L 7 SB 55/17

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 5 SB 163/16
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 7 SB 55/17
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Die Heilungsbewährungszeit nach einer Krebserkrankung kann nicht individuell verlängert werden, weil eine Rezidiverkrankung vorliegt.

 

Die Berufung wird zurückgewiesen.

 

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).

 

Die am ... 1960 geborene Klägerin beantragte am 10. Januar 2011 die Feststellung von Behinderungen wegen einer Brustkrebserkrankung. Nach dem Bericht des Krankenhauses S H. vom 16. August 2010 wurde bei ihr ein Lokalrezidiv der rechten Mamma (T1b Nx M0, G2, L0) festgestellt. Am 23. Juli 2010 erfolgte eine subkutane Mastektomie beidseits mit Implantateinlage. Mit Bescheid vom 27. Januar 2011 stellte der Beklagte bei der Klägerin ab 10. Januar 2011 einen GdB von 50 wegen einer Brustkrebserkrankung rechts im Stadium der Heilungsbewährung fest.

 

Im Oktober 2015 leitete der Beklagte eine Nachprüfung von Amts wegen ein. Nach dem Bericht des Krankenhauses S H. vom 22. Mai 2014 liege ein unauffälliger klinischer Befund beidseits vor. Es bestehe kein Anhalt für ein Lokalrezidiv. Die Implantate seien intakt. Nach Beteiligung seines ärztlichen Dienstes, der für den Teilverlust der rechten Brust nach Ablauf der Heilungsbewährung einen Einzel-GdB von 10 vorschlug, hörte der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 14. Dezember 2015 zur beabsichtigten Herabsetzung des GdB auf 10 für die Zukunft an.

 

Die Klägerin führte in ihrer Stellungnahme vom 18. Januar 2016 aus: Sie sei nun schon das zweite Mal an Krebs erkrankt und müsse täglich mit dem Wissen und der Furcht vor einer dritten Erkrankung leben und umgehen. Die fachärztliche Weiterbeobachtung sei zwingend, weil Nebenwirkungen wie Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut, eine beginnende Trübung der Augenlinse, diverse Beschwerden des klimakterischen Syndroms und Polyneuropathie vorlägen. Die Stoffwechselveränderungen hätten zu Übergewicht geführt. Sie habe beide Brüste verloren, weil es auch in der linken Brust Veränderungen gegeben habe. Die Brüste seien wegen der Bestrahlung bei der Erstbehandlung unterschiedlich. Dies betreffe auch die Größe. Zeitweise habe sie Verhärtungen und dadurch Beschwerden in der rechten Brust. Metastasen und maligne Neubildungen könnten auch nach mehr als fünf Jahren auftreten. Der Beklagte holte eine Stellungnahme seines Gutachters Dr. H. ein, der für den Verlust beider Brüste mit unauffälliger Implantatversorgung einen GdB von 20 vorschlug.

 

Mit Bescheid vom 19. Februar 2016 hob der Beklagte den Bescheid vom 27. Januar 2011 auf und stellte ab 1. März 2016 einen GdB von 20 fest.

 

Dagegen erhob die Klägerin am 14. März 2016 Widerspruch und trug vor: Trotz des Wiederaufbaus der Brust habe sie mit Einschränkungen und Entstellungen durch die unterschiedlich großen Brüste sowie einem Taubheitsgefühl zu kämpfen, sodass ein GdB von 30 gerechtfertigt sei. Auch leide sie aufgrund der Krebsbehandlungen an einer Polyneuropathie an Händen und Füßen. Sie habe Missempfindungen, Kribbeln und Schmerzen. Zudem habe sie eine Konzentrationsschwäche. Der Handlung- und Bewegungsspielraum sei massiv eingeschränkt. Auch wüchsen die Nägel nicht mehr nach.

