L 3 AS 480/09

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 22 AS 1372/08
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AS 480/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Voraussetzung für die Bekanntgabefiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X ist die Feststellung des
Zeitpunktes, zu dem der maßgebende Verwaltungsakt zur Post gegeben wurde (Fortführung der
Senatsrechtsprechung: Sächs. LSG, Urteil vom 18. März 2010 – L 3 AS 180/09 ).

2. Eine Auslegung setzt voraus, dass ein Antrag unklar ist. Erst bei einem unklaren Antrag muss das Gericht –
und im Verwaltungsverfahren die Behörde –klären, was gewollt ist, und darauf hinwirken, dass sachdienliche
und klare Anträge gestellt werden.

3. Wenn ein Rechtsanwalt oder ein sonstiger rechtskundiger Bevollmächtigter einen konkreten und klaren
Antrag stellt, besteht regelmäßig keine Veranlassung, diesen Antrag auszulegen. Dies gilt selbst dann, wenn
bei objektiver Betrachtung ein engerer, weiterer oder gänzlich anderer Antrag sachgerecht gewesen wäre.

4. Wenn die Kenntnis von der Existenz eines Verwaltungsaktes fehlt, kann auch weder ein tatsächlicher noch
ein mutmaßlicher Wille bestehen, einen Rechtsbehelf einlegen zu wollen.

5. Die (Teil)Rücknahme einer Leistungsbewilligung kann auch konkludent in einem Änderungsbescheid
enthalten sein, weil gesetzlich keine bestimmte Form für einen Rücknahmebescheid vorgegeben ist.
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 23. Juli 2009 aufgehoben, soweit der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 17. Oktober 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2008 aufgehoben worden ist. Die Klage gegen den Erstattungsbescheid vom 17. Oktober 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2008 wird abgewiesen.

II. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren und im Verfahren vor dem Sozialgericht Chemnitz, soweit es die Klage gegen den Erstattungsbescheid vom 17. Oktober 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2008 betrifft, sind nicht erstattungs-fähig.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Rückforderung von insgesamt 4.698,72 EUR, die die Leistungszeiträume vom 1. Januar 2005 bis zum 30. April 2006 betreffen, streitig.

Der 1956 geborene, erwerbsfähige Kläger beantragte am 22. Dezember 2004 bei der Agentur für Arbeit C Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Auf dem Teil des Antragsformulars, das die Einkommens- und Vermögensverhältnisse betrifft, sind die Leerstellen bei der Frage nach Einkommen aus "Rente/Pension" gestrichen worden.

Auf den Antrag des Klägers vom 18. Januar 2005 zahlte ihm die ARGE C (im Folgenden: ARGE) am selben Tag einen Vorschusses in Höhe von 331,00 EUR.

Die ARGE bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 10. März 2005 Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. April 2005 in Höhe von monatlich 584,51 EUR.

Im Fortzahlungsantrag vom 12. April 2005 gab der Kläger an, dass keine Änderungen eingetreten seien. Die ARGE bewilligte ihm daraufhin mit Bescheid vom 25. April 2005 Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. Mai 2005 bis 31. Oktober 2005 in Höhe von erneut 584,51 EUR monatlich.

Der Kläger stellte am 16. September 2005 einen weiteren Fortzahlungsantrag, in dem er erneut angab, dass keine Änderungen eingetreten seien. Mit Bescheid vom 25. September 2005 bewilligte die ARGE dem Kläger Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. November 2005 bis 30. April 2006 in Höhe von erneut 564,51 EUR.

Die ARGE führte am 12. Dezember 2005 einen Datenabgleich durch, im Rahmen dessen sie feststellte, dass der Kläger in der Zeit vom 1. Juli 2005 bis 30. September 2005 laufende Rentenzahlungen aus einer Unfallversicherung in Höhe von monatlich 323,67 EUR bezogen hatte.

