S 12 R 978/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 12 R 978/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Für die Feststellung der Mindeststundenzahl nach § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI bzw. § 19 SGB XI ist nicht der Pflegebedarf des Gepflegten, sondern die Pflegetätigkeit der Pflegeperson ausschlaggebend.

2. Feststellungen der Pflegekasse bzw. des privaten Versicherungsunternehmens zur Pflegestufe nach § 15 SGB XI entbinden den Träger der Rentenversicherung nicht von seiner Pflicht zu eigenen Ermittlungen.

3. Feststellungen nach § 15 SGB XI entfalten für die Feststellung der Mindeststundenzahl nach § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI bzw. § 19 SGB XI keine bindende oder präjudizielle Wirkung.
1. Unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 18.09.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.01.2007 wird festgestellt, dass die Klägerin vom 01.10.2003 bis 19.11.2005 wegen nicht erwerbsmäßiger Pflege von Frau M. H. gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI versicherungspflichtig war.

2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen notwendigen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt, die von ihr erbrachte Pflege ihrer Mutter vom 01.10.2003 bis 19.11.2005 als Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung anzuerkennen. Die am xx.xx.1959 geborene Klägerin ist von Beruf Sozialarbeiterin und war in der Seniorenberatung tätig. Im Klagezeitraum übte sie ihren Beruf in 60 % Teilzeit aus. Derzeit bezieht sie eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die am xx.xx.1926 geborene Mutter der Klägerin, Frau M. H., verstarb am xx.xx.2006, nachdem sie am 19.11.2005 gestürzt war und sich schwerwiegende Verletzungen zugezogen hatte, derentwegen sie bis zu ihrem Tod fast ununterbrochen in vollstationärer Behandlung war.

Frau M. H. litt seit etwa ihrem 50. Lebensjahr an zahlreichen und schweren körperlichen Gebrechen. Im Dezember 2002 wurde ein Grad der Behinderung von 60 anerkannt, der kurz vor ihrem Tod noch auf 100 erhöht wurde. Eine Untersuchung in der Uniklinik Freiburg vom 15.02.2004 ergab eine erheblich reduzierte Orientierung im Alltag und die Diagnose Alzheimer. Das Gedächtnis, Orientierungsvermögen, Sprache, Rechtschreibung, Ablesen von Uhren, Selbstversorgung und Körperpflege seien entsprechend eingeschränkt. Im streitigen Zeitraum standen folgende weitere Beschwerden und Krankheitsbilder im Vordergrund: fortschreitende Demenz, Bluthochdruck, Harninkontinenz, Schwerhörigkeit, Parkinson und Lumboischialgie aufgrund eines Bandscheibenvorfalls. Dieser war Grund für eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 25.08. bis 23.09.2003. Nach deren Abschluss wurde für die häusliche Pflege ab 01.10.2003 Pflegegeld bewilligt und Frau M. H. in Pflegestufe 1 eingestuft. In der Folgezeit bis zu ihrem schweren Sturz war Frau M. H. einmal wegen einer Reha-Maßnahme vom 08.12.2003 bis 12.01.2004 länger stationär untergebracht. Ansonsten sorgte die Klägerin, die ihrem Beruf nur noch in Teilzeit nachging, überwiegend allein für die häusliche Pflege ihrer Mutter, deren Ehemann bereits 1983 vorverstorben war. Außer der Klägerin hatte Frau M. H. zwei weitere Kinder. Auf Anforderung der Beigeladenen hielt die Klägerin ihre pflegerischen und hauswirtschaftlichen Tätigkeiten für ihre Mutter im Rahmen des Erstantrags auf Feststellung einer Pflegestufe für den 09.11.2003 sowie im Rahmen des Folgeantrags für drei aufeinander folgende Tage (09.-11.09.2004) auf vier Pflegetagebögen fest. Danach entfielen am 03.11.203 auf den Bereich der Körperpflege 46,5 Minuten, auf den der Ernährung ohne Trinken 60 Minuten und auf den der Mobilität der Gepflegten (ohne An- und Abfahrt der Klägerin) 60 Minuten, zusammen 166,5 Minuten. Am 09.09.2004 waren es 51,5 Minuten für Körperpflege, 67 Minuten für Ernährung einschließlich Trinken und 38 Minuten für Mobilität (ohne An- und Abfahrt), zusammen 156,5 Minuten. Am 10.09.2004 waren es 66,5, 66 und 39 Minuten (ohne An- und Abfahrt), zusammen 171,5 Minuten sowie am 11.09.2004 49,5, 66 und 46 Minuten (ohne An- und Abfahrt), zusammen 161,5 Minuten. Hieraus ergibt sich ein täglicher Durchschnitt von 164 Minuten bzw. 19,13 Stunden pro Woche. Hinzu kam eine hauswirtschaftliche Versorgung am 03.11.2003 im Umfang von 175,7 Minuten, am 09.09.2004 von 353 Minuten, am 10.09.2004 von 198 Minuten und am 11.09.2004 von 338 Minuten. Die Beigeladene hatte Frau M. H. für die Prüfung der zu bewilligenden Pflegestufe am 06.11.2003 von einem Arzt der Firma M. begutachten lassen. Dieser schätzte den täglichen Bedarf auf 48 Minuten für die Grundpflege und 45 Minuten für die hauswirtschaftliche Versorgung, zusammen 93 Minuten ein. Eine Folgebegutachtung am 06.10.2004 ergab einen Bedarf für die Grundpflege von 63 Minuten und die hauswirtschaftliche Versorgung von 45 Minuten, zusammen 108 Minuten, sowie einen Mehrbedarf wegen erheblicher Einschränkung der Alltagskompetenz. Mit Bescheid vom 18.09.2006 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Anerkennung ihrer Pflegetätigkeit als versicherungspflichtige Zeit mit der Begründung ab, dass nach den Feststellungen der Beigeladenen der von der Klägerin ausgeübte Umfang der Pflegetätigkeit unter 14 Stunden in der Woche liege und daher die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Den Widerspruch der Klägerin vom 12.10.2006 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25.01.2007 zurück.