 

Im Widerspruchsverfahren lag der Entlassungsbericht der Klinik G. vom 4. März 2011 über den stationären Aufenthalt der Klägerin vom 1. Februar bis 1. März 2011 vor. In dem Bericht wurden als Beschwerden der Klägerin Missempfindungen und Nagelveränderungen im Bereich der Hände und Füße sowie eine körperliche eingeschränkte Belastbarkeit angegeben. Die Konzentrationsfähigkeit habe sich deutlich verschlechtert. Die Klägerin arbeite 41 Stunden wöchentlich als Anwendungsprogrammiererin und Projektmanagerin, habe einen Abschluss als Diplomverwaltungswirtin. Die Tätigkeit erfordere ein hohes Maß an Konzentrationsfähigkeit und Organisationstalent und sei sehr stressbelastend. Für ihren Beruf fühle sie sich derzeit aufgrund der Beschwerden nicht leistungsfähig. Im Reha-Bericht wurde ausgeführt, wegen der noch eingeschränkten Konzentrationsfähigkeit und des noch eingeschränkten Sehvermögens bestehe unverändert Arbeitsunfähigkeit. Mit Befundschein von Juni 2016 berichtete die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. T. über eine fortbestehende Polyneuropathie. Es bestünden Parästhesien in beiden Füßen und ein Taubheitsgefühl in den Händen. Die Sensibilität der Fingerspitzen sei deutlich vermindert. Dadurch seien Verrichtungen wie das Nähen nicht möglich. Außerdem leide die Klägerin unter Konzentrationsschwäche und Müdigkeit.

 

Der Beklagte beteiligte seinen ärztlichen Gutachter Dr. J1. Dieser führte aus, es ergebe sich kein höherer GdB als 20. Unterschiedliche Brustgrößen stellten keine Behinderung dar. Die sich aus der Polyneuropathie ergebenden Funktionsstörungen seien geringfügiger Natur und erhöhten den GdB nicht, da bereits der Wiederaufbau der Brust mit einem GdB von 20 ausreichend hoch bewertet worden sei. Die angegebene Konzentrationsstörung sei subjektiv. Allein die Mitteilung im hausärztlichen Befund begründe keinen messbaren GdB. Ein Behandlungsbedarf leite sich nicht ab. Dem folgend wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. August 2016 den Widerspruch der Klägerin zurück.

 

Dagegen hat die Klägerin am 23. September 2016 Klage beim Sozialgericht (SG) Dessau-Roßlau erhoben und zur Begründung ausgeführt: Nach der Operation sei eine antihormonelle Therapie eingeleitet worden, die erhebliche Nebenwirkungen verursache. Außerdem könne hier nicht von einer Heilungsbewährung ausgegangen werden, da bei ihr nach fünf Jahren ein Rezidiv aufgetreten sei. Auch das Sächsische Landessozialgericht (LSG) habe in einem Urteil klargestellt (Urteil vom 25. Mai 2005, L 6 SB 55/04), dass die Statistiken nur für eine Ersterkrankung anzuwenden seien.

 

Das SG hat weitere Befundberichte eingeholt. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. T. hat berichtet, dass zwischen 2012 und 2016 kurzzeitige Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen rezidivierender Infekte vorgelegen hätten. Es bestehe aktuell kein Anhalt für ein Rezidiv. Die Klägerin sei dauerhaft im Alltag durch Missempfindungen in beiden Händen, einer Verminderung der Sensibilität in den Fingerspitzen, Taubheitsgefühl in den Händen, Konzentrationsschwäche und Müdigkeit eingeschränkt. Der Beklagte hat auf eine prüfärztliche Stellungnahme seiner Gutachterin S. vom 20. März 2017 verwiesen, wonach für die Aufbauplastik beider Brüste nach subkutaner Mastektomie ein GdB von 20 bis 30 und die Nervenschädigung der Hände ein GdB von 10 sowie ein Gesamt-GdB von 20 bis maximal 30 festzustellen sei.

 

Mit Gerichtsbescheid vom 4. Mai 2017 hat das SG den Beklagten verpflichtet, bei der Klägerin seit dem 1. März 2016 einen GdB von 30 festzustellen und zur Begründung ausgeführt: Der Verlust beider Brüste nach subkutaner Mastektomie und Implantatversorgung bedinge unter Berücksichtigung der Bewegungseinschränkungen der Arme einen GdB von 30. Die Nervenschädigung der Hände sei mit einem GdB von 10 zu bewerten.

