S 9 R 163/09

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 9 R 163/09
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 05.03.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2009 verurteilt, dem Kläger Leistungen gemäß den Bescheiden vom 04.12.2008 zu gewähren.

2. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Erstattung von Kosten für eine Rehabilitationsmaßnahme.

Der 1965 geborene Kläger beantragte am 19.02.2008 bei der Beklagten die Gewährung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation für Abhängigkeitskranke. Er bat um die Übernahme von einem Teil der Kosten für eine zeitnahe Behandlung in einer der Z kliniken, da er eine neue Anstellung im Sommer 2008 in Aussicht habe. Mit Schreiben vom 25.02.2008 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass zur wesentlichen Besserung oder der Wiederherstellung seiner Erwerbsfähigkeit die Durchführung einer Entwöhnungsbehandlung im Sinne des § 26 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch i.V.m. § 15 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch erforderlich sei. Die Beklagte empfahl dem Kläger die Kontaktaufnahme mit seiner behandelnden Ärztin sowie einer Suchtkrankenberatungsstelle. Daraufhin teilte der Kläger der Beklagten mit, dass nach Auskunft der Caritas C-Stadt die Erstellung eines Sozialberichts mindestens bis Mitte April 2008 dauern würde. Er wiederholte die Bitte einer Teilkostenübernahme in einer der Z-kliniken. Dort könne am 24.03.2008 die Entgiftung und direkt im Anschluss die Therapie beginnen. Die Behandlung fand dann in der Zeit vom 24.03.2008 bis 18.04.2008 und 27.04.2008 bis 09.05.2008 statt. Mit Schreiben vom 27.06.2008 hat der Kläger einen Sozialbericht der Caritas C-Stadt sowie Rechnungsunterlagen bezüglich der Behandlung in der Z-klinik vorgelegt. Ferner hat er der Beklagten mitgeteilt, dass er wieder als Ingenieur in der Telekommunikationsbranche tätig sei. In einem internen Schreiben vom 12.11.2008 hat die Beklagte festgestellt, dass vorliegend dem Kläger Kosten in der Höhe erstattet werden können, wie sie bei der Durchführung der Entwöhnungsbehandlung in der Fachklinik X. in X-Stadt entstanden wären und zwar in einer Höhe von 2.938,28 EUR. Ausweislich des Teilkontospiegels vom 04.12.2008 wurden Arbeitsaufträge bezüglich der Bewilligung von Reha-Leistungen erteilt. In der Akte befinden sich insoweit Bescheide vom 04.12.2008, wonach für die Zeit vom 05.04.2008 bis 18.04.2008 bzw. 27.04.2008 bis 09.05.2008 die Kosten für die selbstbeschaffte Reha in der Z-klinik übernommen werden. Die Bescheide sind handschriftlich mit den Wörtern "nicht ab" gekennzeichnet.

Mit Schreiben vom 05.03.2009 hat die Beklagte dem Kläger mitgeteilt, dass die Beklagte sich bereit erkläre, sich an den Kosten der von dem Kläger in der Zeit vom 24.03.2008 bis 18.04.2008 und 27.04.2008 bis 09.05.2008 selbstfinanzierten Behandlung in Höhe von insgesamt 2.938,28 EUR zu beteiligen.

Mit Schreiben vom 23.03.2009 hat der Kläger der Beklagten daraufhin mitgeteilt, dass ihm mit Bescheiden vom 04.12.2008 die Übernahme der Behandlungskosten in der Z klinik zugesagt worden sei. Die begünstigen – inzwischen rechtskräftigen – Verwaltungsakte vom 04.12.2008 könnten nicht einfach durch ein formloses Schreiben wie dem vom 05.03.2008 wieder zurückgenommen werden. Nachfolgend hat der Kläger Kopien der ihm zugegangenen Bescheide vom 04.12.2008 an die Beklagte übersandt. Die Bescheide weisen am Ende jeder Seite den Zusatz "Duplikat für AIGR 5411" aus.