Hiergegen richtet sich die am 19.02.2007 beim Sozialgericht Freiburg erhobene Klage, mit der die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt. Sie ist der Ansicht, für die Rentenversicherungspflicht nach § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI sei nicht allein auf den pflegeversicherungsrechtlichen Pflegebedarf abzustellen, sondern auf die tatsächlich erbrachte Pflegetätigkeit.

Die Klägerin beantragt zuletzt:

Unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 18.9.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.1.2007 wird festgestellt, dass die Klägerin vom 1.10.2003 bis 19.11.2005 wegen nicht erwerbsmäßiger Pflege von Frau M. H. gem. § 3 S. 1 Nr. 1 a SGB VI versicherungspflichtig war.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Die Beklagte ist ebenso wie die Beigeladene der Ansicht, dass es für die Rentenversicherungspflicht nach § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI allein auf die im Rahmen der Festsetzung der Pflegestufe getroffenen Feststellungen ankomme. Der darüber ergangene Bewilligungsbescheid entfalte für den streitigen vorliegenden Sachverhalt Tatbestandswirkung.

Das Gericht hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 04.11.2010 eingehend zu Art und Umfang ihrer pflegerischen und hauswirtschaftlichen Tätigkeit für ihre Mutter und deren Hilfebedarf befragt. Insoweit wird auf das Protokoll verwiesen. Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die die Klägerin betreffenden Akten der Beklagten und der Beigeladenen, die das Gericht beigezogen hat, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage nach § 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Klage ist zulässig und begründet. 1. Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Als Adressatin eines belastenden Verwaltungsakts ist die Klägerin befugt, Anfechtungsklage zu erheben. Für den weiteren Feststellungsantrag ist eine Verpflichtungsklage nicht vorrangig, weil das festzustellende Rechtsverhältnis, die Rentenversicherungspflicht der Klägerin im bezeichneten Zeitraum, unmittelbar aus dem Gesetz folgt. Das für eine Feststellungsklage nach § 55 SGG notwendige besondere Feststellungsinteresse liegt aufgrund der durch ablehnende Bescheide manifestierten abweichenden Rechtsauffassung der Beklagten vor.

