S 9 KG 521/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 KG 521/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Entfällt ein Anspruch auf bewilligte Familienleistungen nach deutschem Recht (z. B. auf Kindergeld nach dem BKGG), weil wegen Beschäftigungsaufnahme im Ausland ein Anspruch auf vergleichbare ausländische Leistungen entstanden ist, so ist die rückwirkende Aufhebung der Leistungsbewilligung nur zulässig, soweit die ausländische Familienleistung für die Vergangenheit noch beansprucht werden kann.

2. Soweit der Anspruch auf die vergleichbare ausländische Leistung nicht mehr durchgesetzt werden kann, handelt es sich um einen atypischen Fall i. S. d. § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X und das Ermessen der Behörde reduziert sich dahingehend auf Null, dass von einer Aufhebung und Rückforderung insoweit abzusehen ist.
Der Bescheid der Beklagten über Kindergeld nach dem BKGG vom 11.08.2009 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 01.10.2009 und des Widerspruchsbescheides vom 28.12.2009 wird aufgehoben. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung einer Kindergeldbewilligung sowie der daraus resultierenden Erstattungsforderung.

Die am xxx geborene Klägerin ist verheiratet. Aus der Ehe sind die Kinder X, geboren am xxx, X, geboren am xxx und X, geboren am xxx, hervorgegangen. Die Klägerin bezog für diese drei Kinder Kindergeld, infolge Umzugs seit September 1993 von der Kindergeldkasse des Arbeitsamtes O aufgrund eines Bescheids vom 28.10.1993. Zum 1.9.1994 nahm der Ehemann der seinerzeit und seither nicht berufstätigen Klägerin eine Beschäftigung in Frankreich auf. Dies wurde der Beklagten erstmals bekannt, als sie die Eheleute im Zusammenhang mit dem Antrag auf Weiterzahlung des Kindergeldes für den in Ausbildung befindlichen Sohn X über den 18. Geburtstag hinaus aufforderte, erneut ein Antragsformular auszufüllen und sie die darin enthaltene Frage nach einer Beschäftigung außerhalb Deutschlands wahrheitsgemäß beantworteten. Das Antragsformular ist auf den 28.9.2008 datiert, das Eingangsdatum bei der Beklagten ist nicht vermerkt.

Die Beklagte stellte daraufhin im Oktober 2008 die Kindergeldzahlung ein und forderte die Klägerin unter dem 22.10.2008 auf, sich zu erklären, ob sie in Deutschland beschäftigt sei oder Arbeitslosengeld beziehe. Andernfalls bestehe Anspruch in Frankreich auf Leistungen. Der Ehemann der Klägerin teilte hierzu am 21.11.2008 telefonisch mit, dass seine Frau nicht berufstätig sei. Auf telefonische Anfrage vom 18.2.2009 gab die Klägerin weiter an, sie arbeite bereits seit 1992 nicht mehr in Deutschland.

Mit Schreiben vom 24.7.2009 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass seit 1.9.1994 der vorrangige Anspruch auf Familienleistungen in Frankreich bestanden habe und Kindergeld nach deutschem Recht nur in Höhe der Differenzbeträge hätte gezahlt werden können; dies unabhängig davon, ob ausländische Leistungen tatsächlich gezahlt oder mangels Antragstellung nicht gezahlt würden. Es sei daher zu prüfen, ob die Kindergeldfestsetzung rückwirkend aufzuheben und das zuviel gezahlte Kindergeld von ihr zu erstatten sei. Hierzu schrieb die Klägerin am 28.7.2009: Als ihr Mann im September 1994 seinen Arbeitsplatz von Deutschland nach Frankreich verlegt habe, hätten sich die Eheleute über den neuen Arbeitgeber in Frankreich informieren lassen, wie die verschiedenen Sozialleistungen bei Wohnsitz in Deutschland und Arbeitsstelle in Frankreich abgewickelt werden. Zum Thema Kindergeld habe es damals geheißen, dass sie die Wahl hätten, ob die Klägerin weiterhin in Deutschland Kindergeld beziehe oder ob Kindergeld in Frankreich beantragt werde. Da die Leistungen in Deutschland seinerzeit höher gewesen seien, hätten sie alles beim Alten belassen. Sie hätten insbesondere in Frankreich keinen Antrag auf Kindergeld gestellt. Sie seien all die Jahre davon ausgegangen, dass alles seine Ordnung habe. Sie seien zu der geforderten Rückzahlung nicht in der Lage, da die entsprechenden Kindergeldzahlungen für den Unterhalt der Kinder verbraucht worden seien.

