L 7 AS 447/22 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 5 AS 662/22 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 447/22 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Allein die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs 1 FreizügG/EU 2004 sperrt die Anwendung des § 7 Abs 1 S 4 Halbs 1 SGB 2. Die Bestandskraft der Entscheidung muss nicht eingetreten sein.


Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 2022 aufgehoben. Der Antrag wird abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander in beiden Rechtszügen keine Kosten zu erstatten.

Den Antragstellern wird unter Beiordnung von Rechtsanwältin J., B-Stadt, Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für das Beschwerdeverfahren bewilligt.


Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 15. September bis 31. Dezember 2022.

Die Antragsteller sind rumänische Staatsangehörige. Die Antragsteller zu 1) und 2) sind nach ihren Angaben im November 2011 und die 2005, 2007 und 2009 geborenen Antragsteller zu 3) bis 5) 2012 nach Deutschland eingereist. Die übrigen Antragsteller sind in Deutschland geboren. Der Antragsteller zu 1) betreibt seit November 2012 ein Gewerbe für Schrotthandel in A-Stadt. Die Antragsteller zu 1) und 2) sind seit 1. Mai 2012 ununterbrochen an verschiedenen Meldeadressen in A-Stadt gemeldet. 

Die Antragsteller erhielten zuletzt vorläufige Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. März bis 31. August 2022 (Bescheid vom 8. März 2022, Bl. 256 ff. der Verwaltungsakte; Änderungsbescheid vom 25. Juli 2022, Bl. 286 der Verwaltungsakte). Am 19. Juli 2022 (Bl. 284 der Verwaltungsakte) beantragte der Antragsteller zu 1) für sich und die Antragsteller zu 2) und zu 4) bis 8) die Weitergewährung der Leistungen nach dem SGB II. Mit Schreiben vom 25. Juli 2022 (Bl. 296 der Verwaltungsakte) forderte der Antragsgegner mit Verweis auf die Regelungen der §§ 60 ff. Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) und unter Fristsetzung bis zum 8. August 2022 vom Antragsteller zu 1) eine schriftliche Erklärung, wann die Antragstellerin zu 3), C. A., ausgezogen ist und die Vorlage der Abmelde- bzw. Anmeldebescheinigung der Antragstellerin zu 3), C. A., die vorläufige EKS für den Zeitraum vom 1. September 2022 bis 28. Februar 2023 sowie Kontoauszüge für Mai 2022 bis Juli 2022 an. Eine Reaktion der Antragsteller erfolgte nicht. 

Mit Bescheiden vom 8. August 2022 (Bl. 237 ff. bzw. Bl. 310 ff. der Ausländerakte) stellte die Beigeladene gegenüber den Antragstellern zu 1) und 2) jeweils fest, dass diese als Unionsbürger für den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr freizügigkeitsberechtigt seien und ordnete jeweils die sofortige Vollziehung dieser Feststellungen an. Dabei verwies die Ausländerbehörde unter anderem darauf, dass die Antragsteller zu 1) und zu 2) eine Vielzahl von Straftaten begangen hätten (insgesamt 20 Verfahren: Diebstahl, Ladendiebstahl, Trickdiebstahl, Leistungserschleichung, Unterschlagung, Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz, aggressives Betteln) und trotz einer selbständigen Tätigkeit mit einem Schrotthandel nicht annähernd in der Lage seien, finanziell für sich und ihre Kinder zu sorgen, sondern bereits Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 192.628,58 Euro bezogen hätten.