2. Die Klägerin unterlag in der Zeit vom 01.10.2003 bis 19.11.2005 der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht. Dies gilt gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI für Personen in der Zeit, in der sie einen Pflegebedürftigen im Sinne des § 14 des Elften Buches nicht erwerbsmäßig wenigstens 14 Stunden wöchentlich in seiner häuslichen Umgebung pflegen (nicht erwerbsmäßig tätige Pflegepersonen), wenn der Pflegebedürftige Anspruch auf Leistungen aus der sozialen oder einer privaten Pflegeversicherung hat. Diese Voraussetzungen sind erfüllt:

a) Unstreitig hatte die gepflegte Mutter der Klägerin im streitigen Zeitraum Anspruch auf Leistungen aus der privaten Pflegeversicherung bei der Beigeladenen und war daher Pflegebedürftige im Sinne des § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI.

b) Die Klägerin war im streitigen Zeitraum unstreitig eine nicht erwerbsmäßige Pflegeperson im Sinne des § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI. Auch fand die Pflege in häuslicher Umgebung statt, da der einzige längere stationäre Aufenthalt im Klagezeitraum zeitlich nicht ins Gewicht fällt.

c) Auch die Voraussetzung einer Pflege im Umfang von mindestens 14 Stunden wöchentlich ist erfüllt.

aa) Diese Voraussetzung des § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI wird von § 19 SGB XI lediglich wiederholt und um die Rechtsfolge ergänzt, dass Leistungen zur sozialen Sicherung nach § 44 SGB XI erfolgen. Beide Ausgangsnormen verweisen zur Konkretisierung des Begriffs "pflegen" oder (der Wortlaut ist insoweit offen) des Begriffs der "pflegebedürftigen Person" gleichermaßen auf § 14 SGB XI. Aus der Blickrichtung des § 3 SGB VI auf die Pflegeperson als potentiellen Rentner ist allerdings zu schließen, dass die Verweisung in erster Linie der Erläuterung des Begriffs "pflegen" dient. Demgegenüber findet die gepflegte Person und ihr Zustand in § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI lediglich im angefügten Konditionalsatz ausdrückliche Erwähnung, dessen Voraussetzungen vorliegend unstreitig erfüllt sind. § 14 SGB XI definiert anknüpfend an näher bestimmte gesundheitliche Beeinträchtigungen grundlegend sämtliche pflegerischen und hauswirtschaftlichen Bedarfe in qualitativer Hinsicht und verweist in quantitativer Hinsicht vollständig auf § 15 SGB XI, der den Pflegebedarf der zu pflegenden Person bestimmten Pflegestufen zuordnet und damit die Grundnorm schlechthin für die Bestimmung von Leistungsansprüchen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung ist. Weder § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI noch § 19 SGB XI erwähnen diese Schlüsselnorm der gesetzlichen Pflegeversicherung, sondern verweisen – dem oben erläuterten Verweisungszweck folgend – ausschließlich auf § 14 SGB XI.

