Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SO 3989/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Auch bei einer unter Betreuung stehenden Person, bei der sich die Betreuung auf Aufenthaltsbestimmung und Wohnungsangelegenheiten erstreckt, setzt der gewöhnliche Aufenthalt im sozialrechtlichen Sinne den tatsächlichen Aufenthalt voraus. Beendet der Betreute nicht nur vorübergehend den tatsächlichen Aufenthalt an einem Ort, kann diese Tatbestandsvoraussetzung nicht durch den entgegenstehenden Willen des Betreuers ersetzt werden.
1. Der Bescheid der Beklagten vom 03.04.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 21.06.2007 wird abgeändert. Die Aufhebung der Leistungsbewilligung wird auf die Zeit vom 03.04.2007 an beschränkt. 2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 3. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Bescheid, mit dem die Beklagte die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen aufgehoben hat.
Der Kläger, geboren am XXX, ist durch eine erhebliche Intelligenzminderung geistig behindert und steht insbesondere wegen einer dadurch bedingten Verwahrlosungstendenz unter Betreuung. Seit 21.11.2005 ist der gegenwärtige Betreuer bestellt, sein Aufgabenkreis umfasst unter anderem die Aufenthaltsbestimmung und Wohnungsangelegenheiten. Für Willenserklärungen betreffend Vermögensangelegenheiten besteht ein Einwilligungsvorbehalt.
Der Kläger war seit 2.2.2004 unter der Anschrift XXXstr. X in F gemeldet und bezog von der Beklagten mit Unterbrechungen Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung. Diese waren ihm hier maßgeblichen Zeitraum zuletzt mit Bescheid vom 1.8.2006 nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XII) bis auf weiteres bewilligt worden.
Im März 2007 äußerte der Kläger gegenüber der Beklagten, er sei am 5.3.2007 nach FO im beigeladenen Landkreis umgezogen. Eine Anschrift oder einen Vermieter gab er nicht an. Unter dem 12.4.2007 bestätigte das Einwohnermeldeamt F auf Anfrage der Beklagten, dass sich der Kläger zum 5.3.2000 nach FO, YYYStr. Y, abgemeldet habe. Dabei handelte es sich um die Anschrift der Mutter des Klägers. Bei einem von der Beklagten veranlassten Hausbesuch am 24.4.2007 in der XXXstr. X wurden weder der Kläger angetroffen noch ein mit seinem Namen beschriftetes Tür- oder Klingelschild oder ein solcher Briefkasten vorgefunden.
Mit Bescheid vom 3.4.2007 hob die Beklagte unter Berufung auf § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) die Leistungen der Grundsicherung mit Wirkung ab dem 5.3.2007 auf. Sie begründete dies damit, dass sie wegen des Umzugs des Klägers für ihn nicht mehr örtlich zuständig sei. Dagegen erhob der Betreuer des Klägers mit Schreiben vom 10.4.2007 Widerspruch. Er legte eine Meldebestätigung des Einwohnermeldeamts F vom 4.4.2007 vor, wonach der Kläger weiterhin unter der dortigen Anschrift gemeldet sei. Da ihm die Aufenthaltsbestimmung und Wohnungsangelegenheiten oblägen, könne der Kläger sich ohne seine Zustimmung nicht rechtswirksam abmelden. Diese Zustimmung habe er nicht erteilt und werde er nicht erteilen.
Auf weitere Anfrage der Beklagten erklärte das Einwohnermeldeamt, die Abmeldung zum 5.3.2007 sei nach einer entsprechenden Mitteilung des Einwohnermeldeamts FO vorgenommen worden. Der Betreuer des Klägers habe am 4.4.2007 veranlasst, dass dies rückgängig gemacht werde. Nachdem das Einwohnermeldeamt FO die Abmeldung bestätigt habe, sei der Kläger am 12.4.2007 wieder zum 5.3.2007 abgemeldet worden. Danach wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21.6.2007 den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, maßgeblich für die örtliche Zuständigkeit sei der gewöhnliche Aufenthaltsort des Leistungsberechtigten (§ 98 Abs. 1 Satz 2 SGB XII). Der gewöhnliche Aufenthalt des Klägers liege jedenfalls nicht mehr in F, denn dies setze voraus, dass er sich an diesem Ort unter Umständen tatsächlich aufhalte, die erkennen ließen, dass er an diesem Ort nicht nur vorübergehend verweile (§ 30 Abs. 3 Satz 2 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I)).
