Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 8 KR 372/09
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 45/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Bei einem unstreitigen (medizinischen) Sachverhalt ist es Aufgabe des Gerichts, diesen unter die Diagnosen aus dem ICD-10-GM-Katalog (unter Berücksichtigung dessen Systematik und der allgemeinen Auslegungsmethoden der Rechtswissenschaft, d. h. am Wortlaut orientiert und unterstützt durch systematische Erwägungen) zu subsumieren.
Das angerufene Gericht darf sich dieser genuin eigenen Aufgabe nicht dadurch entziehen, dass es zwecks Beantwortung der zu entscheidenden Rechtsfrage medizinische Sachverständigengutachten einholt.
(nachfolgend BSG: B 1 KR 97/15 B)
Das angerufene Gericht darf sich dieser genuin eigenen Aufgabe nicht dadurch entziehen, dass es zwecks Beantwortung der zu entscheidenden Rechtsfrage medizinische Sachverständigengutachten einholt.
(nachfolgend BSG: B 1 KR 97/15 B)
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 13. Dezember 2011 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
IV. Der Streitwert wird auf 3.207,84 EUR festgesetzt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Vergütungsanspruchs für eine stationäre Krankenhausbehandlung und dabei über die Anwendung zweier unterschiedlich zu vergütender Diagnosis Related Groups (DRG) nach dem Fallpauschalenkatalog 2008.
Die Klägerin und Berufungsbeklagte betreibt ein nach § 108 Nr. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) zur Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung zugelassenes Krankenhaus (Plankrankenhaus). Die 1937 geborene und bei der Beklagten und Berufungsklägerin gesetzlich krankenversicherte H. W (nachfolgend: Versicherte) war am 4. Februar 2008 mit einer Hüft-Totalendoprothese (Hüft-TEP) rechts versorgt worden. Nach einem Sturz im häuslichen Bereich am 7. Juni 2008 erfolgte am 13. Juni 2008 wegen Schmerzen und Knacken in der rechten Hüfte zunächst die Notfallaufnahme im Klinikum R -G und am selben Tag die Verlegung in das Krankenhaus der Klägerin. Am 17. Juni 2008 wurde dort eine Osteosynthese mit drei Cerclagen durchgeführt. Am 2. Juli 2008 wurde die Versicherte, an zwei Unterarm-Gehstützen mobilisiert, entlassen. Die Klägerin kodierte die Hauptdiagnose M96.6 ("Knochenfraktur nach Einsetzen eines orthopädischen Implantates, einer Gelenkprothese oder einer Knochenplatte") und beanspruchte auf Grund der dadurch angesteuerten DRG I08B ("Andere Eingriffe an Hüftgelenk und Femur mit Mehrfacheingriff, komplexer Prozedur oder komplexer Diagnose bei zerebraler Lähmung oder mit äußerst schweren CC oder Ersatz des Hüftgelenkes mit Eingriff an oberer Extremität oder Wirbelsäule, Alter ) 15 Jahre") gegenüber der Beklagten mit Rechnung vom 15. Juli 2008 eine Vergütung in Höhe von insgesamt 9.874,53 EUR.
Die Beklagte beglich die Rechnung zunächst in voller Höhe. Am 18. August 2008 erfolgte eine Prüfanzeige seitens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Sachsen, welche sich u. a. auf die Kodierung der Hauptdiagnose bezog. Bereits am 15. Oktober 2008 rechnete die Beklagte den nach ihrer Auffassung überzahlten Differenzbetrag von 3.207,87 EUR mit einer unstreitigen Vergütungsforderung der Klägerin auf. Nachdem der Sachverständige im MDK Dipl. Med. U ; Facharzt für Chirurgie, in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme vom 24. November 2008 ausgeführt hatte, die Hauptdiagnose M96.6 sei nicht zu kodieren, wenn ICD-Kodes aus den Organkapiteln - hier: S72.11 ("Pertrochantäre Fraktur, Intertrochantär") oder S72.2 ("Subtrochantäre Fraktur") - anwendbar seien, forderte die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 1. Dezember 2008 zur Korrektur der Rechnung unter Verwendung der DRG I08B ("Andere Eingriffe an Hüftgelenk und Femur mit Mehrfacheingriff, komplexer Prozedur, komplexer Diagnose oder äußerst schweren CC") auf.