 

Gegen den ihr am 15. Mai 2017 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 31. Mai 2017 Berufung beim LSG Sachsen-Anhalt eingelegt und weiter vorgetragen: Das SG habe sich nicht mit der Rechtsprechung des Sächsischen LSG auseinandergesetzt. Der Beklagte hat auf die Rechtsprechung des LSG Niedersachsen-Bremen vom 21. Juli 2015 (L 13 SB 122/14) hingewiesen, wonach nunmehr eine eindeutige Ermächtigungsgrundlage für die Normierung der Heilungsbewährung vorliege. Davon sei nicht abzuweichen.

 

Der Beklagte hat mit Ausführungsbescheid vom 22. Mai 2017 bei der Klägerin ab 1. März 2016 einen GdB von 30 festgestellt.

 

Die Klägerin beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 4. Mai 2017 sowie den Bescheid des Beklagten vom 19. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. August 2016 in Gestalt des Ausführungsbescheids vom 22. Mai 2017 aufzuheben.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er vertritt die Ansicht, ein höherer GdB als 30 sei bei der Klägerin nicht festzustellen.

 

Das LSG hat weitere Befundberichte eingeholt. Der Facharzt für Orthopädie Dr. L. hat über die Behandlung der Klägerin zwischen Februar 2015 und Dezember 2017 berichtet und folgende Diagnosen gestellt:

 

Zervikothorakalsyndrom,

 

Impingmentsyndrom beidseits bei muskulärer Verkürzung,

 

Coxarthrose links,

 

Ganglion linkes Handgelenk,

 

Fersensporn links.

 

Am 10. März 2016 und 13. Februar 2017 hätten Blockierungen des zervikothorakalen und des thorakolumbalen Übergangs gelöst werden können. Für den Fersensporn habe die Klägerin eine Einlageversorgung erhalten. Eine Arbeitsunfähigkeit sei nicht bescheinigt worden. Die Beschwerden vor allem im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) und Brustwirbelsäule (BWS) seien unverändert geblieben und hätten immer wieder zu Bewegungseinschränkungen geführt. Die HWS habe eine Beweglichkeit von Extension/Flexion 10/0/40° und Rotation von 40/0/40° gehabt. An dem linken Hüftgelenk habe eine Bewegungseinschränkung von Extension/Flexion 0/0/90° bestanden. An beiden Schultergelenken habe eine eingeschränkte Beweglichkeit (Extension/Flexion 30/0/160°, Abduktion/Adduktion 150/0/30°) vorgelegen. Befunde zur Polyneuropathie lägen nicht vor. Außerdem hat die Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dipl.-Med. J2 mit Befundbericht vom 16. Januar 2018 mitgeteilt, vor allem die psychische Situation der Klägerin habe sich aufgrund der langen Krankheitsgeschichte verschlechtert. Die subkutane Mastektomie beidseits mit Implantateinlage sei mit unauffälligem Lokalbefund erfolgt. Die Polyneuropathie sei nicht durch eine neurologische Untersuchung gesichert worden.

 

Mit Schreiben vom 22. Januar 2018 hat die Klägerin mitgeteilt, ihr Gesundheitszustand habe sich verschlechtert und dazu weitere medizinische Unterlagen vorgelegt.

 

Der Beklagte hat eine versorgungsärztliche Stellungnahme seiner Gutachterin S. vom 7. Februar 2018 übersandt. Danach rechtfertige der orthopädische Befund einen GdB von 10 und berücksichtige dabei Schmerzen und Bewegungseinschränkungen der HWS und BWS ohne neurologische Defizite, Schmerzen des Schultergelenks (Anteversion beidseits bis 160°) und die Ausbildung eines „Überbeins“ (Ganglions) am Handgelenk. Außerdem sei in dem GdB von 10 die Bewegungseinschränkung im linken Hüftgelenk erfasst. Ein höherer GdB als 30 komme unter Berücksichtigung der Aufbauplastik beider Brüste nach subkutaner Mastektomie (Einzel-GdB 30) nicht in Betracht.