Am 23.7.2007 erhob der Betreuer des Klägers Klage zum Sozialgericht Freiburg.
Am 25.7.2007 gab der Vermieter der Wohnung XXXstr. X, F, auf telefonische Anfrage der Beklagten an, der Kläger sei seit Monaten nicht mehr in der Wohnung gewesen. Er habe sie inzwischen anderweitig vermietet. Einen vom Betreuer gestellten neuen Antrag des Klägers auf Grundsicherungsleistungen lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22.8.2007 mangels örtlicher Zuständigkeit ab und bestätigte diese Entscheidung mit Widerspruchsbescheid vom 20.11.2007. Diese Entscheidung wurde bindend. Der Beigeladene lehnte einen auf Anregung des Gerichts bei ihr gestellten Antrag auf Grundsicherungsleistungen vom 7.9.2007 mit ebenfalls bindend gewordenen Bescheid vom 13.9.2007 ab, da er die Beklagte für zuständig hielt. Der Beigeladene ging davon aus, dass sich der Kläger lediglich besuchsweise in seinem Zuständigkeitsbereich aufhalte. Sowohl bei der Antragstellung beim Beigeladenen als auch anlässlich eines weiteren Antrags auf Grundsicherungsleistungen bei der Beklagten am 26.10.2007 gab der Betreuer des Klägers an, er sei derzeit ohne direkten Kontakt zum Kläger, stehe aber in Verbindung mit dessen Mutter. Der Kläger wohne nach deren Angaben gelegentlich bei ihr und sei ansonsten unterwegs (bei Landwirten, Schaustellern u. ä.), wo er mit Gelegenheitsjobs zu seinem Lebensunterhalt beitrage (den er im Übrigen mit Kindergeld bestreite). Anlässlich einer einen früheren Leistungszeitraum betreffenden öffentlichen Sitzung vor der 12. Kammer des Sozialgerichts Freiburg am 26.11.2008 (Az.: S 12 SO 3819/06) gab der Betreuer an, der Kläger sei von seiner Mutter "rausgeschmissen" worden und anschließend ins Obdachlosenheim in F gezogen. Die Beklagte gewährt dem Kläger seit 4.9.2008 wieder Leistungen.
Der Bevollmächtigte des Klägers trägt vor, der Kläger sei wegen seiner Behinderung nicht in der Lage, sachgerechte Entscheidungen zu treffen und deren Auswirkungen zu erfassen. Eine sachgerechte Betreuung sei nicht möglich, wenn der Kläger, der sich in F aufzuhalten habe, die Entscheidung des Betreuers durch sein Verhalten unterlaufen könne. Zum tatsächlichen Aufenthalt des Klägers bis zur Rückkehr nach F im September 2008 befragt, erklärte der Betreuer des Klägers in der Sitzung vom 9.2.2010, nach seiner Kenntnis sei der Kläger zeitweise mit Schaustellern unterwegs gewesen und habe bei Bauern gearbeitet. Nach dem Ende der Saison sei er mangels eigener Wohnung zu seiner Mutter gezogen, wo es aber nur begrenzte Zeit gut gegangen sei. Deswegen sei der Kläger anschließend wieder nach F gegangen.
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 3.4.2007 in der Fassung des Widerspruchbescheids vom 21.6.2007 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Der Beigeladene
schließt sich dem Antrag des klägerischen Bevollmächtigten an.
Er weist u. a. auf ein Urteil des OVG Mecklenburg-Vorpommern vom 28.8.2007 hin (Az.: 1 L 300/05, veröff. in (juris)).