Mit der am 1. Oktober 2009 bei dem Sozialgericht Leipzig (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin den Differenzbetrag in Höhe von in Höhe von 3.207,87 EUR zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozent über dem Basiszinssatz seit dem 16. Oktober 2008 geltend gemacht und zur Begründung ausgeführt, die Auswahl der S-Diagnosen verstoße gegen die Deutschen Kodierrichtlinen (DKR Version 2008) und die dort in der Kodierregel D002f zur Hauptdiagnose enthaltenen Ausführungen zu "Erkrankungen bzw. Störungen nach medizinischen Maßnahmen". Bei S-Diagnosen bliebe die Besonderheit, dass es sich um einen Bruch nach Einsetzen einer Endoprothese handelt, unberücksichtigt. Ohne Endoprothese hätte sich die Versicherte bei einem Sturz möglicherweise gar keinen Bruch zugezogen. Die Endoprothese sei daher als wesentliche Ursache für die Fraktur zu betrachten; die Schlüsselnummer M96.6 sei daher spezifischer. Auch das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) habe in einer Stellungnahme aus dem Jahr 2006 bestätigt, dass M96.6 für die direkt mit der medizinischen Maßnahme im Zusammenhang stehende Fraktur gedacht sei. Ein entsprechender Änderungsvorschlag für die ICD-10-GM 2010 mit dem Ziel der genaueren Beschreibung von M96.6 sei bereits von anderer Stelle an das DIMDI gerichtet worden.
Das SG hat die Behandlungsunterlagen der Klägerin beigezogen und Prof. Dr. G , Facharzt für Chirurgie und Traumatologie, mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. In seinem Gutachten vom 12. Januar 2011 hat der Sachverständige ausgeführt, der originäre Oberschenkelknochenanteil im Trochanterbereich sei zum Zeitpunkt der Fraktur nicht mehr vorhanden, sondern durch die Hüft-TEP wesentlich verändert gewesen. Für dieses "veränderte Organ" gebe es in den Organkapiteln der ICD-10-GM keine Schlüsselnummern. Die von der Klägerin gewählte Schlüsselnummer M96.6 beschreibe genau den Umstand, dass durch die Protheseneinsetzung der Oberschenkelknochen erheblich in seiner biomechanischen Qualität verändert worden sei. Nach den Befundunterlagen sei der Bruch in Lage und Verlauf klassisch für die besonderen mechanischen Verhältnisse im Prothesenschaftlager aufgetreten.
Die Beklagte hat geltend gemacht, die Klage sei bereits unzulässig, da die Klägerin unter Verstoß gegen die maßgebliche landesrechtliche Vereinbarung zu den allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1 und 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) Klage erhoben habe, bevor das MDK-Prüfverfahren mit Durchführung einer Zweitbegutachtung abgeschlossen worden sei. Sie sei zudem unbegründet. Insoweit stütze sie sich auf die ergänzenden Gutachten der Sachverständigen im MDK Dr. K vom 27. Dezember 2010 und Dr. H vom 9. August 2011.
Mit Urteil vom 13. Dezember 2011 hat das SG die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung des Differenzbetrages zuzüglich Zinsen verurteilt. Die Klage sei zulässig und begründet. Zur Begründung hat es sich auf die Ausführungen von Prof. Dr. G gestützt. Der besondere Umstand, dass die Fraktur in einem voroperierten und damit vorbelasteten Bereich eingetreten sei, werde nicht durch die von der Beklagten genannten S-Schlüsselnummern, sondern ausschließlich durch M96.6 zutreffend wiedergegeben. Auch werde der erhöhte Behandlungsaufwand und Ressourcenverbrauch nur durch M96.6 hinreichend abgebildet.