Mit Schreiben vom 8. August 2022 (Bl. 301 der Verwaltungsakte) teilte die Ausländerbehörde dem Antragsgegner mit, dass in der aufenthaltsrechtlichen Angelegenheit der Bedarfsgemeinschaft, zu der neben den Antragstellern zu 1) und 2) auch noch die gemeinsamen Kinder, die Antragsteller zu 3) bis 8) gehören, mit Verfügungen vom 8. August 2022 festgestellt worden sei, dass sie als Unionsbürger für den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr freizügigkeitsberechtigt seien. Die zu der Bedarfsgemeinschaft zählenden Personen seien unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aus dem Bundesgebiet aufgefordert worden. Daraufhin lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 9. August 2022 (Bl. 302 der Verwaltungsakte) die Gewährung von Leistungen für die Antragsteller zu 1) und 2) sowie zu 4) bis 8) ab, da die Antragsteller kein Aufenthaltsrecht besitzen würden und die Anspruchsvoraussetzung für die Gewährung der SGB II Leistungen gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a SGB II entfallen seien. Gegen diesen Bescheid legte die Prozessbevollmächtigte der Antragsteller mit Schreiben vom 5. September 2022 Widerspruch ein. Das Widerspruchsverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Außerdem erhoben die Antragsteller Klage gegen die Verlustfeststellung vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main (6 K 2439/22.F) und beantragten gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung einstweiligen Rechtsschutz (6 L 2436/22 F), der vom Verwaltungsgericht in erster Instanz abgelehnt wurde. Ein Beschwerdeverfahren dagegen ist noch anhängig. Das Klageverfahren ist noch nicht abgeschlossen. 

Am 15. September 2022 (Bl. 1 der Gerichtsakte) beantragten die Antragsteller beim Sozialgericht Frankfurt am Main, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern ab Antragstellung vorläufig für einen in das Ermessen des Gerichts gestellten Zeitraum Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren, hilfsweise, den Main-Kinzig-Kreis beizuladen und im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern ab Antragstellung vorläufig für einen in das Ermessen des Gerichts gestellten Zeitraum Leistungen nach dem SGB XII, hilfsweise AsylbLG, in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Mit Beschluss vom 28. September 2022 lud das Sozialgericht Frankfurt am Main den Main-Kinzig-Kreis - Rechtsamt, vertreten durch den Kreisausschuss, Barbarossastraße 16 - 24, 63571 Gelnhausen, zum Verfahren bei. 

Mit Beschluss vom 7. Oktober 2022 verpflichtete das Sozialgericht Frankfurt am Main den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung, den Antragstellern für die Zeit vom 15. September 2022 bis 31. Dezember 2022 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Dieser Beschluss wurde dem Antragsgegner am 10. Oktober 2022 zugestellt. Dagegen hat der Antragsgegner am 20. Oktober 2022 Beschwerde beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt. 

Der Antragsgegner ist weiterhin der Auffassung, dass es für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausreichend ist, wenn der Verlust der Freizügigkeit wirksam festgestellt wurde, auf die Bestandskraft der Entscheidung komme es nicht an. 

Der Antragsgegner beantragt (sinngemäß),

den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 2022 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.

Die Antragsteller beantragen (sinngemäß),

die Beschwerde zurückzuweisen, 

hilfsweise, den Beigeladenen im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern ab Antragstellung vorläufig für einen in das Ermessen des Gerichts gestellten Zeitraum Leistungen nach dem SGB XII, hilfsweise Leistungen nach dem AsylbLG, zu gewähren.

Sie halten die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und verweisen auch auf den Beschluss des 6. Senats des Hessischen Landessozialgericht vom 13. Juni 2022, L 6 AS 196/11 B ER. Die Regelung des § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII enthalte kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Ausreisewillens oder der Bekundung eines solchen Ausreisewillen. Im Übrigen sei den Antragstellern eine Ausreise nicht zumutbar, da eine Abwesenheit von mehr als zwei Jahren zum Verlust des Daueraufenthalts führe. Hinsichtlich der Antragstellerin zu 3) sei mit der Stellung des Eilantrages auch konkludent ein Antrag auf Leistungen nach dem SGB II für die Antragstellerin zu 3) gestellt worden. 