Auf die Aufforderung der ARGE reichte der Kläger am 20. Februar 2006 in Kopie ein Schreiben des Kommandeurs der Dienststelle der Deutschen Volkspolizei vom 16. März 1989 ein, wonach der Unfall vom 14. Februar 1989 als Dienstunfall anerkannt wurde. Ferner reichte er unter anderem den Unfall-Rentenbescheid des Kreisvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) vom 27. November 1990 und die Leistungsmitteilung der Deutschen Post AG vom 1. Juli 2003 für die Unfallkasse des Bundes ein. Danach betrug ab 1. Juli 2003 der monatliche Zahlungsbetrag 323,67 EUR.

Mit Schreiben vom 6. April 2006 hörte die ARGE den Kläger zur beabsichtigten Rückforderung von Arbeitslosengeld II an. Er habe in der Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. April 2006 zu Unrecht Arbeitslosengeld II in Höhe von 4.698,72 EUR bezogen. Diese Überzahlung habe der Kläger verursacht, weil er unvollständige Angaben gemacht habe. Hierzu nahm der Kläger am 13. April 2006 Stellung.

Die ARGE erließ unter dem 17. Oktober 2006 vier Bescheide. Mit drei Änderungsbescheiden setzte sie die bewilligten Leistungen für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. April 2006 auf monatlich 290,84 EUR fest. Mit dem als Erstattungsbescheid bezeichneten vierten Bescheid forderte sie wegen der teilweisen Leistungsaufhebung einen Gesamtbetrag in Höhe von 4.698,72 EUR zurück.

Die Klägerbevollmächtigte legte am 25. Oktober 2006 Widerspruch gegen den "Erstattungsbescheid vom 17. Oktober 2006 in Höhe von 4.698,72 EUR" ein. Mit Schreiben vom 23. Mai 2007 begründete sie diesen damit, dass es zwar zutreffe, dass der ursprüngliche Antrag vom 22. Dezember 2004 unvollständig gewesenen sei. Dies sei dem Kläger jedoch aus den im Einzelnen dargelegten Gründen nicht vorwerfbar.

Im Rahmen eines späteren Folgeantrages legte der Kläger am 13. April 2007 eine Modernisierungsabrechnung der Wohnungsgenossenschaft vom 25. Juli 2005 vor, wonach sich die monatliche Miete aus der Grundmiete von 158,94 EUR, der Vorauszahlung für Heizkosten von 18,83 EUR und der Vorauszahlung für Betriebskosten von 44,89 EUR zusammensetzte. Ab 1. Oktober 2005 kam ein Modernisierungszuschlag von 5,46 EUR hinzu. Damit erhöhte sich die Miete von 222,66 EUR auf 228,12 EUR.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2007 wies die ARGE den Widerspruch zurück. Als Betreff ist "wegen Erstattungsbescheid" angegeben. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die teilweise Aufhebung der Leistungsbewilligung Recht und Gesetz entspreche. Die Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung stelle Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II dar. Die Rente sei auch keine zweckbestimmte Einnahme im Sinne von § 11 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a SGB II. Der monatlich zufließende Betrag in Höhe von 323,67 EUR sei um die Versicherungspauschale gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 ALG II-V zu bereinigen. Daraus ergebe sich der Anrechnungsbetrag im Umfang von 293,67 EUR. Nach alledem habe im Aufhebungszeitraum lediglich ein Leistungsanspruch in Höhe von 290,84 EUR bestanden. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme für die Vergangenheit seien gegeben. Der Kläger habe grob fahrlässig im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) gehandelt, als er im Rahmen der Einkommenserklärung vom 20. Dezember 2004 unmissverständlich erklärt habe, dass er keine Rente beziehe. Er habe einfach erkennen können, dass er die Rentenzahlung in nicht unbeachtlicher Höhe von 323,67 EUR anzugeben habe. Ein Ermessen im Rahmen der Zurücknahme sei gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 330 Abs. 3 des Sozialgesetzbuches Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) nicht eröffnet. Die zu Unrecht bewilligten Leistungen seien zu erstatten.