Mit Bescheid vom 11.8.2009 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung nach dem EStG für die Zeit von September 1994 bis September 2008 auf und forderte die Klägerin zur Erstattung eines Betrages von 55.224,75 EUR auf. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin mit Schreiben vom 29.8.2009 unter ausführlicher Begründung Einspruch. Sie wies darauf hin, dass sie bei Inanspruchnahme der französischen Familienleistungen wegen der Ausgleichszahlungen der deutschen Familienkasse in Höhe des Unterschiedsbetrages insgesamt Ansprüche in gleicher Höhe gehabt hätte wie beim tatsächlich erfolgten Kindergeldbezug allein von der Beklagten. Nun werde die Leistung für den gesamten Zeitraum seit September 1994 zurückgefordert, während die französische Kasse Leistungen aufgrund des nunmehr gestellten Antrags rückwirkend nur seit dem 1.1.2007 gewähre.

Unter dem 1.10.2009 erließ die Beklagte zwei Änderungsbescheide zum Bescheid vom 11.8.2009. Mit dem einen wurde die Festsetzung von Kindergeld nach dem Einkommenssteuergesetz (EStG) für die Zeit von Januar 2005 bis September 2008 aufgehoben und ein Erstattungsbetrag von 8901,14 EUR geltend gemacht. Dieser Betrag verringere sich aufgrund Verrechnung mit dem Nachzahlungsbetrag wegen der Unterschiedsbeträge für die Zeit von Oktober 2008 bis August 2009 sowie der Nachzahlung der französischen Familienkasse seit 1.1.2007 auf 2319,97 EUR. Mit dem anderen, vorliegend verfahrensgegenständlichen Bescheid hob die Beklagte die Bewilligung des Kindergeldes nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) für die Monate Januar 1994 bis Dezember 1995 unter Berufung auf § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) auf und machte die Erstattung in dieser Zeit überzahlten Kindergeldes i. H. v. 3435,88 EUR geltend. In einem Erläuterungsschreiben vom gleichen Tage legte die Beklagte dar, dass das Kindergeld bis zum Jahr 1995 nach den sozialrechtlichen Vorschriften des BKGG und des SGB X gewährt worden sei, seit 1996 nach dem EStG, für das die Verfahrensvorschriften der Abgabenordnung (AO) gälten. Daher sei der angefochtene Bescheid durch zwei neue Bescheide zu ersetzen gewesen. Die AO erlaube die rückwirkende Rückforderung von Kindergeld bei grober Fahrlässigkeit lediglich für fünf Jahre, hieraus resultiere die Verringerung des Erstattungsbetrages.

Gegen die Bescheide vom 1.10.2009 erhob die Klägerin durch ihre Bevollmächtigten mit Schreiben vom 12.10.2009 Einspruch, welchen die Beklagte auch als Widerspruch gegen den nach dem SGB X erlassenen Bescheid wertete. Zur Begründung ließ die Klägerin mit Rechtsanwaltsschreiben vom 11.11.2009 einen Brief ihres Ehemannes an das Finanzamt K vom 26.7.1994 vorlegen, in dem dieser die bevorstehende Beschäftigungsaufnahme in Frankreich mitteilte und u. a. um Informationen bat, was bei Beschäftigung in Frankreich und Wohnsitz in Deutschland zu beachten sei; ferner die hierauf erteilte Antwort des Finanzamts vom 1.8.1994. Bei einer telefonischen Nachfrage beim Finanzamt sei er an die Beratungsstelle I in K verwiesen worden und habe sich mit dieser in Verbindung gesetzt. Von dort habe er schließlich die Auskunft erhalten, dass er als Deutscher mit Wohnsitz in Deutschland und Erwerbstätigkeit in Frankreich wählen könne, wo er Kindergeld beantrage. Da das Kindergeld in Frankreich niedriger gewesen sei als in Deutschland, habe die Klägerin das Kindergeld weiterhin Deutschland bezogen und er damals in Frankreich keinen Antrag gestellt.

