S 2 SB 361/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Würzburg (FSB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
2
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 SB 361/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
I. Der Bescheid vom 02.10.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2004 wird abgeändert.
II. Der Beklagte wird verurteilt, beim Kläger einen Gesamt-GdB von 20 festzustellen.
III. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
IV. Der Beklagte trägt die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen des Klägers für das Klageverfahren zur Hälfte.

Tatbestand:

Streitig ist, ob der Beklagte verpflichtet ist, bei dem Kläger einen höheren Gesamt-Grad der Behinderung (Gesamt-GdB) als 20 festzustellen.

Bei dem 1963 geborenen Kläger hatte das Amt für Versorgung und Familienförderung W. (Versorgungsamt W.) auf den Antrag vom 08.08.2003 es mit Bescheid vom 02.10.2003 abgelehnt, wegen der allergischen Diathese (GdB von 10) einen GdB festzustellen. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 05.04.2004 durch das Bayer. Landesamt für Versorgung und Familienförderung (Landesversorgungsamt) zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger am 11.05.2004 Klage zum Sozialgericht Würzburg erhoben. Das Klagebegehren hat sich auf eine Formaldehydallergie und eine multiple-chemische Sensibilität (MCS) gestützt und die Feststellung eines GdB beantragt.

Die Kammer hat den Arzt für innere Medizin, Arbeitsmedizin, Umweltmedizin Dr. M. S. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Dieser hat am 03.03.2006 eine Somatisierungsstörung (Einzel-GdB von 30) und eine allergische Diathese (Einzel-GdB von 10) festgestellt und einen Gesamt-GdB von 30 ab Antragstellung vorgeschlagen.

Der Beklagte hat nach Stellungnahme der Internistin und Ärztin für Sozialmedizin Medizinaldirektorin Dr. W. vom 16.03.2006 am 20.03.2006 ein Anerkenntnis dahingehend abgegeben, dass er sich verpflichtet, für eine seelische Störung mit Somatisierung und eine allergischen Diathese einen GdB von 20 festzustellen.

Daraufhin hat der Kläger beantragt, den Beklagten im Sinne seines Anerkenntnisses vom 20.03.2006 im Rahmen eines Teilanerkenntnisurteils zu verurteilen. Im Übrigen hat er die Klage aufrecht erhalten. Auf Anfrage des Vorsitzenden hat er einen GdB von mindestens 30 beantragt.

Am 12.04.2006 hat die Kammer die Ärztin für Psychiatrie und öffentliches Gesundheitswesen Medizinaldirektorin a. D. Dr. B. beauftragt, ein nervenärztliches Gutachten nach ambulanter Untersuchung des Klägers zu erstatten. Da der Kläger sich geweigert hat, sich von Frau Dr. B. untersuchen zu lassen und lediglich bereit war, als Gutachter den Nervenarzt Dr. S., L. zu akzeptieren, hat die Kammer die Sachverständige Dr. B. beauftragt, das Gutachten nach Aktenlage zu erstatten. In ihrem Gutachten vom 11.12.2006 gelangt die Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die beim Kläger vorliegende Somatisierungsstörung mit einem Einzel-GdB von 20 und die allergische Diathese mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten ist. Entsprechend den Vorgaben in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit, Ausgabe 2004, hat sie einen Gesamt-GdB von 20 vorgeschlagen. Da bei der Untersuchung durch Dr. S. keine erheblichen neurotischen Wesensmerkmale gefunden worden seien, könne eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit nicht angenommen werden. Es handle sich um eine leichtere psychische Störung bei vorhandenem ausgeprägten Leidensdruck durch schmerzhafte Missempfindungen mit Gefühl des Brennens am gesamten Körper. Hierfür sei ein GdB von 20 angebracht. Auf Anfrage des Klägers hat die Sachverständige Dr. B. mitgeteilt, dass sie nicht ausschließen könne, dass nach Untersuchung der GdB erhöht werden könne.

