicht im Stande sieht, diese selbst zu begründen. Es ist schließlich nicht davon auszugehen, dass die Klägerin ohne Beiordnung eines Rechtsanwalts kein (weiteres) Interesse an ihrer Berufung hat. Dieser im gerichtlichen Schreiben vom 28.3.2022 bereits dargelegten Auslegung hat die Klägerin nicht widersprochen bzw in der mündlichen Verhandlung letztlich zugestimmt.

3. Die Berufung ist unbegründet.
Insoweit wird die Berufung zunächst aus den Gründen des angefochtenen Gerichtsbescheides zurückgewiesen und von deren wiederholender Darstellung abgesehen (§ 153 Abs 2 SGG). Danach erhielt die Klägerin in den allein streitigen Monaten Oktober und November 2018 Leistungen in Höhe des für sie maßgebenden Regelbedarfs, eines Mehrbedarfs für die dezentrale Warmwassererhitzung sowie für die laufenden (monatliche Miete) und besonderen (Nebenkostennachforderungen 2015/2016 sowie 2016/2017) Bedarfe für Unterkunft und Heizung jeweils in tatsächlich von ihr geschuldeter Höhe. Einkommen wurde nicht leistungsmindernd angerechnet. Die durch die ursprünglich streitige Änderungsverfügung der Klägerin bewilligten Leistungen überstiegen die ihr zunächst im Ausgangsbescheid vom 30.5.2018 bewilligten Leistungen. Leistungsansprüche der Tochter der Klägerin, die durch den streitigen Änderungsbescheid tatsächlich betroffen waren, werden ausweislich der anwaltlich erhobenen Klage nicht geltend gemacht.

Auch im Übrigen bestehen keine Anhaltspunkte, die der Berufung zum Erfolg verhelfen könnten.

Es ist weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich, dass der Klägerin ein höherer Mehrbedarf für Warmwasser zustehen könnte, als er bei der Leistungsberechnung vom 13.9.2018 bereits berücksichtigt worden ist. Bei Leistungsberechtigten wird ein Mehrbedarf anerkannt, soweit Warmwasser durch in der Unterkunft installierte Vorrichtungen erzeugt wird (dezentrale Warmwassererzeugung) und deshalb keine Bedarfe für zentral bereitgestelltes Warmwasser nach § 22 anerkannt werden. Der Mehrbedarf beträgt für jede im Haushalt lebende leistungsberechtigte Person 2,3 Prozent des für sie geltenden Regelbedarfs nach § 20 Absatz 2 Satz 1, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht oder ein Teil des angemessenen Warmwasserbedarfs nach § 22 Absatz 1 anerkannt wird (§ 21 Abs 7 Nr 1 SGB II in der im streitigen Zeitraum maßgeblichen Fassung vom 23.12.2016). Die angefochtenen Entscheidungen berücksichtigen einen Mehrbedarf für Warmwasser iHv 9,57 Euro, was 2,3 Prozent des für die Klägerin (alleinstehend, erwachsen) maßgeblichen Regelbedarfs nach Regelbedarfsstufe 1 (vgl § 20 Abs 2 S 1 SGB II) im streitigen Zeitraum iHv 416 Euro entspricht. Es ist weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich, auf welcher Grundlage bzw aufgrund welcher Umstände ein vom berücksichtigten Mehrbedarf abweichender Bedarf der Klägerin bestanden haben könnte.

Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Tochter nach ihrer Herausnahme aus dem Haushalt der Klägerin durch die Jugendschutzbehörden einen eigenen Leistungsanspruch der Klägerin begründenden Bedarf verursacht haben könnte. Den in der Akte des Beklagten vorhandenen umfassenden Eingaben der Klägerin ist zu entnehmen, dass weit über den streitigen Zeitraum hinaus zur Tochter über Monate keinerlei Kontakt bestand. Dem entsprechend gab die Klägerin in ihren in der mündlichen Verhandlung übergegebenen schriftlichen Ausführungen an, ihre Tochter seit 2018 nicht mehr gesehen zu haben und nur noch zwei Telefonate gehabt zu haben. Damit fehlt im streitigen Zeitraum jegliche Grundlage für das Bestehen einer temporären Bedarfsgemeinschaft oder einen Mehrbedarf der Klägerin.

Im Hinblick auf die zwischenzeitlich nach § 41a Abs 5 S 1 SGB II erledigte Vorläufigkeit der streitigen Bewilligungsentscheidungen kann schließlich der insoweit vom Beklagten in den streitgegenständlichen Entscheidungen angeordnete Vorläufigkeitsvorbehalt einen Erfolg der Berufung nicht begründen.

Die zuletzt vorgelegten Unterlagen zu der vom Hauptzollamt Rosenheim betriebenen Verwaltungsvollstreckung aus dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 9.10.2018 für die Monate Juni und Juli 2018 betreffen, worauf die Klägerin bereits hingewiesen worden ist, nicht den Streitgegenstand des angefochtenen Gerichtsbescheides vom 15.2.2022 bzw die Monate Oktober und November 2018. Insoweit dürfte schließlich ein entsprechendes Klageverfahren vor dem Sozialgericht anhängig sein.

Auch aus den in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin übergegebenen schriftlichen Ausführungen ergeben sich keine Umstände, die weitergehende Leistungsansprüche für die Monate Oktober und November 2018 begründen könnten. Insbesondere ergeben sich aus den Schilderungen zur Tätigkeit der Klägerin in der Gastronomie, zu ihren Plänen, eine selbstständige Tätigkeit aufzunehmen, den Problemen in der Hausgemeinschaft sowie mit verschiedenen Behörden und den daraus resultierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen keine Anhaltspunkte für das Bestehen bislang ungedeckter Bedarfe im streitigen Zeitraum. Ein Zusammenhang zwischen den gesundheitlichen Beeinträchtigungen und der von der Klägerin gewählten veganen Ernährung ist weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Da in den streitigen Monaten weder Einkommen angerechnet worden ist noch Pflichtverletzungen festgestellt worden sind bzw entsprechende Leistungsminderungen erfolgt sind, kann die Berufung nicht erfolgreich auf die Ausführungen zur Anlage EKS sowie zu Sanktionen gestützt werden.
Soweit die Klägerin moniert, ihr sei Einsicht in die Akten verwehrt worden, ist festzustellen, dass ein entsprechendes Begehren bis zur mündlichen Verhandlung zu keinem Zeitpunkt des Berufungsverfahrens geltend gemacht worden ist.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

5. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

 

Rechtskraft
Aus
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