Die den Kläger betreffende Verwaltungsakte der Beklagten lag vor. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Verfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf diese Verwaltungsakte sowie die Akten des Gerichts, Az. S 9 SO 3989/07 und S 12 SO 3819/06, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben. Sie ist auch im Übrigen zulässig und als Anfechtungsklage gem. § 54 Abs. 1 SGG statthaft. Sie ist aber nur teilweise begründet.
Gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - wie hier die Bewilligung der Grundsicherungsleistungen - aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. In diesem Sinne wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sie rechtserheblich ist. Vorausgesetzt wird also eine Änderung, die dazu führt, dass die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den ergangenen Verwaltungsakt (so) nicht hätte erlassen dürfen (Steinwedel, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 63. EL 2009, § 48 SGB X, Rnr. 13).
Eine derartige Änderung ist hier dadurch eingetreten, dass der Kläger am 5.3.2007 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Beklagten aufgegeben hat und diese ihm daher von diesem Zeitpunkt an keine Grundsicherungsleistungen mehr hätte gewähren dürfen. Denn gem. § 98 Abs. 1 Satz 2 SGB XII ist für Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich der gewöhnliche Aufenthaltsort des Leistungsberechtigten liegt.
Den gewöhnlichen Aufenthalt definiert § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I als den Ort, an dem sich der Betreffende unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort nicht nur vorübergehend verweilt. Maßgeblich sind dabei in bewusster Abkehr vom zivilrechtlichen Wohnsitzbegriff (Schlegel, in: jurisPK-SGB I, 1. A. 2005, § 30, Rnr. 39) die tatsächlichen Umstände. Der tatsächliche Aufenthalt ist notwendige Bedingung für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts (BVerwG-Urt. v. 26.9.2002, Az. 5 C 46/01, 5 B 37/01, (juris)). Hinzutreten müssen objektive Umstände, die auf einen zukunftsoffenen Verbleib an diesem Ort schließen lassen (BVerwG und Schlegel, a. a. O.). Daraus folgt, dass bei fehlendem tatsächlichen Aufenthalt ein gewöhnlicher Aufenthalt ausgeschlossen ist und jener auch bei Personen mit Willensmängeln nicht durch den bloßen Willen rechtlich zur Bestimmung des Aufenthalts berufener Personen ersetzt werden kann (so für das Verhältnis von Kindern zum personensorgeberechtigten Elternteil BVerwG und Schlegel, a. a. O.; ebenso Seewald, in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 63. EL 2009, § 30 SGB I, Rnr. 25). Der physische Aufenthalt am Ort des begründenden gewöhnlichen Aufenthalts ist somit als zwingende Voraussetzung unabhängig von allen weiteren Indizien und dem Willen festzustellen, an einem bestimmten Ort ein gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen, (BVerwG a. a. O.).
Hier hat sich der Kläger nach dem 5.3.2007 bis zu seiner Rückkehr im September 2008 tatsächlich nicht mehr im Zuständigkeitsbereich der Beklagten aufgehalten. Dies folgt nach Überzeugung der Kammer zweifelsfrei aus seiner eigenen Erklärung, an diesem Tag nach FO umgezogen zu sein, der aktenkundigen Aussage seines Vermieters vom 25.7.2007, der Kläger sei seit Monaten nicht mehr in der F Wohnung gewesen, den dort am 24.4.2007 vorgefundenen Verhältnissen, die auf eine Wohnungsaufgabe schließen lassen (Fehlen von Namensschild und Briefkasten) sowie der Erklärung seines Betreuers, nach seinen Informationen (vermittelt durch die Mutter des Klägers) habe sich dieser zunächst bei Schaustellern und Bauern an verschiedenen Orten, u. a. in Bayern, und später in FO aufgehalten. Es fehlte daher an dem für die Aufrechterhaltung eines gewöhnlichen Aufenthalts erforderlichen tatsächlichen Aufenthalt des Klägers in F, der auch nicht durch den der Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts entgegenstehenden Willen seines Betreuers ersetzt werden kann.