Mit der am 2. März 2012 eingelegten Berufung macht die Beklagte geltend, das SG habe nicht beachtet, dass die Fraktur bei der Versicherten durch einen Sturz entstanden sei. Ohne Berücksichtigung des Sturzes bräche die vom SG aufgestellte Kausalkette in sich zusammen. Da die Fraktur damit maßgeblich durch äußere Umstände verursacht worden sei, scheide als Diagnose eine Schlüsselnummer aus Kapitel XIII der ICD-10-GM ("Krankheiten des Muskel-skelett-Systems und des Bindegewebes") aus. Vielmehr müsse eine Schlüsselnummer aus Kapitel XIX (" Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere folgen äußerer Ursachen") gewählt werden. Dies gelte nicht nur in Bezug auf die Haupt-, sondern auch für die Nebendiagnose. Eine Mehrfachkodierung von M96.6 und S72.11 bzw. S72.2 komme unter Berücksichtigung der Kodierregel D012f gleichfalls nicht in Betracht. Dem Umstand, dass der Frakturbereich bereits endoprothetisch verändert gewesen sei, könne durch die - nicht DRG-relevante - Nebendiagnose Z96.6 ("Vorhandensein von orthopädischen Gelenkimplantaten") hinreichend Rechnung getragen werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 13. Dezember 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und verweist ergänzend auf das im Verfahren vor dem SG Halle (S 16 KR 192/12) eingeholte Gutachten von M E , Arzt, Medizincontroller und Vorstand der DMI Systems AG, vom 9. Juli 2015. Dieser habe bei einem vergleichbaren Sachverhalt zwar die Hauptdiagnose mit einer S-Schlüsselnummer kodiert, jedoch - unter Rückgriff auf eine Stellungnahme des DIMDI aus dem Jahr 2012 - zur vollständigen Abbildung des Sachverhalts die Kodierung M96.6 als Nebendiagnose empfohlen. Auch mit M96.6 als Nebendiagnose werde die von ihr in Rechnung gestellte DRG I08B angesteuert.
Gegenstand der Verhandlung und Entscheidungsfindung waren die Patientenakte der Versicherten, die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Instanzen. Im Übrigen wird auf den gesamten Akteninhalt, insbesondere den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten, Bezug genommen und verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist begründet. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf Zahlung des Differenzbetrages in Höhe von 3.207,87 EUR zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozent über dem Basiszinssatz seit dem 16. Oktober 2008. Hinsichtlich der Prozessvoraussetzungen für die erhobene Klage und der allgemeinen tatbestandlichen Voraussetzungen für den geltend gemachten Vergütungsanspruch wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die insoweit - bezogen auf die Zulässigkeit der Klage zumindest im Ergebnis - zutreffenden Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil Bezug genommen. Das SG hat jedoch zu Unrecht angenommen, die Hauptdiagnose sei mit M96.6 zu verschlüsseln und die Behandlung folglich mit der dadurch angesteuerten DRG I08B zu vergüten. Die Auslegung der maßgeblichen Schlüsselnummern ergibt, dass die Hauptdiagnose mit S72.11 bzw. S72.2 zu verschlüsseln und die Behandlung mit der dadurch angesteuerten DRG I08C zu vergüten ist.
Vorab ist festzustellen, dass bezüglich des bei der Versicherten vorhandenen Krankheitsbildes der medizinische Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht bereits zum Zeitpunkt der Behandlung und nachfolgenden Rechnungslegung geklärt und zwischen den Beteiligten auch unstreitig war. Streitig war und ist ausschließlich die Kodierung der (unstreitigen) Erkrankung. Bei einem derartigen Sachverhalt bedarf es grundsätzlich nicht der Inanspruchnahme (medizinischer) Sachverständiger (ebenso: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12. August 2011 - L 4 KR 5345/09 - juris Rn. 32). Sachverständige haben lediglich die Aufgabe, dem Gericht Fachwissen zur Beurteilung von Tatsachen sowie die Kenntnis abstrakter Erfahrungssätze zu vermitteln und, soweit dazu besondere Fachkenntnis erforderlich ist, Tatsachen festzustellen und in Anwendung ihres Fachwissens im Wege der Wertung aus diesen Tatsachen Schlussfolgerungen zu ziehen; sie beurteilen also die Tatsachen (vgl. Reichold in: Thomas/Putzo, ZPO [33. Aufl. 2012], § 402 Rn. 1). Entsprechend bestehen die wechselseitigen Auskunfts-, Prüf- und Mitwirkungspflichten zwischen Krankenhäusern, Krankenkassen und dem MDK auf drei Ebenen und eine Einschaltung des MDK ist erst dann zur Klärung von (medizinischen) Zweifelsfragen erforderlich, wenn die auf der ersten Stufe vom Krankenhaus gegenüber der Krankenkasse zu machenden Angaben nach § 301 Abs. 1 SGB V zur (nicht-medizinischen) Beurteilung der Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung oder der weiteren Abrechnungsvoraussetzungen nicht ausreichen (BSG, Urteil vom 21. März 2013 - B 3 KR 28/12 R - juris Rn. 12; Urteil vom 16. Mai 2012 - B 3 KR 14/11 R - juris Rn. 18 ff.). Die vorliegend streitige Kodierung erforderte ausschließlich die Anwendung und Auslegung der ICD-10-GM sowie der DKR (jeweils in der Version 2008) durch das Gericht nach den allgemeinen Auslegungsmethoden der Rechtswissenschaft. Folglich sind die eingeholten und beigezogenen Gutachten und Stellungnahmen der medizinischen Sachverständigen - ebenso wie die Stellungnahmen des DIMDI aus den Jahren 2006 und 2012 - nur insoweit von Belang, als sie dem Gericht einen Überblick über das in der medizinischen Wissenschaft und Praxis vorhandene (unterschiedliche) Kodierverständnis verschaffen.