Die Klägerbevollmächtigte hat am 10. März 2008 unter dem Az. S 22 AS 1372/08 Klage erhoben. Sie hat im Wesentlichen die Ausführungen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt. Ergänzend hat sie die Auffassung vertreten, die Unfallrente dürfe nicht in voller Höhe in Anrechnung gelangen. Zwar stelle die Verletztenrente grundsätzlich keine Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz dar. Dies schließe jedoch nicht aus, dass ein Teil der Verletztenrente zweckbestimmt sei. Außerdem ist darauf hingewiesen worden, dass der Kläger am 2009 vom Tatvorwurf des Betruges freigesprochen worden sei.

Das Sozialgericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 23. Juli 2009 dieses Klageverfahren mit dem unter dem Az. S 22 AS 6932/08 geführten Klageverfahren verbunden und unter dem Az. S 22 AS 1372/08 fortgeführt.

Mit Urteil vom 23. Juli 2009 hat das Sozialgericht unter anderem den "Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 17.10.2006 i. d. G. des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2008" aufgehoben. Es hat diesbezüglich ausgeführt, dass der eingelegte Widerspruch dahingehend auszulegen sei, dass er nicht nur gegen den Erstattungsbescheid gerichtet sein sollte, sondern auch gegen die Teilaufhebungen in den drei Änderungsbescheiden. Das Sozialgericht hat sodann ausgeführt, dass die Aufhebungsvoraussetzungen nicht vorlägen. Insbesondere könne dem Kläger nicht vorgehalten werden, dass er vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht habe. Die Betriebskostengutschrift vom 22. Juli 2005 könne dem Kläger nicht angerechnet werden, weil der Vermieter die Gutschrift mit Mietschulden verrechnet habe. Damit habe die Erstattung dem Kläger nicht zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes zur Verfügung gestanden.

Die ARGE hat gegen das ihr am 5. August 2009 zugestellte Urteil am 31. Juli 2009 Berufung eingelegt. Sie wendet sich insbesondere gegen die Beweiswürdigung des Sozialgerichtes.

Das zum 1. Januar 2011 an die Stelle der ARGE getretene Jobcenter C beantragt,

das Urteil des Sozialgerichtes Chemnitz vom 23. Juli 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger hält an seinen bisherigen Ausführungen und Auffassungen fest.

Der Senat hat mit Beschluss vom 9. März 2010 das Verfahren, soweit es die Berufung gegen den Klageteil Az. S 22 AS 6932/08 betrifft, abgetrennt und unter dem Az. L 3 AS 142/10 fortgeführt.

Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 15. Dezember 2011 war unter anderem die Frage, worauf sich der Widerspruch vom 25. Oktober 2006 bezogen hat. Diesbezüglich wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten aus beiden Verfahrenszügen, die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten und die beigezogene Akte der Staatsanwaltschaft C (Az.: 650 Js 33349/08) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I. Nach dem Trennungsbeschluss vom 9. März 2010 ist nur noch das ursprüngliche Begehren aus der Klageschrift vom 6. März 2008 Gegenstand dieses Berufungsverfahrens.

II. Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht auf die Klage hin die drei Änderungsbescheide vom 17. Oktober 2006 und den Erstattungsbescheid vom 17. Oktober 2006, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2008, aufgehoben.

1. Soweit das Sozialgericht in Ziffer I des Urteilstenors den "Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 17.10.2006" aufgehoben hat, geht dies ins Leere. Denn einen solchen Bescheid gibt es nicht. Vielmehr hat die ARGE unter dem 17. Oktober 2006 die vier bezeichneten Verwaltungsakte erlassen. Bei der Formulierung im Urteilstenor dürfte es sich um ein redaktionelles Versehen handeln. Denn das Sozialgericht hat sowohl im Zusammenhang mit der Auslegung des Klagebegehrens (S. 10 des Urteils) als auch beim Einstieg in die Begründetheitsprüfung (S. 11 des Urteils) die vier Bescheide angesprochen.