Dem steht entgegen der Auffassung des Beigeladenen die Rechtsprechung des OVG Mecklenburg-Vorpommern nicht entgegen, wonach bei der Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts von Minderjährigen der Festlegung des Aufenthaltsorts durch den Personensorgeberechtigten maßgebliche Bedeutung zukomme. Denn selbst diesem Gericht zufolge gilt dies nur, wenn die das Aufenthaltsbestimmungsrecht ausübende Person die tatsächliche Möglichkeit hat, ihre diesbezügliche Entscheidungen durchzusetzen, wovon hier anders als bei Minderjährigen rechtlich und - angesichts einer tatsächlichen Ortsabwesenheit von rund eineinhalb Jahren – auch tatsächlich keine Rede sein konnte. Auch hat das OVG Mecklenburg-Vorpommern mit dieser Argumentation nicht etwa (wie es hier erforderlich wäre) eine Aufrechterhaltung des gewöhnlichen Aufenthalts ohne tatsächlichen Aufenthalt begründet, sondern vielmehr die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts trotz tatsächlichen Aufenthalts an einem vom Personensorgeberechtigten abgelehnten Ort verneint und im Ergebnis das Fehlen eines gewöhnlichen Aufenthaltsorts festgestellt. Dies stellt den gesetzlichen Grundsatz, wonach der tatsächliche Aufenthalt zwingende, aber nicht allein hinreichende Voraussetzung eines gewöhnlichen Aufenthalts ist, nicht in Frage, sondern bestätigt ihn gerade.
Die von der Beklagten verfügte Aufhebung der Bewilligung bereits mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an (5.3.2007) setzt allerdings darüber hinaus gem. § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X mangelnde Schutzwürdigkeit des Bescheidempfängers voraus. Diese ist insbesondere gegeben, wenn der Betroffene entweder einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X), wenn der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X) oder wenn nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X). Keine dieser Voraussetzungen ist hier erfüllt. Dem erforderlichen erheblichen Verschulden zumindest in Form grober Fahrlässigkeit steht die für die Einrichtung der umfangreichen Betreuung maßgebliche geistige Behinderung des Klägers mit einer entsprechend eingeschränkten Verschuldensfähigkeit entgegen. Unabhängig davon sind Umstände, die ein grobes Verschulden nahelegen, weder ersichtlich noch wurden sie von der Beklagten geltend gemacht. Die Aufhebung der Leistungsbewilligung war daher auf die Zeit vom Erlass des angefochtenen Bescheides an zu beschränken.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits in der Hauptsache, wobei das Gericht von einer Quotelung der zu erstattenden Kosten in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) abgesehen hat.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Bescheid, mit dem die Beklagte die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen aufgehoben hat.
Der Kläger, geboren am XXX, ist durch eine erhebliche Intelligenzminderung geistig behindert und steht insbesondere wegen einer dadurch bedingten Verwahrlosungstendenz unter Betreuung. Seit 21.11.2005 ist der gegenwärtige Betreuer bestellt, sein Aufgabenkreis umfasst unter anderem die Aufenthaltsbestimmung und Wohnungsangelegenheiten. Für Willenserklärungen betreffend Vermögensangelegenheiten besteht ein Einwilligungsvorbehalt.
Der Kläger war seit 2.2.2004 unter der Anschrift XXXstr. X in F gemeldet und bezog von der Beklagten mit Unterbrechungen Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung. Diese waren ihm hier maßgeblichen Zeitraum zuletzt mit Bescheid vom 1.8.2006 nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XII) bis auf weiteres bewilligt worden.
Im März 2007 äußerte der Kläger gegenüber der Beklagten, er sei am 5.3.2007 nach FO im beigeladenen Landkreis umgezogen. Eine Anschrift oder einen Vermieter gab er nicht an. Unter dem 12.4.2007 bestätigte das Einwohnermeldeamt F auf Anfrage der Beklagten, dass sich der Kläger zum 5.3.2000 nach FO, YYYStr. Y, abgemeldet habe. Dabei handelte es sich um die Anschrift der Mutter des Klägers. Bei einem von der Beklagten veranlassten Hausbesuch am 24.4.2007 in der XXXstr. X wurden weder der Kläger angetroffen noch ein mit seinem Namen beschriftetes Tür- oder Klingelschild oder ein solcher Briefkasten vorgefunden.