bb) Diese Gesetzessystematik untermauert den Wortlaut ("pflegt") des § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI, demzufolge es für die Rentenversicherungspflicht maßgeblich auf die (tatsächliche) pflegerische Tätigkeit der Pflegeperson und nicht auf den (normativen) Bedarf des Gepflegten ankommt. Letzterer spielt lediglich mittelbar für die weitere Frage eine Rolle, ob und zu welchem Teil die Pflegetätigkeit noch krankheits- oder behinderungsbedingt ist, oder ob und gegebenenfalls inwieweit sie auf eine Betreuung in sonstigen Lebenslagen hinausläuft, beispielsweise zur Freizeitgestaltung oder aufgrund gesteigerter Komfortansprüche (dazu unten dd) (2)). Eine – wie von der Beklagten vorgenommene – Gleichsetzung von pflegerischem Bedarf des Gepflegten (im Sinne der Einstufung nach § 15 SGB XI) und pflegerischer Tätigkeit der Pflegeperson würde daher dem Gesetzeswortlaut ("pflegt"), der Gesetzessystematik (Verweis nur auf § 14 SGB XI) und der ratio legis (Verweisungszweck und Perspektive des § 3 SGB VI auf die in Bezug genommene Norm § 14 SGB XI) widersprechen. Darüber hinaus spricht einiges dafür, dass die Mindeststundenzahl nach § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI bzw. § 19 SGB XI nicht nur aus der Arbeitszeit zu errechnen ist, die auf Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung im Sinne des § 14 SGB XI entfällt, sondern auch aus der Zeit, die für die ergänzende Pflege und Betreuung im Sinne des § 4 Absatz 2 Satz 1 SGB XI benötigt wird. Bei familiärer, nachbarschaftlicher oder sonst ehrenamtlicher Pflege und Betreuung dürfte der zu berücksichtigende Pflegeaufwand daher erheblich weiter zu fassen sein, als der für die Feststellung der Pflegestufe maßgebliche Bedarf (ebenso Gürtner in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 19 SGB XI Rn. 13 unter Verweis auf Udsching, SGB XI, 2. Aufl. § 19 Rn. 14). Denn die Pflegeversicherung muss und kann lediglich eine Grundversorgung leisten. Davon ist die Frage völlig unabhängig, ob § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI nicht zumindest rentenversicherungsrechtlich diejenigen Nachteile abmildern soll, die nicht erwerbsmäßigen Pflegepersonen regelmäßig entstehen. Solche Pflegepersonen stammen typischerweise aus dem engsten Verwandten- oder Bekanntenkreis der zu pflegenden Person und wollen oder müssen aus verständlichen und guten Gründen mehr leisten, als die gesetzliche Pflegeversicherung zu finanzieren vermag. Damit gehen typischerweise hohe persönliche und oftmals berufliche Opfer einher, die letztlich auch der Versichertengemeinschaft zu Gute kommen. Diese Frage braucht vorliegend jedoch nicht entschieden zu werden, weil die Klägerin die Mindeststundenzahl bereits durch Grundpflege überschritten hat (dazu unten dd).

cc) Auch sachlogische Gründe sprechen gegen eine Gleichsetzung der Pflegetätigkeit im Sinne des § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI mit dem Pflegebedarf nach § 15 SGB XI: Zum einen trifft der für die Einstufung in eine Pflegestufe nach § 15 SGB XI ermittelte Pflegebedarf nicht unbedingt eine Aussage über die Bedarfsdeckung. Auch eine hohe Pflegestufe besagt nichts darüber, ob der Pflegeaufwand zu über 14 Stunden wöchentlich ehrenamtlich erfolgt. Zum anderen liegen der zeitliche Grenzwert nach § 15 Absatz 3 SGB XI für Pflegestufe I eine halbe Stunde täglich unter und der für Pflegestufe II eine Stunde täglich über dem Wert von 14 Stunden pro Woche. Da aber auch in Pflegestufe I ein Überschreiten der Mindeststundenzahl durch nicht erwerbsmäßige Pflege vorgesehen ist (§ 3 Satz 1 Nr. 1a 2. Halbsatz SGB VI), muss bei Pflegestufe I je nach Höhe des festgestellten Bedarfs ohnehin gesondert ermittelt werden, ob die Mindeststundenzahl des § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI bzw. § 19 SGB XI abweichend vom Bedarf im Sinne des § 15 Absatz 3 SGB XI erreicht wird.

dd) Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin ihre Mutter im streitigen Zeitraum mindestens 14 Stunden wöchentlich aus Gründen gepflegt hat, die krankheits- und behinderungsbedingt sind. Hinzu kommen weitere, im Umfang und der krankheits- und behinderungsbezogenen Notwendigkeit nicht gleichermaßen detailliert glaubhaft gemachte Tätigkeiten der hauswirtschaftlichen Versorgung. Deren Umfang und rechtliche Notwendigkeit kann für die vorliegende Entscheidung offen bleiben.