2. Gegenstand der Klage war entgegen der Auffassung des Sozialgerichtes lediglich das Begehren, den Erstattungsbescheid vom 17. Oktober 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2008 aufzuheben.

In der Klageschrift ist sowohl im Klageantrag als auch an verschiedenen Stellen jeweils nur ein Verwaltungsakt oder ein Bescheid vom 17. Oktober 2006 in Singularform angesprochen. Auch der der Klageschrift beigefügte Widerspruchsbescheid lässt keine andere Auslegung zu. Auf Seite 1 des Widerspruchsbescheides wird der Gegenstand des Widerspruchsverfahrens unter anderem dadurch beschrieben, dass es den Widerspruch "gegen den Bescheid vom 17.10.2006" "wegen Erstattungsbescheid" betrifft. In der Sachverhaltsdarstellung auf Seite 2 des Widerspruchsbescheides wird sodann zwischen Bescheiden vom 17. Oktober 2006, mit denen die Bewilligungsentscheidungen teilweise aufgehoben worden sind, einerseits (5. Absatz) und dem Erstattungsbescheid vom 17. Oktober 2006 andererseits (6. Absatz) unterschieden.

Selbst wenn die Klage einer Auslegung im Sinne des Sozialgerichtes zugänglich wäre, hätte sie in Bezug auf die drei Änderungsbescheide keinen Erfolg haben können, weil diese Bescheide in Bestandskraft erwachsen sind (unten Nr. 3 Buchst. b).

3. Der Erstattungsbescheid vom 17. Oktober 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2008 ist rechtmäßig. Er verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]).

Rechtsgrundlage ist § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II (in der bis 31. März 2011 geltenden Fassung) i. V. m. § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II gilt für das Verfahren nach dem SGB II das SGB X. Nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

a) Die Bewilligungsbescheide vom 10. März 2005, 25. April 2005 und 25. September 2005 wurden durch die drei Änderungsbescheide vom 17. Oktober 2006 teilweise aufgehoben.

b) Die drei Änderungsbescheide sind bestandkräftig. Denn sie sind nicht innerhalb der einmonatigen Widerspruchsfrist (vgl. § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG) mit einem Widerspruch angefochten worden. Sie sind mithin für die Beteiligten, das heißt sowohl für den Kläger als auch den Beklagten, bindend geworden (vgl. § 77 SGG).

(1) Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG ist der Widerspruch binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist, schriftlich oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt bei der Übermittlung durch die Post im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Dies gilt gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB X nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.

Vorliegend greift die Fiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X nicht, weil der Tag, an dem die vier Bescheide vom 17. Oktober 2006 zur Post gegeben wurden, nicht dokumentiert und damit nicht festzustellen ist. Voraussetzung für die Bekanntgabefiktion ist aber die Feststellung des Zeitpunktes, zu dem der maßgebende Verwaltungsakt zur Post gegeben wurde (vgl. Sächs. LSG, Urteil vom 18. März 2010 – L 3 AS 180/09 – JURIS-Dokument Rdnr. 25, m. w. N.; Engelmann, in: von Wulffen, SGB X [7. Aufl., 2010], § 37 Rdnr. 12 Absatz 2).

Allerdings legte die Klägerbevollmächtigte mit Schreiben vom 23. Oktober 2006 Widerspruch gegen den Erstattungsbescheid vom 17. Oktober 2006, der ihr vorliege, ein. Dies bedingt, dass dem Kläger zumindest der Erstattungsbescheid bis spätestens 23. Oktober 2006 bekanntgegeben wurde.