Mit Bescheid vom 3.4.2007 hob die Beklagte unter Berufung auf § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) die Leistungen der Grundsicherung mit Wirkung ab dem 5.3.2007 auf. Sie begründete dies damit, dass sie wegen des Umzugs des Klägers für ihn nicht mehr örtlich zuständig sei. Dagegen erhob der Betreuer des Klägers mit Schreiben vom 10.4.2007 Widerspruch. Er legte eine Meldebestätigung des Einwohnermeldeamts F vom 4.4.2007 vor, wonach der Kläger weiterhin unter der dortigen Anschrift gemeldet sei. Da ihm die Aufenthaltsbestimmung und Wohnungsangelegenheiten oblägen, könne der Kläger sich ohne seine Zustimmung nicht rechtswirksam abmelden. Diese Zustimmung habe er nicht erteilt und werde er nicht erteilen.
Auf weitere Anfrage der Beklagten erklärte das Einwohnermeldeamt, die Abmeldung zum 5.3.2007 sei nach einer entsprechenden Mitteilung des Einwohnermeldeamts FO vorgenommen worden. Der Betreuer des Klägers habe am 4.4.2007 veranlasst, dass dies rückgängig gemacht werde. Nachdem das Einwohnermeldeamt FO die Abmeldung bestätigt habe, sei der Kläger am 12.4.2007 wieder zum 5.3.2007 abgemeldet worden. Danach wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21.6.2007 den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, maßgeblich für die örtliche Zuständigkeit sei der gewöhnliche Aufenthaltsort des Leistungsberechtigten (§ 98 Abs. 1 Satz 2 SGB XII). Der gewöhnliche Aufenthalt des Klägers liege jedenfalls nicht mehr in F, denn dies setze voraus, dass er sich an diesem Ort unter Umständen tatsächlich aufhalte, die erkennen ließen, dass er an diesem Ort nicht nur vorübergehend verweile (§ 30 Abs. 3 Satz 2 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I)).
Am 23.7.2007 erhob der Betreuer des Klägers Klage zum Sozialgericht Freiburg.
Am 25.7.2007 gab der Vermieter der Wohnung XXXstr. X, F, auf telefonische Anfrage der Beklagten an, der Kläger sei seit Monaten nicht mehr in der Wohnung gewesen. Er habe sie inzwischen anderweitig vermietet. Einen vom Betreuer gestellten neuen Antrag des Klägers auf Grundsicherungsleistungen lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22.8.2007 mangels örtlicher Zuständigkeit ab und bestätigte diese Entscheidung mit Widerspruchsbescheid vom 20.11.2007. Diese Entscheidung wurde bindend. Der Beigeladene lehnte einen auf Anregung des Gerichts bei ihr gestellten Antrag auf Grundsicherungsleistungen vom 7.9.2007 mit ebenfalls bindend gewordenen Bescheid vom 13.9.2007 ab, da er die Beklagte für zuständig hielt. Der Beigeladene ging davon aus, dass sich der Kläger lediglich besuchsweise in seinem Zuständigkeitsbereich aufhalte. Sowohl bei der Antragstellung beim Beigeladenen als auch anlässlich eines weiteren Antrags auf Grundsicherungsleistungen bei der Beklagten am 26.10.2007 gab der Betreuer des Klägers an, er sei derzeit ohne direkten Kontakt zum Kläger, stehe aber in Verbindung mit dessen Mutter. Der Kläger wohne nach deren Angaben gelegentlich bei ihr und sei ansonsten unterwegs (bei Landwirten, Schaustellern u. ä.), wo er mit Gelegenheitsjobs zu seinem Lebensunterhalt beitrage (den er im Übrigen mit Kindergeld bestreite). Anlässlich einer einen früheren Leistungszeitraum betreffenden öffentlichen Sitzung vor der 12. Kammer des Sozialgerichts Freiburg am 26.11.2008 (Az.: S 12 SO 3819/06) gab der Betreuer an, der Kläger sei von seiner Mutter "rausgeschmissen" worden und anschließend ins Obdachlosenheim in F gezogen. Die Beklagte gewährt dem Kläger seit 4.9.2008 wieder Leistungen.