Der Beigeladene stellt keinen Antrag. Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und hält einen Anspruch gegen sich für nicht gegeben. Ein Anspruch der Antragsteller nach dem SGB XII auf Überbrückungsleistungen sei schon deswegen ausgeschlossen, da bei den Antragstellern kein Ausreisewille erkennbar sei. Darüber hinaus sei, ein Anspruch der Antragsteller nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ausgeschlossen, da die Antragsteller nicht vollziehbar ausreisepflichtig seien. Zwar sei der Verlust der Freizügigkeit der Antragsteller festgestellt und auch die sofortige Vollziehung angeordnet worden. Die Antragsteller hätten jedoch nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Verlustfeststellung gestellt. 

Wegen weiterer Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und Leistungsakten sowie den Inhalt der beigezogenen Ausländerakten, der Gegenstand der Entscheidung gewesen ist, ergänzend Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist auch sachlich begründet.

Für die Begründung einer Rechtsposition im einstweiligen Rechtsschutz ist ein Antrag auf eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG statthaft. Der Antrag muss zulässig sein und die Anordnung muss zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen. Es muss glaubhaft sein, dass ein materielles Recht besteht, für das einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht wird (Anordnungsanspruch), und es muss glaubhaft sein, dass eine vorläufige Regelung notwendig ist, weil ein Abwarten auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht zumutbar ist (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO).

Hier fehlt es für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 15. September bis 31. Dezember 2022 für alle Antragsteller an einem Anordnungsanspruch. 

Die Antragstellerin zu 3) hat für diesen Zeitraum keinen Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II, da sie für diesen Zeitraum beim Antragsgegner keinen Antrag auf entsprechende Leistungen gestellt hat. Nach § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB II werden Leistungen nach dem SGB II auf Antrag erbracht. Dieser Antrag hat konstitutive Wirkung für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II (Urteil des Bundessozialgerichts vom 18. Januar 2011, B 4 AS 99/10 R, NJW 2011, 2538 ff.). Dies bedeutet, dass ohne einen Antrag keine Leistungen gewährt werden können. In dem vom Antragsteller zu 1) am 19. Juli 2022 beim Antragsgegner gestellten Antrag, den dieser für die Antragstellerin zu 2) und für die Antragsteller zu 4) bis 8) gestellt hat, ist die Antragstellerin zu 3) nicht aufgeführt. Auch der Ablehnungsbescheid des Antragsgegners vom 9. August 2022 bezieht sich nur auf die Antragsteller zu 1) und 2) und auf die Antragsteller zu 4) bis 8). Schließlich ist auch in dem gerichtlichen Eilantrag der Antragsteller vom 15. September 2022 kein Antrag auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II gegenüber dem Antragsgegner zu sehen. Dieser von der Prozessbevollmächtigten der Antragsteller formulierte Antrag richtet sich ausschließlich an das Gericht und bringt auch nicht zusätzlich in irgendeiner Form zum Ausdruck, dass auch beim Antragsgegner entsprechende Leistungen beantragt werden. Eine entsprechende Interpretation ist auch deshalb ausgeschlossen, da die Antragsteller bei der Formulierung ihres Eilantrages offensichtlich davon ausgegangen sind, es seien auch Leistungen für die Antragstellerin zu 3) bereits beim Antragsgegner beantragt und von diesem abgelehnt worden. 

Aber auch für die übrigen Antragsteller besteht kein Anordnungsanspruch. Die Antragsteller sind, was im Übrigen auch für die Antragstellerin zu 3) gleichermaßen gilt, entgegen der Ansicht des Sozialgerichts nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind von Leistungen ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben (Nr. 2a) oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (Nr. 2b) und ihre Familienangehörigen. Die Antragsteller sind aufgrund des Bescheides der Ausländerbehörde vom 8. August 2022 nicht mehr freizügigkeitsberechtigt und haben auch im Übrigen kein Aufenthaltsrecht. Nach § 7 Abs. 1 Satz 4 1. Halbsatz SGB II erhalten zwar Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen abweichend von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben, was bei den Antragstellern durchgehend der Fall ist. Dies gilt jedoch nach § 7 Abs. 1 Satz 4 2. Halbsatz SGB II nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. Genau dies ist bei den Antragstellern aufgrund der Bescheide der Ausländerbehörde vom 8. August 2022, die darüber hinaus auch noch den Sofortvollzug dieser Feststellungen angeordnet haben, der Fall.