Mit Einspruchsentscheidung bzw. Widerspruchsbescheid vom 28.12.2009 wies die Beklagte den Einspruch bzw. Widerspruch gegen den Bescheid vom 11.8.2009 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 1.10.2009 zurück. In dem hier verfahrensgegenständlichen Verfahren über den Bescheid nach dem SGB X führte die Beklagte zur Begründung insbesondere aus, die Klägerin sei bei erstmaliger Antragsstellung durch das Merkblatt über Kindergeld über ihre Mitwirkungspflichten informiert worden. Diese hätten insbesondere die Pflicht enthalten, die Familienkasse über die Aufnahme der Erwerbstätigkeit des Ehegatten in Frankreich im September 1994 zu informieren. Dies habe die Klägerin nicht getan, was in Anbetracht des zuvor erteilten Hinweises im Merkblatt den Tatbestand der groben Fahrlässigkeit erfülle.

Am 29.1.2010 erhob die Klägerin die vorliegende Klage zum Sozialgericht Freiburg.

Die Klägerin verfolgt ihr Begehren aus dem Widerspruchsverfahren weiter. &8195; Sie beantragt,

den Bescheid der Beklagten über Kindergeld nach dem BKGG vom 11.8.2009 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 1.10.2009 und des Widerspruchsbescheids vom 28.12.2009 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Abweichend von der Begründung des Widerspruchsbescheids stützt sie die Entscheidung statt auf § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X nunmehr auf § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X, da eine wesentliche Änderung der Verhältnisse durch die Aufnahme der Erwerbstätigkeit in Frankreich eingetreten sei (Schriftsatz vom 15.3.2010).

Auf Anfrage des Gerichts hat der stellvertretende Leiter der Stabstelle für grenzüberschreitende Zusammenarbeit und europäische Angelegenheiten im Regierungspräsidium F, O, folgende Auskünfte zur Tätigkeit der Beratungsstelle I im August 1994 erteilt (jeweils per E-Mail): Er selbst sei damals dort tätig gewesen. Es handele sich bei I um eine Anlaufstelle, die an die jeweils zuständige Behörde bzw. die zuständigen Mitarbeiter verweise, im Falle einer Anfrage nach den Konsequenzen einer Beschäftigungsaufnahme in Frankreich auf das Kindergeld an die Kindergeldstellen. Mitarbeiterinnen, die seinerzeit telefonische Auskünfte erteilt hätten, seien Frau K vom Regierungspräsidium F und Frau E vom Département B gewesen. Er persönlich habe im August 1994 keine telefonischen Auskünfte geben können, da er sich in diesem Monat im Ausland aufgehalten habe.

Die den Kindergeldbezug der Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten (Az. xxx, 1 Bd., Bl. 1 bis 258) lag vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Verfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die genannte Verwaltungsakte sowie die Akte des Gerichts, Az. S 9 KG 521/10, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben. Sie ist auch im Übrigen zulässig und als Anfechtungsklage gem. § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft.

Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Er war daher aufzuheben.