Der Bevollmächtigte des Klägers trägt vor, der Kläger sei wegen seiner Behinderung nicht in der Lage, sachgerechte Entscheidungen zu treffen und deren Auswirkungen zu erfassen. Eine sachgerechte Betreuung sei nicht möglich, wenn der Kläger, der sich in F aufzuhalten habe, die Entscheidung des Betreuers durch sein Verhalten unterlaufen könne. Zum tatsächlichen Aufenthalt des Klägers bis zur Rückkehr nach F im September 2008 befragt, erklärte der Betreuer des Klägers in der Sitzung vom 9.2.2010, nach seiner Kenntnis sei der Kläger zeitweise mit Schaustellern unterwegs gewesen und habe bei Bauern gearbeitet. Nach dem Ende der Saison sei er mangels eigener Wohnung zu seiner Mutter gezogen, wo es aber nur begrenzte Zeit gut gegangen sei. Deswegen sei der Kläger anschließend wieder nach F gegangen.
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 3.4.2007 in der Fassung des Widerspruchbescheids vom 21.6.2007 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Der Beigeladene
schließt sich dem Antrag des klägerischen Bevollmächtigten an.
Er weist u. a. auf ein Urteil des OVG Mecklenburg-Vorpommern vom 28.8.2007 hin (Az.: 1 L 300/05, veröff. in (juris)).
Die den Kläger betreffende Verwaltungsakte der Beklagten lag vor. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Verfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf diese Verwaltungsakte sowie die Akten des Gerichts, Az. S 9 SO 3989/07 und S 12 SO 3819/06, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben. Sie ist auch im Übrigen zulässig und als Anfechtungsklage gem. § 54 Abs. 1 SGG statthaft. Sie ist aber nur teilweise begründet.
Gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - wie hier die Bewilligung der Grundsicherungsleistungen - aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. In diesem Sinne wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sie rechtserheblich ist. Vorausgesetzt wird also eine Änderung, die dazu führt, dass die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den ergangenen Verwaltungsakt (so) nicht hätte erlassen dürfen (Steinwedel, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 63. EL 2009, § 48 SGB X, Rnr. 13).
Eine derartige Änderung ist hier dadurch eingetreten, dass der Kläger am 5.3.2007 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Beklagten aufgegeben hat und diese ihm daher von diesem Zeitpunkt an keine Grundsicherungsleistungen mehr hätte gewähren dürfen. Denn gem. § 98 Abs. 1 Satz 2 SGB XII ist für Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich der gewöhnliche Aufenthaltsort des Leistungsberechtigten liegt.
Den gewöhnlichen Aufenthalt definiert § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I als den Ort, an dem sich der Betreffende unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort nicht nur vorübergehend verweilt. Maßgeblich sind dabei in bewusster Abkehr vom zivilrechtlichen Wohnsitzbegriff (Schlegel, in: jurisPK-SGB I, 1. A. 2005, § 30, Rnr. 39) die tatsächlichen Umstände. Der tatsächliche Aufenthalt ist notwendige Bedingung für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts (BVerwG-Urt. v. 26.9.2002, Az. 5 C 46/01, 5 B 37/01, (juris)). Hinzutreten müssen objektive Umstände, die auf einen zukunftsoffenen Verbleib an diesem Ort schließen lassen (BVerwG und Schlegel, a. a. O.). Daraus folgt, dass bei fehlendem tatsächlichen Aufenthalt ein gewöhnlicher Aufenthalt ausgeschlossen ist und jener auch bei Personen mit Willensmängeln nicht durch den bloßen Willen rechtlich zur Bestimmung des Aufenthalts berufener Personen ersetzt werden kann (so für das Verhältnis von Kindern zum personensorgeberechtigten Elternteil BVerwG und Schlegel, a. a. O.; ebenso Seewald, in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 63. EL 2009, § 30 SGB I, Rnr. 25). Der physische Aufenthalt am Ort des begründenden gewöhnlichen Aufenthalts ist somit als zwingende Voraussetzung unabhängig von allen weiteren Indizien und dem Willen festzustellen, an einem bestimmten Ort ein gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen, (BVerwG a. a. O.).