Dabei ist ausreichend, dass der Verlust der Freizügigkeit wirksam festgestellt worden ist, auf die Bestandskraft der Entscheidungen kommt es dagegen nicht an (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Mai 2017, L 15 AS 62/17 B ER, Juris, Rdnrn. 11 f.; vgl. auch Hessisches Landessozialgericht, 4. Senat, L 4 SO 91/20 B ER, Juris, Rdnrn. 61 ff.; a.A. Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 20. März 2018, L 3 AS 73/18 B ER, Juris, Rdnr. 52 und Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. Mai 2019, L 8 SO 109/19 B ER, Juris, Rdnr. 9 sowie für Fälle des nicht angeordneten Sofortvollzuges der Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit Hessisches Landessozialgericht, 9. Senat, Beschluss vom 10. Juli 2018, L 9 AS 142/18 B ER, Juris, Rdnr. 12 und Hessisches Landessozialgericht, 6. Senat, Beschluss vom 13. Juni 2022, L 6 AS 196/22 B ER, Juris, Rdnrn. 50 ff.). Unabhängig von der Frage der Durchsetzbarkeit, die davon abhängt, ob Rechtsmittel eingelegt worden sind oder nicht (§ 7 Abs. 1 Satz 4 FreizügG/EU), begründet bereits die bloße Verlustfeststellung eine Ausreisepflicht (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Mai 2017, L 15 AS 62/17 B ER, Juris, Rdnr. 12; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 25. November 2016, L 11 AS 567/16 B, Juris, Rdnr. 17 jeweils unter Berufung auf Geyer, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 7 FreizügG/EU Rn. 3; Brinkmann in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 7 FreizügG/EU Rn. 5 und Kurzidem in: Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 2016, § 7 FreizügG/EU Rn. 2). Diese ist lediglich noch nicht vollstreckbar. Zutreffend verweist das LSG Niedersachsen-Bremen darauf, dass dies dem Willen des Gesetzgebers entspricht, denn nach der durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 erfolgten Änderung des § 7 FreizügG/EU entsteht die Ausreispflicht nicht mehr erst dann, wenn die Ausländerbehörde unanfechtbar festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht, sondern grundsätzlich bereits mit der bloßen Feststellung des Verlustes (BT-Drucks. 16/5065, S. 211), so dass auch schon die Feststellung des Verlustes der Freizügigkeitsberechtigung einer Verfestigung des Aufenthaltsrechtes entgegensteht beziehungsweise der Aufenthalt nicht mehr als verfestigt im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II angesehen werden kann (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 25. November 2016, L 11 AS 567/16 B, Juris, Rdnr. 17; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Mai 2017, L 15 AS 62/17 B ER, Juris, Rdnr. 12 unter Berufung auf die BT-Drucks. 18/10211, S. 14: „Sollte die Ausländerbehörde allerdings feststellen, dass ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht (mehr) besteht, ist der Aufenthalt nicht mehr verfestigt.“). Durch eine solche ausländerbehördliche Verlustfeststellung unterfallen die Betroffenen der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, denn ein eingetretener Suspensiveffekt beseitigt nicht die Wirksamkeit der Ordnungsverfügung und damit das Bestehen der Ausreisepflicht des Betroffenen (SG Darmstadt, Beschluss vom 30. März 2022, S 20 AS 156/22 ER, Juris, Rdnr. 10 mit Verweis auf Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, FreizügG/EU, 12. Aufl. 2018, § 7 Rn. 18: Dem Suspensiveffekt komme lediglich Vollzugs- und keine Wirksamkeitshemmung zu. Die rechtsgestaltende Wirkung der Verlustfeststellung auf die nationale Rechtsposition, die durch die Freizügigkeitsvermutung hervorgerufen werde, beende den rechtmäßigen Aufenthalt. Während des Zeitraums bis zur Entscheidung durch das Gericht sei der Aufenthalt ausschließlich geduldet und entspreche damit der Rechtsstellung eines ausgewiesenen Ausländers nach § 84 Abs. 2 Satz 1 Aufenthaltsgesetz). Bei einer solchen Verlustfeststellung ist dann eine Berufung auf ein Aufenthaltsrecht im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II ausgeschlossen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14. November 2018, L 19 AS 1434/18 B ER, Juris, Rdnrn. 13 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 6. Oktober 2017, L 19 AS 1761/17 B ER, Juris, Rdnr. 60). Im vorliegenden Fall kommt für die negative Beurteilung der Verfestigung des Aufenthalts hinzu, dass hinsichtlich der Verlustfeststellungen von der Ausländerbehörde bereits ein Sofortvollzug angeordnet und der einstweilige Rechtsschutz dagegen in erster Instanz bereits abgelehnt wurde und lediglich noch ein Beschwerdeverfahren gegen diese Entscheidung anhängig ist. 