Der angefochtene Aufhebungs- und Erstattungsbescheid kann – wie auch von der Beklagten nach Klageerhebung zutreffend erkannt – nicht auf § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X gestützt werden, denn diese Vorschrift setzt die Rechtswidrigkeit des von der Aufhebung betroffenen begünstigenden Verwaltungsakts bereits im Zeitpunkt seines Erlasses voraus (sog. ursprüngliche Rechtswidrigkeit, vgl. Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 7. A. 2010, § 45, Rz. 31 m. w. N.). Der vom angefochtenen Bescheid betroffene Bewilligungsbescheid vom 28.10.1993 war dagegen bei seinem Erlass rechtmäßig, denn der Ehemann der Klägerin hatte in diesem Zeitpunkt die zum teilweisen Wegfall des zuerkannten Anspruchs führende Beschäftigung in Frankreich noch nicht aufgenommen.

Aber auch § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X trägt den angefochtenen Bescheid nicht.

Allerdings ist gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - wie hier die Bewilligung des Kindergeldes vom 28.10.1993 - aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. In diesem Sinne wesentlich ist eine Änderung, wenn sie rechtserheblich ist. Vorausgesetzt wird also eine Änderung, die dazu führt, dass die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den ergangenen Verwaltungsakt (so) nicht hätte erlassen dürfen, etwa weil der im Bescheid festgestellte Anspruch materiell-rechtlich nicht mehr oder nicht mehr in der bewilligten Höhe besteht (Schütze a. a. O., § 48, Rz. 12). Auch ist eine derartige Änderung hier unstreitig dadurch eingetreten, dass der Ehemann der Klägerin zum 1.9.1994 eine Beschäftigung in Frankreich aufgenommen hat. § 8 Abs. 1 Nr. 2 BKGG in der bis zum 31.12.1995 geltenden Fassung (a. F.) schloss den Anspruch auf Kindergeld aus, soweit für das betreffende Kind ein Anspruch auf Leistungen bestand, die außerhalb des Geltungsbereiches des BKGG gewährt wurden und dem Kindergeld vergleichbar waren. Bei den Familienleistungen nach französischen Rechtsvorschriften, auf die der Ehemann der Klägerin als in Frankreich Beschäftigter dem Grunde nach Anspruch hatte, handelte es sich um dem Kindergeld vergleichbare Leistungen im Sinne dieser Vorschrift. Da diese Familienzulagen im verfahrensgegenständlichen Zeitraum niedriger gewesen wären als der Kindergeldanspruch nach dem BKGG, hatte die Klägerin lediglich einen Anspruch auf den Ausgleichsbetrag gem. § 8 Abs. 2 BKGG a. F. Der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld nach dem BKGG war somit im verfahrensgegenständlichen Zeitraum um den Betrag des Anspruchs auf französische Familienleistungen geringer als mit Bescheid vom 28.10.1993 zuerkannt.

Die von der Beklagten verfügte Aufhebung der Bewilligung bereits mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an setzt gem. § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X mangelnde Schutzwürdigkeit des Bescheidadressaten voraus. Diese ist insbesondere gegeben, wenn der Betroffene entweder einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X) oder wenn der Betroffene wusste oder weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat nicht wusste, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X). Die weiteren gesetzlichen Tatbestände mangelnder Schutzwürdigkeit – Änderung zugunsten des Betroffenen (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X) oder Erzielung von Einkommen oder Vermögen nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X) – sind hier offensichtlich nicht einschlägig. Der objektive Tatbestand der Nr. 2 a. a. O. ist dagegen erfüllt. Die Klägerin war durch Rechtsvorschrift, nämlich § 60 Abs. 1 Nr. 2 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) verpflichtet, Änderungen in den Verhältnissen, die für die bewilligte Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich mitzuteilen. Dieser Verpflichtung ist sie nach Aufnahme der Beschäftigung in Frankreich durch ihren Ehemann nicht nachgekommen. Zumindest fraglich ist aber das Vorliegen der hierfür sowie für Nr. 3 a. a. O. erforderlichen weiteren Voraussetzungen des Vorsatzes oder grober Fahrlässigkeit.