 

Mit Schreiben vom 21. Oktober 2019 hat der Beklagte die Klägerin erneut zur Herabsetzung des GdB angehört.

 

Mit Schreiben vom 22. November 2022 hat sich die Klägerin und mit Schreiben vom 24. November 2022 der Beklagte mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten ergänzend verwiesen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten den Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

 

Die form- und fristgemäß eingelegte und gemäß § 143 SGG auch statthafte Berufung ist unbegründet. Die Gesundheitsstörungen bedingen bei der Klägerin seit dem 1. März 2016 einen GdB von 30. Der Gerichtsbescheid des SG vom 4. Mai 2017 ist rechtmäßig.

 

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist eine isolierte Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG gegen einen belastenden Verwaltungsakt. Entscheidungserheblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Bescheides ist die Sach- und Rechtslage bei der letzten Verwaltungsentscheidung, vorliegend also die Sach- und Rechtslage beim Erlass des Widerspruchsbescheids vom 26. August 2016 (stRspr, Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 10. September 1997 – 9 RVs 15/96 – juris Rn. 11; BSG, Beschluss vom 11. Mai 2021 – B 9 SB 65/20 B – juris Rn. 10).

 

Der angefochtene Bescheid vom 19. Februar 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. August 2016 ist formell rechtmäßig. Die nach § 24 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) erforderliche Anhörung zu einer beabsichtigten Aufhebung des GdB von 50 mit Wirkung für die Zukunft ist mit Schreiben vom 14. Dezember 2015 und vom 21. Oktober 2019 erfolgt.

 

Seine materielle Ermächtigungsgrundlage findet der von der Klägerin angefochtene Bescheid in § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Als wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes gilt, wobei dies sowohl hinsichtlich der Besserung als auch Verschlechterung anzunehmen ist, jedenfalls eine Veränderung, die es erforderlich macht, den Gesamtgrad der Behinderung um mindestens 10 anzuheben oder abzusenken.

 

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist die Herabsetzung des GdB rechtmäßig. Es ist eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen durch den Ablauf einer Heilungsbewährung eingetreten, die nicht mehr den mit Bescheid vom 27. Januar 2011 festgestellten GdB von 50, sondern ab 1. März 2016 einen GdB von 30 rechtfertigt.

 

Für die Feststellung des GdB zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (Widerspruchsbescheid vom 26. August 2016) ist das Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen maßgebend. Dabei ist die zu diesem Zeitpunkt geltende gesetzliche Regelung heranzuziehen. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Diese Regelung knüpft materiell-rechtlich an den in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bestimmten Begriff der Behinderung an. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft (bzw. Funktionsbeeinträchtigungen) vorliegen, wird nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX aF der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehung festgestellt.

 

Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX aF gelten die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG festgelegten Maßstäbe und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Nach § 30 Abs. 1 BVG richtet sich die Beurteilung des Schweregrades – dort des "Grades der Schädigungsfolgen" (GdS) – nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Die hierfür maßgebenden Grundsätze sind in der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) aufgestellt worden, zu deren Erlass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch § 30 Ab. 16 BVG ermächtigt ist.

 

Nach § 2 VersMedV sind die auch für die Beurteilung des Schweregrades nach § 30 Abs. 1 BVG maßgebenden Grundsätze in der Anlage der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ([VMG], Anlageband zu BGBl. I Nr. 57 vom 15. Dezember 2008, G 5702) als deren Bestandteil festgelegt und damit nunmehr der Beurteilung der erheblichen medizinischen Sachverhalte mit der rechtlichen Verbindlichkeit einer Rechtsverordnung zugrunde zu legen.