Soweit die Gegenposition, die die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 4 2. Halbsatz SGB II erst als erfüllt ansehen will, wenn ein Bescheid über die Verlustfeststellung bestandskräftig geworden ist (so wohl z.B. Hessisches Landessozialgericht, 6. Senat, Beschluss vom 13. Juni 2022, L 6 AS 196/22 B ER, Juris, Rdnrn. 50 ff.), und darauf verweist, dass die von der Verlustfeststellung Betroffenen schlechter als vollziehbar Ausreisepflichtige behandelt würden (Hessisches Landessozialgericht, 6. Senat, Beschluss vom 13. Juni 2022, L 6 AS 196/22 B ER, Juris, Rdnrn. 61 f.), ist dies unzutreffend, denn die von der Verlustfeststellung Betroffenen können Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Sätze, 3, 5 und 6, Abs. 3a SGB XII erhalten, die ihren Lebensunterhalt bis zu ihrer Ausreise sichern. Die gleiche Funktion kommt den Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für die Gruppe der vollziehbar Ausreisepflichtigen zu. Anders als dem Personenkreis, für den das AsylbLG in erster Linie einen Anspruch auf laufende existenzsichernde Leistungen vermittelt, ist es Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Regel ohne weiteres möglich, kurzfristig in ihren Heimatstaat zurück zu reisen, um dort anderweitige Hilfemöglichkeiten zu aktivieren, so dass ihnen Leistungen für die Sicherung des Lebensunterhalts auch für einen kürzeren Zeitraum gewährt werden können (siehe dazu Beschluss des Senats vom 27. März 2019, L 7 AS 27/19 B, Juris, Rdnrn. 10 ff.; vgl. jetzt auch Bundessozialgericht, Urteil vom 29. März 2022, Juris, Rdnrn. 35 ff. m.w.N.). Deswegen sind auch die verfassungsrechtlichen Bedenken, die die Gegenposition dafür anführt, dass die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 4 2. Halbsatz SGB II in verfassungskonformer Auslegung erst als erfüllt angesehen werden dürfen, wenn ein Bescheid über die Verlustfeststellung bestandskräftig geworden ist (Hessisches Landessozialgericht, 6. Senat, Beschluss vom 13. Juni 2022, L 6 AS 196/22 B ER, Juris, Rdnrn. 64 f.), nicht begründet. 

Soweit die Gegenposition darauf verweist, bei der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes gegen eine Verlustfeststellung müssten vorläufige SGB-II-Leistungen nach § 41a SGB II bewilligt werden (Hessisches Landessozialgericht, 6. Senat, Beschluss vom 13. Juni 2022, L 6 AS 196/22 B ER, Juris, Rdnr. 63) ist dies unzutreffend, weil kein Raum für vorläufige Leistungen besteht, wenn die Leistungen nach §§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, Satz 4 2. Halbsatz SGB II ausgeschlossen sind. 