Auch die drei Änderungsbescheide vom 17. Oktober 2006 wurden dem Kläger bekanntgegeben. In der mündlichen Verhandlung vom 15. Dezember 2011 gab der Kläger zum Zugang der vier Bescheide vom 17. Oktober 2006 bei ihm zunächst an, dass die Änderungsbescheide in einem Umschlag gewesen seien. Es sei ein Packen gewesen, bei dem kein Mensch mehr durchgeschaut habe. Er wisse allerdings nicht mehr, ob der Erstattungsbescheid mit in dem Briefumschlag gewesen sei. Im weiteren Verlauf der mündlichen Verhandlung bestätigte der Kläger nach Einsicht in die Verwaltungsakte nochmals, die drei Änderungsbescheide erhalten zu haben.

Auf der Grundlage der vorliegenden Unterlagen, dem Ablauf des Verwaltungsverfahrens sowie der Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 15. Dezember 2011 steht zur Überzeugung des Senates fest, dass dem Kläger die drei Änderungsbescheide vom 17. Oktober 2006 zusammen mit dem Erstattungsbescheid vom 17. Oktober 2006 in einem Briefumschlag übersandt wurden. Die Briefsendung war nach den Angaben des Klägers umfangreich und enthielt verschiedene Bescheide. Es ergeben sich weder aus den Angaben des Klägers noch aus den Verwaltungsakten Anhaltspunkte dafür, dass die vier Bescheide vom 17. Oktober 2006 zu unterschiedlichen Zeiten von der ARGE zur Post gegeben und damit dem Kläger zu unterschiedlichen Zeitpunkten zugegangen wären. Unterschiedliche Zeitpunkte für den Zugang der Änderungsbescheide einerseits und des Erstattungsbescheides andererseits lassen sich auch nicht daraus herleiten, dass der Klägerbevollmächtigten sowohl zum Zeitpunkt, als sie Widerspruch einlegte, als auch noch in der mündlichen Verhandlung vom 15. Dezember 2011 nur der Erstattungsbescheid vorlag. Denn die drei Änderungsbescheide lagen jedenfalls dem Kläger vor, der sie nicht an seine Bevollmächtigte weiterleitete. Eine selektive Weitergabe von Informationen durch den Kläger ist jedoch auch an anderer Stelle festzustellen. So legte er die Modernisierungsabrechnung der Wohnungsgenossenschaft vom 25. Juli 2005, aus der sich veränderte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung ergaben, erst am 13. April 2007 bei der ARGE vor, das heißt etwa 1¾ Jahre später. Auf seine Mitwirkungspflicht war er aber bereits im Antragsformular hingewiesen worden.

Aus den genannten Gründen steht zur Überzeugung des Senates fest, dass dem Kläger spätestens am 23. Oktober 2006 die drei Änderungsbescheide zugegangen sind und damit ihre Bekanntgabe im Sinne von § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB X erfolgt ist.

(2) Gegen die drei Änderungsbescheide ist kein Widerspruch eingelegt worden.

Der Widerspruch der Klägerbevollmächtigten im Schreiben vom 23. Oktober 2006 bezieht sich sowohl nach der Angabe im Betreff als auch in weiteren Text ausschließlich auf den Erstattungsbescheid vom 17. Oktober 2006.

Der Widerspruch kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass neben dem ausdrücklich angesprochenen Erstattungsbescheid auch die drei Änderungsbescheide vom selben Tag mit umfasst sein sollen.