Es bleibt somit festzuhalten, dass die vorliegend streitige Anwendung der ICD-10-GM und ihrer Schlüsselnummern grundsätzlich den allgemeinen Auslegungsmethoden der Rechtswissenschaft unterliegt. Abrechnungsbestimmungen sind allerdings wegen ihrer Funktion im Gefüge der Ermittlung des Vergütungstatbestandes innerhalb eines vorgegebenen Vergütungssystems streng nach ihrem Wortlaut und - nur soweit der Wortlaut zweifelhaft und mehrdeutig ist - zur Unterstützung und Klarstellung mittels systematischer Interpretation auszulegen. Ergeben sich bei der Abrechnung Wertungswidersprüche und sonstige Ungereimtheiten, sind in erster Linie die Vertragsparteien berufen, diese durch Änderungen im Fallpauschalenkatalog, im OPS-301 und in den Kodierrichtlinien für die Zukunft zu beseitigen, wenn sie Handlungsbedarf sehen (BSG, Urteil vom 13. November 2012 - B 1 KR 14/12 R - juris Rn. 14; Urteil vom 8. November 2011 - B 1 KR 8/11 R - juris Rn. 27; Urteil vom 25. November 2010 - B 3 KR 4/10 R - juris Rn. 18; zur Auslegung vertragsärztlicher Vergütungsbestimmungen: BSG, Urteil vom 10. Dezember 2008 - B 6 KA 66/07 R - juris Rn. 17).
Die an Wortlaut und Systematik der ICD-10-GM orientierte Auslegung bestätigt im Ergebnis die Auffassung der Beklagten, dass vorliegend nicht M96.6 als Hauptdiagnose zu kodieren war. Zu Beginn des Kapitels XIII ("Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes", M00-M99) sind zahlreiche Exklusiva aufgeführt, u. a. "Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)". Da unter den genannten Schlüsselnummern die - vorliegend in Folge eines Sturzes eingetretene - per- bzw. subtrochantäre Fraktur des Femurs (S72.1 bzw. S72.2) genannt wird, scheidet bereits aus diesem Grund eine Verschlüsselung mit M96.6 aus. Dies wird untermauert durch die Kodierregel D002f, in welcher unter der Überschrift "Erkrankungen bzw. Störungen nach medizinischen Maßnahmen" ausgeführt wird: " [ ] Diese Kodes sind nur dann als Hauptdiagnose zu verschlüsseln, wenn kein spezifischerer Kode in Bezug auf die Erkrankung bzw. Störung existiert oder die Verschlüsselung dieses spezifischeren Kodes durch ein Exklusivum der ICD-10-GM Version 2008 ausgeschlossen ist.". Diese Kodierregel gibt, bezogen auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation, im Grunde die bereits in der ICD-10-GM angelegte Ausschlussregelung - lediglich mit anderen Worten - wieder. Daraus folgt, dass M96.6 nur dann kodiert werden kann, wenn das Implantat - sei es intra- oder postoperativ - allein für sich betrachtet die Knochenfraktur verursacht hat, nicht jedoch dann, wenn zusätzlich äußere Ursachen (z. B. Sturz, Einklemmung, Stauchung etc.) für den konkreten Eintritt der Fraktur verantwortlich sind. Bestätigt wird dieses Ergebnis ferner durch die übrigen unter M96.- ("Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems nach medizinischen Maßnahmen, andernorts nicht klassifiziert") aufgeführten Krankheitsbilder (M96.0-9), bei denen es sich stets um schädliche (Neben-)Folgen - gewissermaßen: die "Kehrseite" - kurativer medizinischer Behandlungen handelt.