Den Antragstellern stehen die im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Ansprüche auch nicht aufgrund der Regelungen des § 23 Abs. 3 Sätze 3, 5 und 6 SGB XII zu. Zwar ist auch eine Verurteilung des beigeladenen, zuständigen Sozialhilfeträgers nach § 75 Abs. 2 2. Alt, Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im vorliegenden Verfahren grundsätzlich möglich. Eine solche Verurteilung nach § 75 Abs. 2 2. Alt, Abs. 5 SGG setzt auch nicht voraus, dass der geltend gemachte Anspruch und der Anspruch gegen den anderen Träger inhaltlich derselbe Anspruch ist oder sich diese Ansprüche inhaltlich vollständig decken. Die Ansprüche dürfen sich aber nach Rechtsgrund und Rechtsfolge nicht wesentlich unterscheiden (vgl. Straßfeld, in: Roos/Wahrendorf/Müller (Hrsg.), SGG, 3. Auflage 2023, § 75 Rdnr. 321; B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage, 2020, § 75 Rdnr. 18 m.w.N.; siehe auch Bundessozialgericht, Urteil vom 8. Mai 2007, B 2 U 3/06 R, Juris, Rdnr. 27). Die Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Sätze 3, 5 und 6 SGB XII stellen jedoch gegenüber den beim Beklagten beantragten und im gerichtlichen Verfahren geltend gemachten Leistungen nach dem SGB II nach Auffassung des Senats (z.B. Beschluss vom 27. März 2019, L 7 AS 27/19 B, Juris, Rdnr. 11), die sich in Übereinstimmung mit der gefestigten Rechtsprechung der Landessozialgerichte befindet, ein aliud dar (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14. November 2018, L 19 AS 1434/18 B ER, Juris, Rdnr. 25 m.w.N.; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 2. August 2017, L 8 SO 130/17 B ER, Juris, Rdnr. 64 m.w.N.; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. Februar 2018, L 19 AS 249/18 B ER, Juris, Rdnr. 35 m.w.N.; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Mai 2017, L 15 AS 62/17 B ER, Juris, Rdnr. 21 f. m.w.N.; vgl. auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Februar 2017, L 23 SO 30/17 B ER, Juris, Rdnrn. 46, 48 m.w.N.; a.A. lediglich LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Januar 2018, L 7 AS 2299/17 B, Juris, Rdnr. 15). Denn der Bezug der Überbrückungsleistungen ist - anders als bei laufenden Leistungen - auf eine kurze überbrückbare Absicherung des Aufenthalts bis zur Ausreise gerichtet und dient der Vorbereitung dieser Ausreise aus dem Bundesgebiet und besitzt Ausnahmecharakter (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14. November 2018, L 19 AS 1434/18 B ER, Juris, Rdnr. 25 m.w.N.; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 2. August 2017, L 8 SO 130/17 B ER, Juris, Rdnr. 64 m.w.N.; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Mai 2017, L 15 AS 62/17 B ER, Juris, Rdnr. 21). Deshalb scheidet eine Verurteilung zu dieser Leistung im vorliegenden Verfahren aus. Die Übrigen erfüllen die Antragsteller die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII schon wegen der Erwerbsfähigkeit der Antragsteller zu 1) und 2) nicht. 