Es ist bereits fraglich, ob der Widerspruch im Schreiben vom 23. Oktober 2006 überhaupt einer Auslegung zugänglich ist. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes setzt eine Auslegung voraus, dass ein Antrag unklar ist. Erst bei einem unklaren Antrag muss das Gericht – und im Verwaltungsverfahren die Behörde – klären, was gewollt ist, und darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (vgl. BSG, Urteil vom 23. Februar 2005 – B 6 KA 77/03 RSozR 4-1500 § 92 Nr. 2 Rdnr. 8 = JURIS-Dokument Rdnr. 15; BSG, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 49/10 R – JURIS-Dokument Rdnr. 24). Vorliegend wurde unzweideutig ein Widerspruch gegen einen konkret bezeichneten Bescheid eingelegt. Wenn aber ein Rechtsanwalt oder ein sonstiger rechtskundiger Bevollmächtigter einen konkreten und klaren Antrag stellt, besteht regelmäßig keine Veranlassung, diesen Antrag auszulegen. Dies gilt selbst dann, wenn bei objektiver Betrachtung ein engerer, weiterer oder gänzlich anderer Antrag sachgerecht gewesen wäre. Denn eine bestimmte Fassung eines Antrages ist das Ergebnis von vorangegangenen Erwägungen, die sich als zutreffend oder unzutreffend erweisen können. Eine Auslegung dient aber nicht dazu, etwaige Irrtümer oder Missverständnisse bei der Würdigung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse auszugleichen, sondern Unklarheiten in Bezug auf einen Antrag oder eine sonstige Willenserklärung zu beseitigen.

Selbst wenn aber vorliegend dem Grunde nach eine Auslegung des von der Klägerbevollmächtigten eingelegten Widerspruches in Betracht käme, könnte dies gleichwohl nicht dazu führen, dass der Widerspruch als auch gegen die drei Änderungsbescheide gerichtet anzusehen wäre.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes muss dann, wenn der Wortlaut eines Antrags nicht eindeutig ist, im Wege der Auslegung festgestellt werden, welches das erklärte Prozessziel ist. Für die Auslegung von Prozesshandlungen einschließlich der Anträge ist § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) entsprechend anzuwenden. Es ist nicht am Wortlaut einer Erklärung zu haften. Vielmehr ist der wirkliche Wille zu erforschen und zu berücksichtigen, soweit er für das Gericht – oder im Verwaltungsverfahren die Behörde – erkennbar ist. Die Auslegung von Anträgen richtet sich danach, was als Leistung möglich ist, wenn jeder verständige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe zur Annahme eines abweichenden Verhaltens vorliegen (vgl. zuletzt: BSG, Urteil vom 24. Februar 2011, a. a. O.; BSG, Urteil vom 6. April 2011 – B 4 AS 119/10 R – SozR 4-1500 § 54 Nr 21 Rdnr. 29 = JURIS-Dokument Rdnr. 29, m. w. N.; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz [9. Aufl., 2008], Vor § 60 Rdnr. 11a, a. m. N.).

In diesem beschriebenen Sinne lagen bei der Klägerbevollmächtigten Gründe zur Annahme eines abweichenden Verhaltens vor. Ihr ging es zwar, wie im Verlaufe des Widerspruchsverfahrens deutlich wurde, darum, nicht nur die Erstattungsforderung zu beseitigen, sondern – verfahrensrechtlich zutreffend – die dieser Forderung zugrunde liegenden Rücknahme- oder Aufhebungsentscheidungen. Denn Einwendungen, mit denen begründet wird, warum eine bewilligte Leistung nicht zurückgefordert werden darf, betreffen regelmäßig nicht erst die Erstattungsentscheidung nach § 50 SGB X, sondern bereits die dieser vorausgegangene Entscheidung über die Rücknahme eine Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X oder die Aufhebung nach § 48 SGB X. Die Besonderheit im vorliegenden Fall besteht allerdings darin, dass der Klägerbevollmächtigten zum Zeitpunkt der Widerspruchseinlegung die drei Änderungsbescheide nicht vorlagen. In der mündlichen Verhandlung am 15. Dezember 2011 stellte sich zudem heraus, dass sich bis zu diesem späten Zeitpunkt auch weder die Originale noch die Kopien dieser Bescheide bei ihren Akten befanden. Wenn aber die Kenntnis von der Existenz eines Verwaltungsaktes fehlt, kann auch weder ein tatsächlicher noch ein mutmaßlicher Wille bestehen, einen Rechtsbehelf einlegen zu wollen.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Klägerbevollmächtigte hätte erkennen können, dass es über den Erstattungsbescheid vom 17. Oktober 2006 hinaus noch weitere, für die Rückforderung maßgebende Bescheide gab. So wird der Erstattungsbescheid im ersten Satz damit eingeleitet, dass mit Bescheid vom 17. Oktober 2006 die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ab 1. Januar 2005 teilweise aufgehoben worden sei. Dieser Satz ist zwar inhaltlich nicht korrekt, weil nicht in einem Bescheid, sondern in drei Bescheiden die Teilrücknahme nach § 45 SGB X erfolgte. Zumindest geht aber aus diesem Satz hervor, dass es mindestens einen weiteren, für den Erstattungsbescheid relevanten Bescheid gibt. Zudem nahm am 17. April 2007 ein von der Klägerbevollmächtigten beauftragter Kanzleimitarbeiter in den Räumen der ARGE Einsicht in die Verwaltungsakte. Auch hierbei hätte die Existenz der drei Änderungsbescheide festgestellt werden können. Ein bloßes Kennen-Können ersetzt aber nicht die für die Willensbildung erforderliche tatsächliche Kenntnis.