Eine Mehrfachkodierung kommt vorliegend unter Berücksichtigung der Kodierregel D012f nicht in Betracht. Dies ist ersichtlich zwischen den Beteiligten unstreitig. Aber auch eine Kodierung M96.6 als Nebendiagnose ist nicht möglich. Es erscheint bereits generell fraglich, ob ein und dieselbe Krankheit allein mit der Begründung, dies diene der genaueren (und erlösgerechteren) Beschreibung bzw. der Verdeutlichung der Komplexität, mit zwei unterschiedlichen Schlüsselnummern kodiert werden kann. Dagegen spricht bereits die Definition der Nebendiagnose in der Kodierregel D003d als "Eine Krankheit oder Beschwerde, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Krankenhausaufenthaltes entwickelt". Sie wird dort ferner als "Begleitkrankheit" bezeichnet. Im Fall der Versicherten ist jedoch M96.6 ("Knochenfraktur nach Einsetzen einer Gelenkprothese") keine Begleiterkrankung zu S72.1 bzw. S72.2 ("per- bzw. subtrochantäre Fraktur des Femurs"), sondern vielmehr die Beschreibung derselben Krankheit mit anderem Schwerpunkt. Ungeachtet des Vorstehenden scheidet jedenfalls vorliegend die Kodierung M96.6 als Nebendiagnose aus, da sich die Kodierung von Nebendiagnosen im Wesentlichen nach den für die Kodierung von Hauptdiagnosen geltenden Grundsätzen richtet. Sie sind ebenfalls "nach Analyse" zu kodieren (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 2015 - B 1 KR 13/14 R - juris Rn. 19); auch hier sind die in der ICD-10-GM vorgegebenen Exklusiva zu beachten.
Als Hauptdiagnose war damit S72.11 bzw. S72.2 zu kodieren mit der Folge, dass die Behandlung nur, wie von der Beklagten durchgeführt, mit der dadurch angesteuerten DRG I08C zu vergüten war. Soweit die Klägerin bei diesem Vorgehen die fehlende Berücksichtigung der liegenden Endoprothese bemängelt, könnte dem durch die - nicht erlösrelevante - Nebendiagnose Z96.6 ("Vorhandensein von orthopädischen Gelenkimplantaten") Rechnung getragen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG).
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen für die Zulassung nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Schanzenbach Richter am Landessozialgericht
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
IV. Der Streitwert wird auf 3.207,84 EUR festgesetzt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Vergütungsanspruchs für eine stationäre Krankenhausbehandlung und dabei über die Anwendung zweier unterschiedlich zu vergütender Diagnosis Related Groups (DRG) nach dem Fallpauschalenkatalog 2008.
Die Klägerin und Berufungsbeklagte betreibt ein nach § 108 Nr. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) zur Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung zugelassenes Krankenhaus (Plankrankenhaus). Die 1937 geborene und bei der Beklagten und Berufungsklägerin gesetzlich krankenversicherte H. W (nachfolgend: Versicherte) war am 4. Februar 2008 mit einer Hüft-Totalendoprothese (Hüft-TEP) rechts versorgt worden. Nach einem Sturz im häuslichen Bereich am 7. Juni 2008 erfolgte am 13. Juni 2008 wegen Schmerzen und Knacken in der rechten Hüfte zunächst die Notfallaufnahme im Klinikum R -G und am selben Tag die Verlegung in das Krankenhaus der Klägerin. Am 17. Juni 2008 wurde dort eine Osteosynthese mit drei Cerclagen durchgeführt. Am 2. Juli 2008 wurde die Versicherte, an zwei Unterarm-Gehstützen mobilisiert, entlassen. Die Klägerin kodierte die Hauptdiagnose M96.6 ("Knochenfraktur nach Einsetzen eines orthopädischen Implantates, einer Gelenkprothese oder einer Knochenplatte") und beanspruchte auf Grund der dadurch angesteuerten DRG I08B ("Andere Eingriffe an Hüftgelenk und Femur mit Mehrfacheingriff, komplexer Prozedur oder komplexer Diagnose bei zerebraler Lähmung oder mit äußerst schweren CC oder Ersatz des Hüftgelenkes mit Eingriff an oberer Extremität oder Wirbelsäule, Alter ) 15 Jahre") gegenüber der Beklagten mit Rechnung vom 15. Juli 2008 eine Vergütung in Höhe von insgesamt 9.874,53 EUR.