Die Antragsteller haben auch keinen Leistungsanspruch nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG sind Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die vollziehbar ausreisepflichtig sind, nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigt, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist. Die Antragsteller und ihre Kinder sind jedoch nicht vollziehbar ausreisepflichtig. Zwar sind Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Freizügigkeitsgesetz/EU ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Wird jedoch ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt, darf nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Freizügigkeitsgesetz/EU die Abschiebung nicht erfolgen, bevor über den Antrag entschieden wurde. Da die Antragsteller gegen die Feststellung, dass sie nicht das Recht auf Einreise und Aufenthalt haben, Klage erhoben und einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt haben, über den noch nicht rechtskräftig entschieden wurde, sind sie zwar ausreisepflichtig, aber sie sind nicht vollziehbar ausreisepflichtig im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG (vgl. dazu auch Hessisches Landessozialgerichts, 4. Senat, Beschluss vom 29. Juni 2020, L 4 SO 91/20 B ER, Juris, Rdnr. 65; a.A. dagegen LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14. November 2018, L 19 AS 1434/18 B ER, Juris, Rdnr. 22, 27). Auch im Übrigen bestehen für die Antragsteller keine Ansprüche nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und die Nichtgewährung laufender Leistungen zum Lebensunterhalt der Antragsteller hat der Senat nicht (vgl. dazu auch Beschluss des Senats vom 27. März 2019, L 7 AS 27/19 B, Juris, Rdnrn. 10 ff.; vgl. auch Bundessozialgericht, Urteil vom 29. März 2022, Juris, Rdnrn. 35 ff. m.w.N.). Der Gesetzgeber hat mit dem Ausschluss von laufenden Leistungen für Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben oder die ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiten, die Nachrangigkeit des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Leistungsansprüche sind für diese Personengruppe nach der seit dem 29. Dezember 2016 geltenden Rechtslage nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern lediglich auf solche Hilfen beschränkt, die erforderlich sind, um die Betroffenen in die Lage zu versetzen, existenzsichernde Leistungen ihres Heimatlandes in Anspruch zu nehmen. So räumt § 23 SGB XII nunmehr einen Anspruch auf eingeschränkte Hilfen bis zur Ausreise - Überbrückungsleistungen - ein (Abs. 3 Satz 3, 5) und verpflichtet die Behörde darüber hinaus zur Übernahme der Kosten der Rückreise (Abs. 3a). Durch eine Härtefallregelung (Abs. 3 Satz 6) wird zudem jetzt sichergestellt, dass im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte Leistungen erbracht werden, die nach Art, Umfang und/oder Dauer noch über die „normalen“ Überbrückungsleistungen hinausgehen. Der Gesetzgeber bewegt sich mit dieser Regelung innerhalb des Spielraums, welcher ihm bei der Ausgestaltung des Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG eingeräumt ist (Beschluss des Senats vom 27. März 2019, L 7 AS 27/19 B, Juris, Rdnr. 12 m.w.N.). Anders als dem Personenkreis, für den das AsylbLG in erster Linie einen Anspruch auf laufende existenzsichernde Leistungen vermittelt, ist es Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Regel ohne weiteres möglich, kurzfristig in ihren Heimatstaat zurück zu reisen, um dort anderweitige Hilfemöglichkeiten zu aktivieren. Daher kann die Gewährleistungsverpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG für Anspruchsberechtigte nach dem AsylbLG, die gerade nicht in jedem Fall zeitnah in ihre Heimat zurückkehren können, um dort ihren Lebensunterhalt zu sichern, auch umfangreichere und länger andauernde Leistungen zur Existenzsicherung erfordern. Bei Unionsbürgern kann sich die Gewährleistungsverpflichtung demgegenüber darin erschöpfen, sie bei den Bemühungen der Selbsthilfe durch eingeschränkte Leistungen (z.B. Überbrückungsleistungen, Übernahme der Kosten der Rückreise) zu unterstützen (Beschluss des Senats vom 27. März 2019, L 7 AS 27/19 B, Juris, Rdnr. 12 m.w.N.; vgl. jetzt auch Bundessozialgericht, Urteil vom 29. März 2022, Juris, Rdnr. 38. m.w.N.). Eine Inanspruchnahme von Leistungen im Heimatland verbunden mit einem längeren dortigen Aufenthalt wäre den Antragstellern nach Auffassung des Senats auch zumutbar, auch wenn die Antragsteller dadurch in der Bundesrepublik Deutschland Nachteile hinsichtlich ihres Aufenthaltsstatus erleiden könnten, da solche Nachteile weder feststehen noch unvermeidlich sind, weil die Beurteilung des Daueraufenthaltsrechts auch vor dem Hintergrund einer aus finanziellen Gründen erzwungenen Ausreise erfolgen könnte. 

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Prozesskostenhilfe war nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO unabhängig von der Prüfung der Erfolgsaussichten der Verteidigung gegen die Beschwerde des Antragsgegners zu gewähren. 

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
 

Rechtskraft
Aus
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