Hier hat sich der Kläger nach dem 5.3.2007 bis zu seiner Rückkehr im September 2008 tatsächlich nicht mehr im Zuständigkeitsbereich der Beklagten aufgehalten. Dies folgt nach Überzeugung der Kammer zweifelsfrei aus seiner eigenen Erklärung, an diesem Tag nach FO umgezogen zu sein, der aktenkundigen Aussage seines Vermieters vom 25.7.2007, der Kläger sei seit Monaten nicht mehr in der F Wohnung gewesen, den dort am 24.4.2007 vorgefundenen Verhältnissen, die auf eine Wohnungsaufgabe schließen lassen (Fehlen von Namensschild und Briefkasten) sowie der Erklärung seines Betreuers, nach seinen Informationen (vermittelt durch die Mutter des Klägers) habe sich dieser zunächst bei Schaustellern und Bauern an verschiedenen Orten, u. a. in Bayern, und später in FO aufgehalten. Es fehlte daher an dem für die Aufrechterhaltung eines gewöhnlichen Aufenthalts erforderlichen tatsächlichen Aufenthalt des Klägers in F, der auch nicht durch den der Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts entgegenstehenden Willen seines Betreuers ersetzt werden kann.
Dem steht entgegen der Auffassung des Beigeladenen die Rechtsprechung des OVG Mecklenburg-Vorpommern nicht entgegen, wonach bei der Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts von Minderjährigen der Festlegung des Aufenthaltsorts durch den Personensorgeberechtigten maßgebliche Bedeutung zukomme. Denn selbst diesem Gericht zufolge gilt dies nur, wenn die das Aufenthaltsbestimmungsrecht ausübende Person die tatsächliche Möglichkeit hat, ihre diesbezügliche Entscheidungen durchzusetzen, wovon hier anders als bei Minderjährigen rechtlich und - angesichts einer tatsächlichen Ortsabwesenheit von rund eineinhalb Jahren – auch tatsächlich keine Rede sein konnte. Auch hat das OVG Mecklenburg-Vorpommern mit dieser Argumentation nicht etwa (wie es hier erforderlich wäre) eine Aufrechterhaltung des gewöhnlichen Aufenthalts ohne tatsächlichen Aufenthalt begründet, sondern vielmehr die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts trotz tatsächlichen Aufenthalts an einem vom Personensorgeberechtigten abgelehnten Ort verneint und im Ergebnis das Fehlen eines gewöhnlichen Aufenthaltsorts festgestellt. Dies stellt den gesetzlichen Grundsatz, wonach der tatsächliche Aufenthalt zwingende, aber nicht allein hinreichende Voraussetzung eines gewöhnlichen Aufenthalts ist, nicht in Frage, sondern bestätigt ihn gerade.
Die von der Beklagten verfügte Aufhebung der Bewilligung bereits mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an (5.3.2007) setzt allerdings darüber hinaus gem. § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X mangelnde Schutzwürdigkeit des Bescheidempfängers voraus. Diese ist insbesondere gegeben, wenn der Betroffene entweder einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X), wenn der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X) oder wenn nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X). Keine dieser Voraussetzungen ist hier erfüllt. Dem erforderlichen erheblichen Verschulden zumindest in Form grober Fahrlässigkeit steht die für die Einrichtung der umfangreichen Betreuung maßgebliche geistige Behinderung des Klägers mit einer entsprechend eingeschränkten Verschuldensfähigkeit entgegen. Unabhängig davon sind Umstände, die ein grobes Verschulden nahelegen, weder ersichtlich noch wurden sie von der Beklagten geltend gemacht. Die Aufhebung der Leistungsbewilligung war daher auf die Zeit vom Erlass des angefochtenen Bescheides an zu beschränken.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits in der Hauptsache, wobei das Gericht von einer Quotelung der zu erstattenden Kosten in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) abgesehen hat.
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