Vorsätzlich handelt, wer willentlich und wissentlich seine Mitwirkungspflicht verletzt oder um den Wegfall des Anspruchs weiß. Grobe Fahrlässigkeit liegt nach der auch bei der Anwendung von § 48 SGB X maßgeblichen (Schütze, a. a. O., § 48, Rz. 23) Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB X vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Dabei ist ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab anzulegen. Grobe Fahrlässigkeit ist zu bejahen, wenn der Betroffene schon einfachste, naheliegende Überlegungen nicht angestellt und deshalb nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste. Entscheidend sind stets die besonderen Umstände des Einzelfalles und die individuellen Fähigkeiten des Betroffenen, d. h. seine Urteilsfähigkeit und sein Einsichtsvermögen, im Übrigen auch sein Verhalten. Das Nichtbeachten von Vorschriften, auf die in einem Merkblatt oder auf sonstige geeignete Weise besonders hingewiesen wird, ist im allgemeinen grob fahrlässig, es sei denn, dass der Betroffene die Vorschrift nicht verstanden hat. Grobe Fahrlässigkeit liegt daher regelmäßig vor, wenn der Inhalt von Antragsformularen, bei Antragstellung ausgehändigten Merkblättern oder des bewilligenden Bescheides selbst nicht zur Kenntnis genommen wird (Schütze, a. a. O., § 45, Rz. 57). Entsprechend ist einem Betroffenen grobe Fahrlässigkeit i. S. v. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X bezüglich der Unkenntnis vom Wegfall des Anspruchs vorzuwerfen, wenn er auf solche Weise unmissverständlich über die Anspruchsvoraussetzungen informiert wurde.

Zwar lässt sich der Inhalt des "Merkblatts über Kindergeld", dessen Erhalt und Kenntnisnahme die Klägerin vor dem Bewilligungsbescheid vom 28.10.1993 zuletzt bei Antragstellung im Dezember 1985 durch ihre Unterschrift bestätigt hat, nicht mehr feststellen. Der Bevollmächtigte der Beklagten hat auf entsprechende Frage in der Sitzung vom 27.3.2012 erklärt, dieses Merkblatt nicht mehr zur Verfügung zu haben. Die Klägerin wurde aber im damaligen Antragsformular ausdrücklich u. a. gefragt, ob sie oder ihr Ehegatte in den letzten sieben Monaten vor der Antragstellung außerhalb der Bundesrepublik Deutschland beruflich tätig (gewesen) seien. Danach war für die Klägerin erkennbar, dass bereits die Aufnahme einer Beschäftigung im Ausland durch sie oder ihren Ehemann den Anspruch auf Kindergeld beeinflussen konnte. Mit Unterzeichnung des Antragsformulars bestätigte die Klägerin zudem, dass ihr die Verpflichtung zur Mitteilung aller Änderungen bekannt ist, die für den Anspruch auf Kindergeld von Bedeutung sind. Dieser Sachverhalt würde es grundsätzlich rechtfertigen, das Unterlassen einer Mitteilung der Beschäftigungsaufnahme in Frankreich (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X) und das Verkennen der fehlenden Rechtmäßigkeit des weiteren Bezuges von Kindergeld in unveränderter Höhe (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X) als grob fahrlässig zu bewerten.