 

Nach Teil B Nr. 14.1 VMG ist bei Entfernung eines malignen Brustdrüsentumors im Stadium T1 bis T2 pN0 M0 ein GdB von 50 anzunehmen und eine Heilungsbewährung von fünf Jahren abzuwarten. Ein solcher Tumor wurde auch bei der Klägerin festgestellt. Der Beginn der Heilungsbewährung ist nach Teil B Nr. 1 c Satz 6 VMG der Zeitpunkt der Operation bzw. Primärtherapie, also die bei der Klägerin erfolgte Mastektomie am 23. Juli 2010. Am 1. März 2016, zum Zeitpunkt der Herabsetzung des GdB, war die Heilungsbewährung bereits über 5 Jahre abgelaufen und ein Rezidiv ist in dem Zeitraum der Heilungsbewährung nach den vorliegenden Berichten von Dipl.-Med. J2 und Dr. T. nicht wieder aufgetreten.

 

Dieser Ablauf der Heilungsbewährung stellt eine tatsächliche Veränderung im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X dar. Die Zeitdauer der Heilungsbewährung bei malignen Erkrankungen basiert auf Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft über die Gefahr des Auftretens einer Rezidiverkrankung in den ersten 5 Jahren nach der Erstbehandlung sowie der regelmäßig vorhandenen Angst vor einem Rezidiv. Die Heilungsbewährung erfasst darüber hinaus auch die vielfältigen Auswirkungen, die mit der Feststellung, der Beseitigung und der Nachbehandlung eines Tumors in allen Lebensbereichen verbunden sind. Dies rechtfertigt es nach der sozialmedizinischen Erfahrung, bei Krebserkrankungen zunächst nicht nur den Organverlust zu bewerten. Vielmehr ist hier zunächst für einen gewissen Zeitraum unterschiedslos der Schwerbehindertenstatus zu gewähren. Die pauschale, umfassende Berücksichtigung körperlicher und seelischer Auswirkungen der Erkrankung kann jedoch nicht auf Dauer Bestand haben. Da nach der medizinischen Erfahrung nach rückfallfreiem Ablauf von 5 Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit die Krebserkrankung überwunden ist und außerdem neben der unmittelbaren Lebensbedrohung auch die vielfältigen Auswirkungen der Krankheit auf die gesamte Lebensführung entfallen sind, ist der GdB dann nur noch anhand der noch verbliebenen Funktionseinschränkungen zu bewerten (BSG, Urteil vom 9. August 1995, 9 RVs 14/94, juris).

 

Die Heilungsbewährungszeit kann auch nicht individuell verlängert werden, weil es sich bei der Erkrankung der Klägerin um eine Rezidiverkrankung gehandelt hat (vgl. ebenso LSG Niedersachen-Bremen, Urteil vom 21. Juli 2015, L 13 SB 122/14; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Februar 2019, L 6 SB 2892/18; SG H., Urteil vom 6. Februar 2019, S 43 SB 125/16, jeweils zitiert nach juris). Die Entscheidung des Sächsischen LSG (Urteil vom 25. Mai 2005, L 6 SB 55/04, juris Rn. 33), auf die sich die Klägerin stützt, erging noch unter Anwendung der Anhaltspunkte für die Ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP). Die VMG und die darin enthaltenden Regelungen zur Heilungsbewährung haben nunmehr Rechtsnormcharakter, von denen auch nicht abgewichen werden kann, weil es sich um eine Rezidiverkrankung gehandelt hat. Dem steht auch das Finalitätsprinzip des Schwerbehindertenrechts entgegen. Es kommt ausschließlich auf die bestehenden Funktionseinschränkungen an. Die mit der Rezidiverkrankung verbundene psychische Belastung der Klägerin ist im Rahmen einer bestehenden psychischen Funktionsstörung zu berücksichtigen, führt aber nicht unabhängig von etwaigen Funktionseinschränkungen zu einer längeren Heilungsbewährungszeit.