(1) Die Angaben der Klägerin in den vier Pflegetagebögen sind glaubhaft und stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit den unstreitigen Beschwerden der Gepflegten und ihren krankheitsbedingten, erheblichen Beeinträchtigungen in der Alltagsbewältigung. Diese beruhen in erster Linie auf der Alzheimererkrankung. Die exemplarischen Angaben der Pflegetagebögen werden durch das weitere Vorbringen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestützt. Die Angaben auf den Pflegetagebögen spiegeln daher den Pflegeaufwand im gesamten streitigen Klagezeitraum wider. Das Gericht hat sich insoweit durch umfassende Befragung der Klägerin auch zu den Begleitumständen ihrer täglichen Hilfeeinsätze ein detailliertes Bild sowohl vom typischen Tagesablauf der Klägerin und ihrer Mutter als auch von der Dauer dieser Hilfen über den gesamten Klagezeitraum verschafft. Auf kritische Nachfragen antwortete die Klägerin spontan und kenntnisreich, räumte für körperlich schwere Tätigkeiten beispielsweise Hilfe durch den Nachbar aber auch gelegentliche Unterstützung durch ihre Schwester ein. Die Angaben der Klägerin sind umso glaubhafter, als die Klägerin auch über Schwierigkeiten berichtet hat, die Hilfen für ihre Mutter zeitlich mit den Anforderungen ihres Berufs in Einklang zu bringen. Dass dies dennoch gelang, ist dem Umstand geschuldet, dass die Klägerin - ohnehin, wie sie auf Nachfrage einräumte - in Teilzeit arbeitete und ihre Arbeitsstelle nur einen Kilometer von der Wohnung der Mutter entfernt lag. Die Klägerin hat ihrer Darlegungslast genügt. Auch auf ausdrückliche Nachfrage in der mündlichen Verhandlung hat weder die Beklagte noch die Beigeladene substantiierte Zweifel an den klägerischen Angaben vorgebracht.

(2) Nach den ärztlichen Befundberichten und Schilderungen der Klägerin hat das Gericht keinen Zweifel daran, dass der von der Klägerin geschilderte Pflegeaufwand im vollen Umfang krankheits- und behinderungsbezogen war.

(3) Eine abweichende Feststellungswirkung (zum Begriff Meyer-Ladewig, SGG § 141 Rn. 4) geht von der Entscheidung der Beigeladenen über die Pflegestufe schon deshalb nicht aus, weil die dabei getroffenen Feststellungen nach den obigen Ausführungen eine andere als die hier maßgebliche Tatsache betreffen. Im Übrigen würde eine solche Bindung als Abweichung vom Grundsatz der Amtsermittlung (§ 20 SGB X) einer ausdrücklichen oder im Wege der Auslegung ermittelbaren gesetzlichen Grundlage bedürfen. § 62 SGB XII sieht für den Träger der Sozialhilfe eine solche Bindung an die Entscheidung der Pflegekasse vor. Eine entsprechende Norm gibt es im Zusammenhang von § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI jedoch nicht; § 44 SGB XI ist gerade nicht an die Träger der Rentenversicherung, sondern an die Träger der der Pflegeversicherung als potentielle Beitragsschuldner der gesetzlichen Rentenversicherung gerichtet. Aus Gründen der Gesetzessystematik kann eine Bindungswirkung auch nicht im Wege der Auslegung in § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI hineininterpretiert werden. Vielmehr wäre vom Gesetzgeber eine dem § 62 SGB XII ähnliche Regelung zu erwarten, würde er für denselben Sachverhalt (Feststellungen der Pflegekasse) nicht nur den Träger der Sozialhilfe, sondern auch die Rentenversicherung binden wollen. Eine solche Bindung kommt auch deshalb nicht in Betracht, weil die Rentenversicherungspflicht nach § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI konstitutiv aus dem Gesetz selbst folgt und vom Träger der Rentenversicherung lediglich deklaratorisch nachvollzogen wird. Eine Bindung wie bei § 62 SGB XII liefe folglich auf ein – nicht mit Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) zu vereinbarendes – Gegenteil des Gesetzesvorbehalts hinaus: die Bindung eines Parlamentsgesetzes an eine Entscheidung der Pflegekasse bzw. des privaten Versicherungsunternehmens.