Der für die Beurteilung des Grades des diesbezüglichen Verschuldens maßgebliche Sachverhalt beschränkt sich indessen nicht auf diese Tatsachen. Die Kammer sieht es vielmehr als bewiesen an, dass der Ehemann der Klägerin sich tatsächlich zeitnah vor Aufnahme der Beschäftigung in Frankreich bemüht hat, Auskunft zu deren Konsequenzen u. a. für den Kindergeldanspruch zu erhalten. Die Behauptung der Eheleute, der Ehemann der Klägerin sei vom Finanzamt K deswegen an die Beratungsstelle I verwiesen worden und habe sich dort telefonisch erkundigt, wird durch die vorgelegten Schreiben des Ehemannes an das Finanzamt K vom 26.7.1994, die Antwort dieser Behörde vom 1.8.1994 sowie die darauf befindlichen handschriftlichen Notizen objektiv gestützt (Bl. 251 ff. VA). Diese Notizen hält die Kammer für authentisch, d. h. es ist davon auszugehen, dass sie tatsächlich zeitnah aufgrund damaliger Telefongespräche mit dem Finanzamt und der Beratungsstelle I angefertigt wurden. Hierfür spricht, dass nach der schriftlichen Auskunft des seinerzeit bei I tätigen Herrn O die auf dem Schreiben des Finanzamts notierten Rufnummern bereits im August 1994 zutreffend waren und zu dieser Zeit dort eine Frau E arbeitete, was mit dem auf dem Schreiben des Finanzamts handschriftlich notierten Namen ("Fr. E") korrespondiert. Diese Umstände konnten der Klägerin und ihrem Ehemann bei Vorlage dieser Unterlagen im November 2009 nicht bekannt sein, was eine nachträgliche Manipulation praktisch ausschließt.

Das Gericht geht auch davon aus, dass der Ehemann der Klägerin nach dem Telefongespräch mit I von einer unzutreffenden Rechtslage ausging. Wäre ihm nämlich bewusst gewesen, dass von seiner Beschäftigungsaufnahme in Frankreich an der Anspruch auf Familienleistungen primär nach französischem Recht und gegen die Beklagte lediglich in Höhe des Unterschiedsbetrags bestand, so hätte es jeder Vernunft widersprochen, die Leistungen nicht dieser Rechtslage entsprechend zu beantragen. Das Unterlassen eines Antrags auf französische Familienleistungen bei gleichzeitigen Weiterbezug von Kindergeld nach dem BKGG in voller Höhe in Kenntnis der entgegenstehenden Rechtslage hätte nämlich der Familie keinerlei materiellen Vorteil gebracht, zugleich aber offensichtlich das (später in Gestalt des verfahrensgegenständlichen Bescheides realisierte) Risiko einer rückwirkenden Aufhebung der Kindergeldbewilligung und Geltendmachung von Erstattungsforderungen beinhaltet.

All dies führt jedoch nicht schon zwingend zu dem Schluss, dass die Klägerin und ihr Ehemann seinerzeit auch einem Rechtsirrtum unterlagen, der ihre grobe Fahrlässigkeit bezüglich des Verstoßes gegen ihre Mitteilungspflicht sowie des Nichterkennens der Rechtswidrigkeit des weiteren Kindergeldbezuges ausschließt. Der Wegfall der groben Fahrlässigkeit wäre nur dann zu bejahen, wenn dem Ehemann der Klägerin seinerzeit von I tatsächlich gesagt worden wäre (oder er die Auskunft ohne grobe Fahrlässigkeit dahingehend missverstanden hätte), dass in seiner Situation ein Wahlrecht bestehe, ob deutsche oder französische Familienleistungen in Anspruch genommen werden. Dies behauptet zwar die Klägerin. Denkbar ist aber auch, dass der Ehemann zutreffend über die Rechtslage informiert oder – wie nach Angaben des Herrn O bei I üblich – an die Beklagte als zuständige Kindergeldstelle verwiesen wurde und dass er diese Auskunft grob fahrlässig missverstanden oder vorsätzlich ignoriert hat. Nicht auszuschließen ist schließlich eine falsche oder falsch verstandene Auskunft des Inhalts, dass ausschließlich noch ein Anspruch auf französische Familienleistungen in geringerer Höhe bestehe, was ein Motiv sogar für ein vorsätzliches Verhalten darstellen könnte. Für letzteres könnte sprechen, dass auf dem Schreiben des Finanzamts vom 1.8.1994, S. 2, handschriftlich das zu erwartende "Kindergeld" nach französischem Recht mit "1500 FF" notiert wurde.