Da der Kläger nicht bereit gewesen ist, sich durch die Nervenärztin Dr. B. untersuchen zu lassen, hat der Vorsitzende auch das nach § 109 SGG durch Dr. S. beantragte Gutachten lediglich nach Aktenlage genehmigt. Damit hat sich der Kläger nicht einverstanden erklärt.

Der Kläger hat den Vorsitzenden der Kammer wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, weil der Vorsitzende dem Gutachten des Dr. S. nicht gefolgt sei, sondern erneut Beweis durch Einholung eines gerichtlichen Gutachtens unter Auswechslung des gerichtlichen Gutachters über die gleichen Beweisfragen für richtig gehalten habe. Damit habe das Gericht in grober Weise seine Pflichten verletzt, sich gegenüber den Parteien neutral zu verhalten. Das Bayer. Landessozialgericht hat am 08.09.2006 (L 5 AR 117/06 SB) durch Beschluss festgestellt, dass das Ablehnungsgesuch nicht begründet ist. Die Verfahrensweise des Vorsitzenden sei unter keinem rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zu beanstanden. Grundsätzlich erforsche das Gericht den Sachverhalt unter Heranziehung der Beteiligten von Amts wegen, wobei es an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden sei. Sehe das Gericht im Rahmen der freien Beweiswürdigung trotz Vorliegens eines Gutachtens weiteren Ermittlungsbedarf, sei es berechtigt und verpflichtet, weitere Gutachten einzuholen. Dies umsomehr, wenn eine Diagnose abklärungsbedürftig erscheine, die nicht in das Fachgebiet des zunächst bestellten Sachverständigen falle.

Der Vorsitzende hat den Beteiligten mit Schreiben vom 16.05.2007 mitgeteilt, dass nunmehr beabsichtigt sei, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, da der Kläger sich zu einer Untersuchung durch die Sachverständige Dr. B. nicht bereit erklärt habe und er auch keine neuen medizinischen Befunde auf nervenärztlichem Gebiet (bzw. des behandelnden Nervenarztes) mitgeteilt habe. Eine Frist zur eventuellen Stellungnahme hat die Kammer bis 08.06.2007 gesetzt.

Der Kläger stellt den Antrag, unter Abänderung des Bescheides vom 02.10.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2004 und des Anerkenntnisses vom 20.03.2006 den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von mindestens 30 festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen, soweit ein höherer GdB als 20 be gehrt wird.

Die Kammer hat zum Verfahren beigezogen: Die Schwerbehindertenakte des Beklagten und einen Bund ärztlicher Unterlagen des Klägers.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf den Inhalt der Schwerbehindertenakte und der Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist möglich, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind hierzu gehört worden.

Die form- und fristgerecht eingelegte Klage ist zulässig. Sie ist auch insoweit begründet, als dem Kläger ein GdB von 20 zusteht. Dies hat der Beklagte in seinem Anerkenntnis vom 20.03.2006 angeboten. Die Feststellung eines höheren GdB hat der Beklagte zu Recht abgelehnt. Die Einschätzung des GdB von 20 entspricht den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht, Ausgabe 2004 (AHP).

Die Feststellung von Behinderungen und des GdB richtet sich seit dem 01.07.2001 nach den §§ 2 und 69 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX). Der Grad einer Behinderung wird nach 10er-Graden abgestuft und entsprechend seinen Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft festgestellt. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen in seiner Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 69 Abs. 1 und 3 SGB IX). Dabei ist zu beachten, dass die Auswirkungen von einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen einander verstärken, sich überschneiden, aber auch gänzlich voneinander unabhängig sein können. Gleichgültig ist, auf welchen Ursachen die Auswirkungen zurückzuführen sind. Entscheidend ist, dass sie Krankheitswert haben. Dann sind sie als Behinderungen zu berücksichtigen. Der GdB ist unter Heranziehung der AHP festzulegen. Obwohl diese weder auf dem Gesetz noch einer Verordnung oder Verwaltungsvorschrift beruhen, haben sie nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts normähnliche Auswirkungen und sind im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen zu beachten (BSG vom 11.10.1994, SozR 3-3870, § 3 Nr. 5).