(4) Da die Sachverhalte aus diesem Grund nicht ausreichend vergleichbar sind, kann § 62 SGB XII auch nicht analog zur Anwendung kommen.

(5) Der Einwand der Beklagten, wonach ihr Ermittlungsmöglichkeiten fehlen bzw. nicht in gleichem Maße zur Verfügung stehen würden wie der Beigeladenen, so dass schon deshalb auf deren Ermittlungen zurückzugreifen sei, geht aus mehreren Gründen fehl. Zum einen handelt es sich bei den Ermittlungen der Beigeladenen um Feststellungen über andere als die hier maßgeblichen Tatsachen (s.o.). Zum anderen bedarf es für die relevanten Ermittlungen keiner Expertise, die der Beigeladenen vorbehalten wäre: Zunächst wären – ggf. formularmäßig – Angaben der potentiell rentenversicherungspflichtigen Person, die insoweit die Darlegungslast trifft, einzuholen gewesen. Diese wären sodann auf Vollständigkeit, Schlüssigkeit und Glaubhaftigkeit zu prüfen gewesen. Gegebenenfalls wäre weiter zu ermitteln gewesen, beispielsweise durch Pflegetagebögen oder Hausbesuche. Medizinischer Sachverstand ist allein für die sich anschließende – vorliegend wohl gar nicht streitige – Frage erforderlich, ob der erbrachte Pflegeaufwand zu mindestens 14 Stunden wöchentlich krankheits- oder behinderungsbezogen ist. Auch insoweit ist allerdings nicht ersichtlich, warum der Beklagten, die einen eigenen medizinischen Dienst unterhält, insoweit der erforderliche Sachverstand fehlen und ein Rückgriff auf die Ermittlungen der Beigeladenen erforderlich sein sollte. Stattdessen hat die Beklagte gar keine eigenen Ermittlungen angestellt. Außerdem hat sie - ebenso wie die Beigeladene - die tatsächlichen Angaben der Klägerin auf den vier Pflegetagebögen ohne erkennbaren Grund überhaupt nicht berücksichtigt. Die Beklagte hat daher ihrer Amtsermittlungspflicht nach § 20 SGB X nicht genügt.

(6) Das Rechtsinstitut der Tatbestandswirkung (zum Begriff Meyer-Ladewig, SGG § 141 Rn. 4) steht entgegen der Ansicht der Beklagten nach den obigen Ausführungen zum unterschiedlichen tatsächlichen Anknüpfungspunkt (oben 2. c) bb) ebenfalls nicht eigenen Sachverhaltsermittlungen und -feststellungen entgegen. Darüber hinaus kann die Entscheidung der Beigeladenen auch gar keine Tatbestandswirkung entfalten, weil sie nicht gestaltender und konstitutiv feststellender Natur ist. Die Entscheidung der Beigeladenen ist zudem gar kein Verwaltungsakt, so dass eine Tatbestandswirkung auch deshalb nicht eintreten kann. Denn die Beigeladene konnte – obwohl Körperschaft des Öffentlichen Rechts – hier als private Pflegeversicherung nicht hoheitlich handeln und hat dies vorliegend auch nicht versucht.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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