 

Der streitigen Bemessung des GdB nach Ablauf der Heilungsbewährung ist die GdS-Tabelle der VMG (Teil B) zugrunde zu legen. Nach den allgemeinen Hinweisen zu der Tabelle (Teil B Nr. 1 a) sind die dort genannten GdS-Sätze Anhaltswerte. In jedem Einzelfall sind alle die Teilhabe beeinträchtigenden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen und in der Regel innerhalb der in Nr. 2 e (Teil A) genannten Funktionssysteme (Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut und Immunsystem; innere Sekretion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf) zusammenfassend zu beurteilen. Die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung (Teil B Nr. 1 a).

 

Nach diesem Maßstab rechtfertigen die Funktionseinschränkungen der Klägerin nach Ablauf der Heilungsbewährung seit dem 1. März 2016 bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids vom 26. August 2016 keinen höheren GdB als 30. Der Senat stützt sich dabei auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Beklagten sowie die eingeholten Befundberichte.

 

a)

 

Das Hauptleiden der KIägerin betrifft das Funktionssystem Geschlechtsapparat und wird durch die beidseitige Mastektomie mit nachfolgender Aufbauplastik geprägt. Dafür ist ein GdB von 30 festzustellen. Nach Teil B Nr. 14.1 VMG ist von folgendem Bewertungsrahmen auszugehen:

 

14.1 Verlust der Brust (Mastektomie)

 

einseitig                                                                                                                    30

 

beidseitig                                                                                                                  40

 

Segment- oder Quadrantenresektion der Brust                                                                  0-20

 

Funktionseinschränkungen im Schultergürtel, des Armes oder der Wirbelsäule als Operations- oder Bestrahlungsfolgen (z. B. Lymphödem, Muskeldefekte, Nervenläsionen, Fehlhaltung) sind ggf. zusätzlich zu berücksichtigen.

 

Aufbauplastik zur Wiederherstellung der Brust mit Prothese je nach Ergebnis (z. B. Kapselfibrose, Dislokation der Prothese, Symmetrie)

 

nach Mastektomie

 

einseitig                                                                                                                    10-30

 

beidseitig                                                                                                                  20-40

 

nach subkutaner Mastektomie

 

einseitig                                                                                                                    10-20

 

beidseitig                                                                                                                  20-30

 

Nach diesem Maßstab ist für den beiderseitigen Wiederaufbau der Brust nach subkutaner Mastektomie ein GdB von 30 festzustellen. Zwar wurde über intakte (vgl. Bericht Krankenhaus St. E. und B. vom 22. Mai 2014) bzw. unauffällige Implantate berichtet (vgl. Bericht Dipl.-Med. J2 vom 16. Januar 2018). Es wurden durch die behandelnden Ärzte weder eine Kapselfibrose noch eine Dislokation der Prothese oder eine Symmetrie feststellt. Doch hat der Senat berücksichtigt, dass die Klägerin die Unterschiede zwischen den Brüsten (auch im Hinblick auf die Größe) als belastend beschrieben hat. Damit ist die Symmetrie betroffen, sodass der Bewertungsrahmen unter Berücksichtigung der von der Klägerin mitgeteilten Verhärtungen ausgeschöpft werden kann.

 

Die Entfernung der Gebärmutter erfolgte im November 2017, also nach Erlass des Widerspruchsbescheides, und ist schon deshalb im Rahmen der hier vorliegenden Anfechtungsklage nicht zu berücksichtigen.

 

b)

 