Eine weitere Aufklärung des Sachverhalts wäre insoweit – wenn überhaupt, was in Anbetracht der seit den maßgeblichen Vorgängen verstrichenen Zeit höchst zweifelhaft erscheint – nur noch durch eine Vernehmung des Ehemannes der Klägerin und der Frau E als Zeugen möglich. Dieser Ermittlungen bedarf es jedoch nicht, denn der angefochtene Bescheid ist unabhängig von der Frage des Vorsatzes oder der groben Fahrlässigkeit der Klägerin rechtlich nicht haltbar.

Gemäß § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X "soll" der Verwaltungsakt lediglich bei Vorliegen der dort näher bestimmten tatbestandlichen Voraussetzungen aufgehoben werden. Das bedeutet, dass der Leistungsträger den Verwaltungsakt in der Regel rückwirkend aufheben muss, jedoch in atypischen Fällen nach seinem Ermessen hiervon abweichen kann. Die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, ist nach ständiger Rechtsprechung nicht im Wege der Ermessensausübung zu klären, sondern unterliegt als Rechtsvoraussetzung der vollen gerichtlichen Kontrolle (vgl. Schütze, a. a. O., Rz. 20, m. w. N.). Da das Gesetz die mit einer rückwirkenden Aufhebung von Leistungsbewilligungen sowie der sich daraus resultierenden Erstattung verbundenen wirtschaftlichen Belastungen im Grundsatz jedem Betroffenen zumutet, kann hierauf die Annahme eines atypischen Falles nicht gestützt werden, ebensowenig wie auf den Verbrauch der zu Unrecht bewilligten Leistungen allein. Das BSG hat aber in ständiger Rechtsprechung einen atypischen Fall angenommen, wenn der Betroffene infolge des Wegfalls derjenigen Sozialleistung, deren Bewilligung rückwirkend aufgehoben wurde, im Nachhinein unter den Sozialhilfesatz sinken oder vermehrt sozialhilfebedürftig würde. Dabei liegt eine unbillige Härte nach dieser Rechtsprechung darin, dass Sozialhilfeansprüche, die dem Betroffenen bei rechtzeitiger Beantragung zugestanden hätten, für die Vergangenheit nicht mehr geltend gemacht werden können. Dadurch ergibt sich für den Betroffenen ein über die Rückzahlungsverpflichtung hinausgehender zusätzlicher Schaden, weil ihm Sozialhilfeansprüche entgangen sind, die ihm zugestanden hätten, wenn ihm die zu Unrecht bewilligte Sozialleistung, deren rückwirkende Aufhebung nun betrieben wird, von vornherein nicht zugeflossen wäre. Damit hätte der Betroffene im Ergebnis aus seinem gegenwärtigen Einkommen und Vermögen solche Leistungen zu erstatten, die ihm in der Vergangenheit als andere Sozialleistung zugestanden hätten. In Höhe dieser entgangenen anderen Leistungen ist das Ermessen dahingehend auf Null reduziert, dass insoweit von der Aufhebung der Leistungsbewilligung abzusehen ist (vgl. zu all dem BSG-Urt. v. 12.12.1995, Az. 10 RKg 9/95 u. v. 23.3.1995, Az. 13 RJ 39/94, beide in (juris), jew. m w. N.).