c) Wegen der Bestandskraft der drei Änderungsbescheide kann dahingestellt bleiben, ob diese rechtmäßig oder rechtswidrig sind. Sie sind jedenfalls nicht nichtig; sie sind damit der Bestandskraft zugänglich.

(1) Unschädlich ist, dass die Entscheidungen über die Teilrücknahme konkludent in Änderungsbescheiden und nicht in besonderen Rücknahmebescheiden enthalten waren. Denn in § 48 SGB X ist ebenso wie in § 45 SGB X keine bestimmte Form vorgegeben. Die (Teil)Rücknahme einer Leistungsbewilligung kann damit auch konkludent in einem Änderungsbescheid enthalten sein.

(2) Die Änderungsbescheide vom 17. Oktober 2006 genügen auch dem Bestimmtheitsgebot aus § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i. V. m. § 33 Abs. 1 SGB X.

Das Bundessozialgericht fordert für die hinreichende inhaltliche Bestimmtheit im Sinne von § 33 Abs. 1 SGB X, dass aus dem Verfügungssatz für die Beteiligten vollständig, klar und unzweideutig erkennbar sein muss, was die Behörde regelt (vgl. BSG, Urteil vom 30. August 2011 – B 4 RA 114/00 RSozR 3-2600 § 149 Nr. 6 = JURIS-Dokument Rdnr. 25; BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 4 AS 30/09 R – SozR 4-4200 § 31 Nr. 3 Rdnr. 16 = JURIS-Dokument Rdnr. 16, m. w. N.; BSG, Urteil vom 15. Dezember 2010 – B 14 AS 92/09 R – JURIS-Dokument Rdnr. 18, m. w. N.; Sächs. LSG, Urteil vom 18. September 2008 – L 3 AS 40/08 – JURIS-Dokument Rdnr. 56, m. w. N.). Ein Aufhebungsbescheid nach § 48 SGB X – und ebenso ein Rücknahmebescheid nach § 45 SGB X – muss erkennen lassen, wer Adressat des Bescheides ist, welche Leistungsbewilligung für welchen Zeitraum und in welchem Umfang aufgehoben wird (vgl. Sächs. LSG, Urteil vom 18. September 2008, a. a. O., Rdnr. 57, m. w. N.).