Zur Beurteilung der vom Beklagten festgestellten allergischen Diathese hat die Kammer den Arzt für innere Medizin, Arbeitsmedizin/Umweltmedizin Dr. S. am 03.03.2006 gehört. Dieser hat in seinem Gutachten das Schwergewicht der Erkrankungen in einer Somatisierungsstörung auf nervenärztlichem Gebiet gesehen und diese mit einem GdB von 30 bewertet. Diese Bewertung ist von der Medizinaldirektorin Dr. W. nachvollziehbar angegriffen worden, weil nach den erhobenen Befunden sich keine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit gezeigt hat und somit der GdB von 30 für diese Behinderung auch nach der Schilderung im Gutachten des Dr. S. zweifelhaft war (vgl. AHP 2005, 26.3, S. 48). Deshalb hat der Vorsitzende die Nervenärztin Dr. B. beauftragt, den Gesamt-GdB unter Berücksichtigung aller Behinderungen von ihrem Fachgebiet aus zu bewerten. Da der Kläger den Ladungen zur Untersuchung nicht Folge leistete, ist das Gutachten nach Aktenlage erstellt worden. Frau Dr. B. hat in ihrem Gutachten nachvollziehbar ausgeführt, dass sich aus den vorliegenden Befunden eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit nicht finden lässt und deshalb lediglich eine leichtere psychische Störung mit einem GdB von 20 vorliegt.

Der Vorsitzende hat den Kläger darauf hingewiesen, dass das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen nach § 103 SGG erforscht. Dabei braucht das Gericht nicht etwa alle möglichen Beweismittel auszuschöpfen. Das Gericht entscheidet allein nach Zweckmäßigkeit. Beweisanträge der Beteiligten sind grundsätzlich nur Anregungen. Die Beteiligten sind zur Mitwirkung bei der Ermittlung verpflichtet (§ 103 Satz 1, Halbsatz 2 SGG). Sie trifft eine Mitwirkungslast bzw. Mitwirkungspflicht. Die Beteiligten werden zwar nicht unmittelbar zur Mitwirkung gezwungen, sie haben jedoch die Folgen mangelnder Mitwirkung zu tragen, wenn sie dem Gericht nicht bei der Ermittlung der anspruchsbegründenden Tatsachen bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung helfen (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage, Rdnr. 13 zu § 103). Da das Gericht alle Ermittlungen angestellt hat, die es angesichts der mangelnden Mitwirkung des Klägers anstellen konnte und musste, konnte die Kammer insbesondere bei der Beweiswürdigung die Verletzung der Mitwirkungslast berücksichtigen und Schlüsse daraus ziehen, dass der Kläger sich grundlos geweigert hat, sich von der Sachverständigen Dr. B. untersuchen zu lassen (vgl. Meyer-Ladewig a.a.O., Rdnr. 18).

Die Kammer war deshalb nicht verpflichtet, weitere Nachforschungen anzustellen bzw. weitere Beweise zu erheben, insbesondere auch Dr. S. als weiteren Gutachter zu hören. § 109 SGG soll einem Beteiligten die Möglichkeit geben, nach Abschluss der von Amts wegen vorgenommenen und für notwendig gehaltenen Ermittlungen weitere Ermittlungen auf seine Kosten zu beantragen. § 109 SGG kann deshalb immer nur im Zusammenhang mit der Amtsermittlungspflicht des § 103 SGG gesehen werden.

Zur Feststellung des begehrten GdB von mindestens 30 trägt der Kläger die objektive Beweislast. Da der Kläger wegen mangelnder Mitwirkung der Kammer nicht die Möglichkeit gegeben hat, eine weitere Untersuchung durch die Sachverständige Dr. B. durchzuführen, ist lediglich ein Gesamt-GdB von 20 nachgewiesen. Ein höherer GdB steht dem Kläger deshalb nicht zu.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Da der Kläger unter Berücksichtigung seines ursprünglichen Klagebegehrens teilweise obsiegt hat, hält es die Kammer für angemessen, dem Beklagten die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen des Klägers für das Klageverfahren zur Hälfte aufzuerlegen.
Rechtskraft
Aus
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