Mit Schreiben vom 19.05.2009 hat die Beklagte dem Kläger mitgeteilt, dass die übersandten Duplikate verwaltungsintern für die zuständige Arbeitsgruppe erstellt worden seien. Da die Originale auch nur verwaltungsintern erstellt und nicht bekannt gegeben worden seien, könnten auch die im Besitz des Klägers gelangten verwaltungsinternen Duplikate keine Wirksamkeit entfalten. Das Schreiben über die Kostenerstattung vom 05.03.2009 stelle jedoch einen Verwaltungsakt dar, auch wenn er nicht als "Bescheid" bezeichnet worden sei und auch keine Rechtsbehelfsbelehrung enthalte.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.06.2009 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 05.03.2009 zurück. In den Gründen heißt es, dass es sich bei den im Besitz des Klägers befindlichen Bescheiden vom 04.12.2008 um Duplikate handle, die intern von der Beklagten erstellt worden seien. Auf den mit Widerspruchserhebung vorgelegten Kopien der Bescheide vom 04.12.2008 sei eindeutig vermerkt, dass es sich um ein "Duplikat für die AIGR 5411" handle. Die Originale seien ebenfalls verwaltungsintern erstellt worden und befänden sich noch in der Akte. Gemäß § 39 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) erlange der Verwaltungsakt erst mit der Bekanntgabe gemäß § 37 SGB X seine Wirksamkeit und damit seine rechtliche Existenz. Voraussetzung einer ordentlichen Bekanntgabe gemäß § 37 SGB X sei, dass der Verwaltungsakt mit Wissen und Wollen der entscheidenden Verwaltung, d.h. nicht zufällig oder versehentlich, in den Wahrnehmungsbereich des Adressaten gelangt sei. Wenn die Behörde einem Betroffenen nur die Kopie eines Bescheides "zur Information" sende, handele es sich deshalb nicht um die willentliche Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes. Die verwaltungsinternen Duplikate vom 04.12.2008 würden somit keine Wirksamkeit entfalten. Der Bescheid vom 05.03.2009 über die Kostenbeteiligung in Höhe von 2.938,28 EUR entspreche den geltenden Bestimmungen und sei nicht zu beanstanden.

Am 02.07.2009 hat der Kläger Klage erhoben.

Zur Begründung hat der Kläger vorgetragen, dass die Rechtsauffassung der Beklagten unzutreffend sei, denn die Bescheide vom 04.12.2008 seien mit Bekanntgabewillen verschickt worden. Es werde bestritten, dass die Beklagte keinen Bekanntgabewillen gehabt habe. Werden derartige Bescheide verschickt, seien sie auch vom Bekanntgabewillen der Behörde getragen. Alles andere mache keinen Sinn ebenso wenig, wie es Sinn mache, überhaupt einen solchen Bescheid zu erstellen, wenn man ihn gar nicht bekannt machen möchte. Allein wegen der ordnungsgemäßen Erstellung der beiden Bescheide vom 04.12.2008 erscheine es ausgeschlossen, dass bei der Beklagten kein Bekanntgabewille vorgelegen habe. In jedem Fall sei die Beklagte für das Fehlen eines Bekanntgabewillens beweispflichtig. Nach Zahlung durch die Beklagte und Zahlung eines Teilbetrages durch die AOK in Höhe von 2.176,68 EUR verbleibe von den Gesamtkosten noch ein Betrag von 11.328,17 EUR, der Gegenstand der Klage sei.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 05.03.2009 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm unter entsprechender Änderung des Bescheides Leistungen gemäß den Bescheiden vom 04.12.2008 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält an ihren Bescheiden fest. Der Terminsvertreter der Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung am 01.09.2011 mitgeteilt, dass die Beklagte sich nicht erklären könne, warum und wann die Bescheidduplikate vom 04.12.2008 an den Kläger übersandt worden seien. Die Bescheide vom 04.12.2008 seien nur aus verwaltungsinternen Gründen erstellt worden.

Das Gericht hat den Kläger persönlich gehört. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift vom 01.09.2011 verwiesen.