Ein Änderungsbescheid ist zwar nicht das Gegenstück, das heißt actus contrarius, zum ursprünglichen Bewilligungsbescheid. Aus der neuen Leistungsbewilligung lässt sich somit nicht unmittelbar ersehen, in welchem Umfang die ursprüngliche Leistungsbewilligung aufgehoben wird. Dies lässt sich jedoch ohne Weiteres durch Auslegung ermitteln. Aus einem Vergleich der Verfügungssätze im ursprünglichen Bewilligungsbescheid und im Änderungsbescheid ergibt sich, inwieweit in zeitlicher Hinsicht und der Höhe nach eine Rücknahme erfolgt ist. Diesen Anforderungen genügen die drei Änderungsbescheide.

Soweit in den drei Bescheiden nicht die von den konkludenten Rücknahmeentscheidungen betroffenen Bewilligungsbescheide benannt sind, kann dahingestellt bleiben, ob zur Wahrung der hinreichenden inhaltlichen Bestimmtheit im Sinne von § 33 Abs. 1 SGB X in einem Rücknahmebescheid stets der aufgehobene Bescheid konkret mit Datum anzugeben ist (vgl. hierzu bereits Sächs. LSG, Urteil vom 18. September 2008, a. a. O., Rdnr. 59, m. w. N.). Denn ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot führt regelmäßig nur zur Rechtswidrigkeit des Bescheides (vgl. Engelmann, in: von Wulffen, SGB X [7. Aufl., 2010], § 33 Rdnr. 10, m. w. N.; Krasney, in: Kasseler Kommentar – Sozialversicherungsrecht – [Stand: 71. Erg.-Lfg., Oktober 2011], § 33 SGB X Rdnr. 8). Ein besonderes schwerwiegender, offensichtlicher Fehler im Sinne von § 40 Abs. 1 SGB X, der zur Nichtigkeit der Änderungsbescheide führen würde, wäre vorliegend nicht gegeben. Denn dem Kläger war nach den vorliegenden Unterlagen stets bewusst, welche Bewilligungsbescheide von den Rücknahmeentscheidungen betroffen waren.

(3) Wenn eine Behörde für eine Rücknahmeentscheidung die Form eines Änderungsbescheides wählt, können damit formelle Risiken verbunden sein. So kann, wenn standardisierte Bescheidmuster verwandt werden, in einem Änderungsbescheid die Rücknahmeentscheidung nicht oder nicht ausreichend begründet sein. In Bezug auf § 48 SGB X findet sich in den drei Änderungsbescheiden vom 17. Oktober 2006 jeweils nur folgende knappe Textpassage: "Folgende Änderungen sind eingetreten: Anrechnung von Einkommen - Versichertenrente". Auch wenn diese Ausführungen nicht als ausreichend anzusehen wären, um dem Begründungserfordernis aus § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i. V. m. § 35 Abs. 1 SGB X zu genügen, hätte nach § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X die Möglichkeit bestanden, den Begründungsmangel nachträglich zu heilen. Damit ist ein Verwaltungsakt, der – wie vorliegend – eine gebundene Verwaltungsentscheidung enthält (vgl. § 40 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 48 SGB X und § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III), mit einer fehlenden oder nicht ausreichenden Begründung lediglich rechtwidrig, nicht aber nichtig (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2000 – B 11 AL 85/99 RBSGE 87, 8 [11] = JURIS-Dokument Rdnr. 20, m. w. N.; Engelmann, in: von Wulffen, SGB X [7. Aufl., 2010], § 35 Rdnr. 18, m. w. N.).

d) Die Erstattungsforderung ist auch der Höhe nach nicht zu beanstanden. Die Berechnung ist korrekt. Die Herabsetzung des Erstattungsbetrages entsprechend der Ausnahmeregelung in § 40 Abs. 2 Satz 1 SGB II scheidet nach der Rückausnahmeregelung in § 40 Abs. 2 Satz 2 SGB II aus, weil dem die Leistungsbewilligungen unter Anwendung der Regelungen über den Vertrauensausschluss in § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X aufgehoben wurden.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

IV. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Dr. Scheer Höhl Atanassov
Rechtskraft
Aus
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