S 4 R 363/11

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 4 R 363/11
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 497/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 R 275/16 B
Datum
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahren gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) um die ungekürzte Anerkennung der von der Klägerin in der Zeit vom 06.03.1968 bis 07.01.1993 in der ehemaligen UdSSR zurückgelegten Beitragszeiten.

Die 1949 in C-Stadt/Russland geborene Klägerin kam am 17.02.1993 als anerkannte Spätaussiedlerin im Sinne von § 4 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz – BVFG) nach Deutschland. Den Eintragungen in ihrem russischen Arbeitsbuch zufolge war die Klägerin in ihrem Herkunftsland u. a. wie folgt beschäftigt:

06.03.1968 bis 29.10.1969 Zuschneiderin in einer Schuhfabrik 29.12.1969 bis 10.01.1972 Zuschneiderin in einer Schuhfabrik 15.11.1972 bis 07.01.1993 Zuschneiderin in einer Schuhfabrik

Am 22.12.1998 erließ die Beklagte nach § 149 Abs. 5 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) einen (bestandskräftigen) Bescheid, durch den die von der Klägerin bis zum 31.12.1991 in ihrem Herkunftsland zurückgelegten Beitragszeiten nach Maßgabe des Fremdrentengesetzes (FRG) als lediglich glaubhaft gemachte Beitragszeiten mit Kürzung auf fünf Sechstel in die bundesdeutsche gesetzliche Rentenversicherung übernommen wurden. Die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit als Zuschneiderin in einer Schuhfabrik wurde in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI eingestuft. Am 10.02.2005 erließ die Beklagte nach § 149 Abs. 5 SGB VI einen (bestandskräftigen) Bescheid, durch die die von der Klägerin bis zum 07.01.1993 in ihrem Herkunftsland zurückgelegten Beitragszeiten nach Maßgabe des Fremdrentengesetzes (FRG) als lediglich glaubhaft gemachte Beitragszeiten mit Kürzung auf fünf Sechstel in die bundesdeutsche gesetzliche Rentenversicherung übernommen wurden. Die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit als Zuschneiderin in einer Schuhfabrik wurde in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum Sechsten Buch Sozialgesetzbuch – gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) eingestuft.

Unter Vorlage einer am 17.01.2011 ausgestellten Archivbescheinigung stellte die Klägerin einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X, mit dem sie die ungekürzte Anerkennung der von ihr in dem streitgegenständlichen Zeitraum in ihrem Herkunftsland zurückgelegten Beitragszeiten begehrte.

Durch Bescheid vom 21.03.2011 lehnte die Beklagte diesen Überprüfungsantrag ab. Die vorgelegte Archivbescheinigung stelle nur ein Mittel der Glaubhaftmachung dar. Hiergegen erhob die Klägerin am 12.04.2011 Widerspruch und begehrte zudem die Einstufung ihrer Tätigkeit als Zuschneiderin in einer Schuhfabrik in die Qualifikationsgruppe 4 nach der Anlage 13 zum SGB VI. Durch Widerspruchsbescheid vom 10.08.2011 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, die Tätigkeit der Klägerin als Zuschneiderin in einer Schuhfabrik sei bereits in den Bescheiden vom 22.12.198 und 10.02.2005 in die Qualifikationsgruppe 4 nach der Anlage 13 zum SGB VI zugeordnet worden. Der Widerspruch sei insoweit bereits unzulässig. Im Übrigen seien die in ihrem Herkunftsland zurückgelegten Beschäftigungszeiten von der Klägerin nur glaubhaft gemacht worden. Die vorgelegten Bescheinigungen (Arbeitsbuch, Archivbescheinigung) könnten nicht den Nachweis von Beitragszeiten erbringen.

Am 02.09.2011 hat die Klägerin unter Vertiefung und Ergänzung ihres Vorbringens in dem Verwaltungsverfahren bei dem Sozialgericht Wiesbaden Klage erhoben.

Er beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.03.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.08.2011 zu verurteilen, unter Abänderung der Bescheide vom 22.12.1998 und 10.02.2005 die in der ehemaligen UdSSR in der Zeit vom 06.03.1968 bis 07.01.1993 zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten der Klägerin als nachgewiesene Zeiten zu sechs Sechsteln vorzumerken.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie nimmt auf ihre Ausführungen in dem Widerspruchsbescheid vom 10.08.2011 Bezug.

Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand dieser Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid vom 21.03.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.08.2011 nicht beschwert, weil diese Entscheidung rechtmäßig ist. Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte ihre in der Sache bindend gewordenen Bescheide vom 22.12.1998 und 10.02.2005 abändert und die von ihr in der ehemaligen UdSSR in der Zeit vom 06.03.1968 bis 07.01.1993 zurückgelegten Beitragszeiten ungekürzt zu sechs Sechsteln berücksichtigt.

Nach § 44 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Nach § 44 Abs. 2 SGB X ist im Übrigen ein rechtswidriger und nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) durchbricht die Regelung des § 44 SGB X nicht nur die Bindungswirkung eines Bescheides, sondern auch die Rechtskraft einer diesen bestätigenden gerichtlichen Entscheidung (vgl. BSG, Urteil vom 07.12.1989 – 4 RA 110/88 –). Ergibt sich im Rahmen eines Antrags auf Erlass eines Zugunstenbescheides aber nichts, was für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung sprechen könnte, darf sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung berufen. Werden zwar neue Tatsachen oder Erkenntnisse vorgetragen und neue Beweismittel benannt, ergibt aber die Prüfung, dass die vorgebrachten Gesichtspunkte nicht tatsächlich vorliegen oder für die frühere Entscheidung nicht erheblich waren, darf sich die Behörde ebenfalls auf die Bindungswirkung stützen. Nur wenn die Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass ursprünglich nicht beachtete Tatsachen oder Erkenntnisse vorliegen, die für die Entscheidung wesentlich sind, ist ohne Rücksicht auf die Bindungswirkung erneut zu entscheiden. Auch wenn die neue Entscheidung ebenso lautet wie die bindend gewordene Entscheidung, ist in einem solchen Fall der Streitstoff in vollem Umfang erneut zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 03.02.1988 – 9/9a RV 18/86 –).

Keine der beiden in § 44 Abs. 2 in Verbindung mit § 44 Abs. 1 SGB X genannten Alternativen ist hier verwirklicht. Die Beklagte hat in ihren Bescheiden vom 22.12.1998 und 10.02.2005 weder das Recht unrichtig angewandt, noch ist sie von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erwiesen hat.

Die Bescheide vom 22.12.1998 und 10.02.2005 verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. In diesen Bescheiden wurden die von der Klägerin in der streitigen Zeit vom 06.03.1968 bis 07.01.1993 in der ehemaligen UdSSR zurückgelegten Beitragszeiten zu Recht zu fünf Sechsteln berücksichtigt. Denn es steht zur Überzeugung der Kammer lediglich fest, dass die Klägerin in der ehemaligen UdSSR insoweit in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden hat und dass sie während dieser Zeiten grundsätzlich der Beitragspflicht zur Rentenversicherung unterlag. Echte Beitragszeiten im Sinne des § 15 FRG können jedoch nur als bewiesen angesehen werden, soweit feststeht, dass für einen bestimmten Zeitraum auch tatsächlich Beiträge entrichtet worden sind.

Nach § 15 Abs. 1 in Verbindung mit § 1 Buchstabe a) FRG werden bei einem anerkannten Vertriebenen – wie der Klägerin – die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegten Beitragszeiten so behandelt, als ob es sich um inländische Beitragszeiten handeln würde. Für die Feststellung derartiger Beitragszeiten genügt es gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 FRG, dass sie glaubhaft gemacht werden. Während der vollständige Beweis einer Beitragszeit deren ungeschmälerte Anrechnung zur Folge hat, sieht das Fremdrentenrecht bei lediglich glaubhaft gemachten Beitragszeiten jedoch seit jeher nur eine eingeschränkte rentenrechtliche Berücksichtigung vor. Nach § 22 Abs. 3 FRG findet bei lediglich glaubhaft gemachten Beitrags- oder Beschäftigungszeiten eine wertmäßige Kürzung der zu ermittelnden Entgeltpunkte um ein Sechstel statt. Die Kürzung auf fünf Sechstel beruht dabei auf der durch statistische Untersuchungen gewonnenen Erfahrung, dass auch die durchschnittliche Beitragsdichte im Bundesgebiet diesem Umfang entspricht (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 19 Abs. 2 FRG in BT-Drucks. 3/1109; BSG SozR 5050 § 15 Nrn. 4 und 16 m.w.N.). Um eine Besserstellung des fremdrentenberechtigten Personenkreises gegenüber den in der Bundesrepublik Deutschland rentenversicherungspflichtigen Arbeitnehmern zu vermeiden, muss eine höhere Beitragsdichte bezüglich etwaiger Fremdrentenzeiten deshalb im Einzelfall nachgewiesen werden.

Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 FRG ist eine Tatsache glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Für die Glaubhaftmachung ist es demgemäß ausreichend, wenn bei Würdigung aller Gesamtumstände die gute Möglichkeit besteht, dass sich der Vorgang so, wie es behauptet wird, zugetragen hat, und wenn für das Vorliegen dieser Möglichkeit trotz verbleibender begründeter Zweifel letztlich mehr spricht als dagegen. Der vollständige Beweis (Nachweis) ist demgegenüber regelmäßig erst dann geführt, wenn für das Vorliegen der behaupteten rechtserheblichen Tatsachen ein derart hoher, an Gewissheit grenzender Grad von Wahrscheinlichkeit spricht, dass sämtliche begründeten Zweifel demgegenüber aus der Sicht eines vernünftigen, die Lebensverhältnisse klar überschauenden Menschen vollständig zu schweigen haben (vgl. BSGE 6, 144). Dies setzt voraus, dass konkrete und glaubwürdige Angaben über den Umfang der Beschäftigungszeiten und die dazwischen liegenden Arbeitsunterbrechungen vorhanden sind und die Arbeitsunterbrechungen nicht 1/6 erreichen. Eine Beitragszeit im Sinne von § 15 FRG setzt eine tatsächliche Beitragsentrichtung voraus, wobei jedes irgendwie geartete Beitragsaufkommen genügt, das sich auf die betreffende Zeit bezieht. Nicht ausreichend ist, dass Anfang und Ende des Zeitraumes einer beitragspflichtigen Beschäftigung feststehen, sondern darüber hinaus dürfen keine Ausfalltatbestände wie krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit oder andere Arbeitsunterbrechungen, z. B. durch berufliche oder politische Schulungen eingetreten sein. Maßgebend für diese Prüfung ist nicht das Recht des Herkunftslandes, sondern das Bundesrecht und die darin getroffenen Definitionen (vgl. BSG, Urteil vom 24.07.1980 – 5 RJ 38/79 –). Dies schließt eine allgemeine und unbesehene Übernahme im russischen Arbeitsbuch oder in russischen Arbeitsbescheinigungen zur russischen Sozialversicherung bestätigter Beitragszeiten in die bundesdeutsche Rentenversicherung aus und führt zu einer Gleichstellung mit im Inland tätig gewesenen Versicherten.

Die Kammer schließt sich der ständigen Rechtsprechung des Hessischen Landessozialgerichts (Hess. LSG) an, wonach ein russisches Arbeitsbuch und russische Arbeitsbescheinigungen nicht den erforderlichen Nachweis erbringen, dass während der streitigen Zeiten keine relevanten Unterbrechungen vorgelegen haben (vgl. Hess. LSG, Urteil vom 11.11.2003 – L 2 RJ 25/03 –; Hess. LSG, Urteil vom 17.07.2009 – L 5 R 209/08 –). Das sowjetische Arbeitsbuch enthält zu den einzelnen Beschäftigungsverhältnissen nur Rahmenangaben, aber keine Aussagen über (krankheitsbedingte) Unterbrechungen der einzelnen Arbeitsverhältnisse (vgl. BSG, Urteil vom 21.04.1982 – 4 RJ 33/81 –). Eine Beweisregel, dass bei nachgewiesenem Beschäftigungsverhältnis auch die Beitragsentrichtung als nachgewiesen zu gelten habe, lässt sich nicht aufstellen (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.1976 – 11a RA 59/85 –). In der ehemaligen Sowjetunion wurden vielmehr in die allgemeine Beschäftigungsdauer neben der sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit u. a. der Militärdienst und Zeiten, in denen ein Arbeitnehmer krankgeschrieben war, eingerechnet (vgl. dazu Bilinsky, Das Sozial- und Versorgungsrecht in der Sowjetunion, Jahrbuch für Ostrecht Band XIII. 1982 S. 106). Sie mussten daher auch im Arbeitsbuch nicht vermerkt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
Rechtskraft
Aus
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