Diese Überlegungen treffen nach Überzeugung des Gerichts in vollem Umfang auch auf den vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt zu. Der Klägerin hätten im verfahrensgegenständlichen Zeitraum anstelle des zu Unrecht bewilligten Teils des Kindergeldes nach dem BKGG Familienleistungen nach französischem Recht in gleicher Höhe zugestanden, die sie nunmehr aufgrund der versäumten rechtzeitigen Antragstellung nicht mehr beanspruchen kann. Dadurch wird sie in gleicher Weise wie die Betroffenen in den vom BSG entschiedenen Fällen doppelt belastet, weil sie nicht lediglich die Leistungen zurückzahlen muss, die ihr nicht zustanden, sondern sie zugleich auch die Sozialleistungen nicht mehr erhalten kann, auf die sie stattdessen einen Anspruch gehabt hätte. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass die Annahme eines atypischen Falls beim Verlust von Sozialhilfeansprüchen wegen des hierdurch gewährleisteten Existenzminimums dringender ist als beim Verlust von Familienleistungen. Denn erstens begründet das BSG seine Rechtsprechung nicht mit der grundrechtlichen und sozialstaatlichen besonderen Bedeutung gerade von Sozialhilfeansprüchen, sondern leitet die Atypik abstrakt aus dem Zusammentreffen von Erstattungsverpflichtung einerseits, dem Ausschluss der rückwirkenden Geltendmachung alternativer Sozialleistungsansprüche andererseits ab. Zweitens dienten zumindest bis zum 31.12.1995 die in Deutschland durch das Kindergeld nach dem BKGG konkretisierten Ansprüche auf Familienleistungen auch der Gewährleistung des für einen menschenwürdiges Dasein erforderlichen Existenzminimums durch Steuerfreistellung; darüber hinaus bezweckte es damals und noch heute die Verwirklichung der verfassungsrechtlich garantierten Familienförderung und des Sozialstaatsprinzips (vgl. BVerfG-Beschl. v. 6.7.2004, Az. 1 BvL 4/97, (juris), m. w. N.). Die rückwirkende Aufhebung einer BKGG-Leistungsbewilligung bei gleichzeitigem Ausschluss der Verwirklichung zeitlich korrespondierender vergleichbarer Familienleistungen berührt daher in vergleichbarer Weise grundrechtlich geschützte Belange des Betroffenen. Schließlich ändert sich die Beurteilung auch nicht deshalb, weil die objektiv richtige Sozialleistung im verfahrensgegenständlichen Zeitraum anders als in den bereits vom BSG entschiedenen Fällen nicht von einem deutschen, sondern vor einem ausländischen Sozialleistungsträger zu erbringen gewesen wäre. Denn es spielt für die doppelte Belastung des Adressaten durch rückwirkende Leistungsaufhebung einerseits, Verlust des gegen einen anderen gerichteten Sozialleistungsanspruchs andererseits keine Rolle, wer der andere Leistungsträger ist.

Das danach gebotene Ermessen hat die Beklagte bei Erlass des angefochtenen Bescheids ausweislich von dessen Begründung – aus der dies hervorzugehen hat, vgl. § 35 Abs. 1 S. 2 SGB X – nicht ausgeübt. Im Widerspruchsbescheid wurde vielmehr, noch ausgehend von § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X als Rechtsgrundlage, ausgeführt: "Die Bewilligung des Kindergeldes ist daher ( ...) teilweise zurückzunehmen bzw. aufzuheben", was eine vermeintlich gebundene Entscheidung widerspiegelt. Da ein derartiger Ausfall des gesetzlich eingeräumten Ermessens nicht lediglich einen Mangel der Ermessensbegründung darstellt, kann er nach zutreffender Auffassung nicht etwa nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens durch Nachschieben von Ermessensgründen nach Maßgabe von § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X geheilt werden (Schütze, a. a. O., § 41, Rz. 11 m. w. N.). Im übrigen wäre wegen der hier anzunehmenden Ermessensreduzierung auf Null (BSG a. a. O.) jede andere Entscheidung als ein vollständiges Absehen von der Aufhebung ohnehin ermessensfehlerhaft. Die Aufhebungsverfügung im angefochtenen Verwaltungsakt ist daher unheilbar rechtswidrig.

Die danach vom Gericht auszusprechende Aufhebung der im angefochtenen Verwaltungsakt verfügten teilweisen Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 28.10.1993 zieht zugleich die Rechtswidrigkeit und damit die Aufhebung der im angefochtenen Bescheid verfügten Erstattungsforderung nach sich, denn deren Festsetzung setzt gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X die Aufhebung des bewilligenden Verwaltungsakts voraus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits.
Rechtskraft
Aus
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