Das Gericht hat die Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung am 01.09.2011 darauf hingewiesen, dass es sich bei den Schriftstücken vom 04.12.2008 um sogenannte Scheinverwaltungsakte handeln könnte, denen ggf. rechtliche Relevanz zukommen könnte.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger hat unter Abänderung des Bescheides vom 05.03.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2009 Anspruch auf Gewährung von Leistungen gemäß den Bescheiden vom 04.12.2008. Insoweit ist der angefochtene Bescheid vom 05.03.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2009 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Der Kläger hat entsprechend den Bescheiden vom 04.12.2008 Anspruch auf Übernahme der Kosten für die selbstbeschaffte Rehabilitationsmaßnahme in der Z-klinik für die Zeit vom 05.04.2008 bis 18.04.2008 und 27.04.2008 bis 09.05.2008. Bei den Bescheiden vom 04.12.2008 handelt es sich um Verwaltungsakte i.S.v. § 31 SGB X, die wirksam bleiben, solange und soweit sie nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt sind (vgl. § 39 Abs. 2 SGB X). Gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Ein Verwaltungsakt wird gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird (§ 39 Abs. 1 Satz 1 SBG X). Der Verwaltungsakt wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB X).

Im vorliegenden Fall ist streitig, ob eine wirksame Bekanntgabe der Verwaltungsakte vom 04.12.2008 erfolgt ist. Dies wird von der Beklagten bestritten, da die Bescheide wie auch die Duplikate der Bescheide vom 04.12.2008 ausschließlich für verwaltungsinterne Zwecke erstellt worden seien. Es sei keine Übersendung der Duplikate vom 04.12.2008 mit "Wissen und Wollen" der Beklagten erfolgt. Dies wird von dem Kläger bestritten. Die Beklagte war auf Anfrage in der mündlichen Verhandlung vom 01.09.2011 nicht in der Lage zu erklären, warum und wann die Bescheidduplikate vom 04.12.2008 an den Kläger übersandt worden sind. Es entspricht aber dem ersten Anschein, dass Bescheide mit Wissen und Wollen des Absenders übersandt werden. Sollte es atypisch so sein, dass ein Bekanntgabewille nicht vorgelegen hat, wäre dies von der Beklagten zu beweisen. Diesen Beweis hat die Beklagte zur Überzeugung der Kammer nicht erbracht. Die Kammer geht daher davon aus, dass die Übersendung der Bescheide vom 04.12.2008 mit Bekanntgabewille der Beklagten erfolgt ist. Dass sich auf den Bescheiden vom 04.12.2008 der Zusatz "Duplikat für AIGR 5411" befindet, ist rechtlich nicht von Bedeutung, da es sich bei den übersandten Bescheidkopien vom 04.12.2008 um vollständige Ablichtungen der Originalbescheide vom 04.12.2008 handelt. Entgegen den Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 02.06.2009 ist die Übersendung auch nicht "zur Information" erfolgt, sodass der Kläger nicht davon ausgehen musste, es lägen hier keine rechtswirksamen Bescheide vor.

Aber selbst wenn man davon ausgehen würde, es lägen mangels Bekanntgabewillen keine wirksamen Verwaltungsakte vor, würden ihnen als sogenannte Scheinverwaltungsakte rechtliche Relevanz zukommen. Die Bescheide vom 04.12.2008 sind aus rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) so zu behandeln, als seien wirksame Bewilligungsbescheide ergangen. Nach ihrem Rechtsschein stellen die Bescheide vom 04.12.2008 wirksame Verwaltungsakte dar, die im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens (vgl. 8 ff. SGB X) ergangen sind. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung am 01.09.2011 für die Kammer nachvollziehbar geschildert, dass er nach Zugang der Bescheide vom 04.12.2008 überzeugt war, dass die Beklagte die streitbefangenen Kosten vollständig übernimmt. Auf eine telefonische Nachfrage, wann mit dem Geldeingang zu rechnen sei, hat ein Mitarbeiter der Beklagten erklärt, dass der Vorgang in Bearbeitung sei. Hierdurch hat sich das Vertrauen des Klägers in den Rechtsbestand der Bescheide vom 04.12.2008 verfestigt. Die dadurch erlangte Rechtsposition des Klägers konnte nicht durch den Bescheid vom 05.03.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2009 beseitigt werden. Dies wäre ggf. nur durch ein förmliches Rücknahmeverfahren entsprechend den §§ 44 ff. SGB X möglich.

Nach alledem war der Klage stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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