Im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche ist bei der Klägerin zunächst ein Einzel-GdB von 10 für eine leichtere psychische Störung gemäß Teil B Nr. 3.7 VMG festzustellen. In dem GdB werden die von der Klägerin geschilderten Konzentrationsstörungen mit symptomatischen Begleitfolgen bzw. die psychosomatische Erschöpfungssymptomatik berücksichtigt. Auch wird mit diesem GdB die Angst vor einer erneuten Erkrankung an Krebs erfasst. Ein höherer GdB kommt nicht in Betracht, da fachärztliche Behandlungen auf psychiatrischem Gebiet und entsprechende Diagnosen, die auf einen entsprechenden Leidensdruck der Klägerin hätten hindeuten können, im maßgeblichen Prüfungszeitraum nicht dokumentiert sind. Auch konnte die Klägerin ihrer anspruchsvollen beruflichen Tätigkeit im Prüfungszeitraum ohne wesentliche Arbeitsunfähigkeitszeiten, bedingt durch psychische Erkrankungen, nachgehen. Die Konzentrationsstörungen haben somit im späteren Verlauf keine funktionellen Einschränkungen nach sich gezogen. Eine Ausschöpfung des GdB-Rahmens mit 20 für leichte psychische Störungen kommt nach alledem nicht in Betracht. Die von Dipl.-Med. J2 mit Befundbericht vom Januar 2018 mitgeteilte Verschlechterung der psychischen Symptomatik liegt nach Erlass des Widerspruchsbescheids und ist daher nicht zu berücksichtigen.

 

Ebenfalls mit einem GdB von 10 sind in diesem Funktionssystem die Auswirkungen der Polyneuropathie zu bewerten. Nach Teil B Nr. 3.11 VMG ergeben sich die Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund motorischer Ausfälle, sensibler Störungen oder Kombination von beiden. Bei der Klägerin sind Missempfindungen an den Händen und Füßen dokumentiert. Dies betrifft vor allem die Fingerspitzen, sodass der Klägerin Verrichtungen wie Nähen nicht möglich sind. Eine darüberhinausgehende Beeinträchtigung der Feinmotorik liegt nicht vor. Gegen mehr als geringe Beeinträchtigungen spricht zudem, dass eine neurologische Untersuchung der Klägerin bislang nicht stattgefunden hat.

 

Für das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche bleibt es aufgrund der beiden Einzel-GdB von 10 bei dem Gesamt-GdB von 10 für das gesamte Funktionssystem. Denn nach Teil A Nr. 3 ee VMG führen, da kein Ausnahmefall erkennbar ist, die weiteren Einzel-GdB von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB.

 

c)

 

Schließlich kann im Funktionssystem Rumpf für die geringen Einschränkungen der HWS unter Berücksichtigung der von Dr. L. angegebenen Bewegungsmaße ein GdB von 10 nach Teil B Nr. 18.9 VMG angenommen werden. Da weitergehende Einschränkungen (wie Blockierungen) weder in der HWS noch in der BWS dauerhaft vorliegen und auch keine neurologischen Defizite bestehen, kann kein höherer GdB angenommen werden. Weitere Einschränkungen auf orthopädischem Gebiet, die einen GdB bedingen, sind nicht dokumentiert. Dr. L. hat eine Schulterbeweglichkeit von 160 Grad in der Anteversion mitgeteilt. Dies rechtfertigt nach Teil B Nr. 18.13 VMG keinen GdB. Der Fersensporn ist mit Einlagen versorgt, ohne dass weitergehende Funktionseinschränkungen beschrieben wurden. Auch die Coxarthrose ist mit einem festgestellten Bewegungsmaß von 0/0/90 Grad nicht GdB-relevant (Teil B Nr. 18.14 VMG). Funktionseinschränkungen aufgrund des Ganglions des linken Handgelenks sind bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids nicht dokumentiert.

 

d)

 

Weitere Einzel-GdB sind nicht festzustellen. Zwar hat die Klägerin außerdem Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut, eine beginnende Trübung der Augenlinse, klimakterische Beschwerden, ein eingeschränktes Nagelwachstum und Stoffwechselveränderungen mitgeteilt. GdB-relevante damit einhergehende Funktionseinschränkungen sind diesbezüglich nicht dokumentiert.

 

Der Gesamt-GdB ist mit 30 festzustellen. Nach Teil A Nr. 3 ee VMG führen, da kein Ausnahmefall erkennbar ist, die weiteren Einzel-GdB von 10 für die Funktionssysteme Gehirn einschließlich Psyche und Rumpf nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB. Damit verbleibt es beim GdB von 30 für den beiderseitigen Verlust der Brust mit Wiederaufbau.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Revisionsgründe nach § 160 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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