Die Beklagte beglich die Rechnung zunächst in voller Höhe. Am 18. August 2008 erfolgte eine Prüfanzeige seitens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Sachsen, welche sich u. a. auf die Kodierung der Hauptdiagnose bezog. Bereits am 15. Oktober 2008 rechnete die Beklagte den nach ihrer Auffassung überzahlten Differenzbetrag von 3.207,87 EUR mit einer unstreitigen Vergütungsforderung der Klägerin auf. Nachdem der Sachverständige im MDK Dipl. Med. U ; Facharzt für Chirurgie, in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme vom 24. November 2008 ausgeführt hatte, die Hauptdiagnose M96.6 sei nicht zu kodieren, wenn ICD-Kodes aus den Organkapiteln - hier: S72.11 ("Pertrochantäre Fraktur, Intertrochantär") oder S72.2 ("Subtrochantäre Fraktur") - anwendbar seien, forderte die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 1. Dezember 2008 zur Korrektur der Rechnung unter Verwendung der DRG I08B ("Andere Eingriffe an Hüftgelenk und Femur mit Mehrfacheingriff, komplexer Prozedur, komplexer Diagnose oder äußerst schweren CC") auf.
Mit der am 1. Oktober 2009 bei dem Sozialgericht Leipzig (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin den Differenzbetrag in Höhe von in Höhe von 3.207,87 EUR zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozent über dem Basiszinssatz seit dem 16. Oktober 2008 geltend gemacht und zur Begründung ausgeführt, die Auswahl der S-Diagnosen verstoße gegen die Deutschen Kodierrichtlinen (DKR Version 2008) und die dort in der Kodierregel D002f zur Hauptdiagnose enthaltenen Ausführungen zu "Erkrankungen bzw. Störungen nach medizinischen Maßnahmen". Bei S-Diagnosen bliebe die Besonderheit, dass es sich um einen Bruch nach Einsetzen einer Endoprothese handelt, unberücksichtigt. Ohne Endoprothese hätte sich die Versicherte bei einem Sturz möglicherweise gar keinen Bruch zugezogen. Die Endoprothese sei daher als wesentliche Ursache für die Fraktur zu betrachten; die Schlüsselnummer M96.6 sei daher spezifischer. Auch das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) habe in einer Stellungnahme aus dem Jahr 2006 bestätigt, dass M96.6 für die direkt mit der medizinischen Maßnahme im Zusammenhang stehende Fraktur gedacht sei. Ein entsprechender Änderungsvorschlag für die ICD-10-GM 2010 mit dem Ziel der genaueren Beschreibung von M96.6 sei bereits von anderer Stelle an das DIMDI gerichtet worden.
Das SG hat die Behandlungsunterlagen der Klägerin beigezogen und Prof. Dr. G , Facharzt für Chirurgie und Traumatologie, mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. In seinem Gutachten vom 12. Januar 2011 hat der Sachverständige ausgeführt, der originäre Oberschenkelknochenanteil im Trochanterbereich sei zum Zeitpunkt der Fraktur nicht mehr vorhanden, sondern durch die Hüft-TEP wesentlich verändert gewesen. Für dieses "veränderte Organ" gebe es in den Organkapiteln der ICD-10-GM keine Schlüsselnummern. Die von der Klägerin gewählte Schlüsselnummer M96.6 beschreibe genau den Umstand, dass durch die Protheseneinsetzung der Oberschenkelknochen erheblich in seiner biomechanischen Qualität verändert worden sei. Nach den Befundunterlagen sei der Bruch in Lage und Verlauf klassisch für die besonderen mechanischen Verhältnisse im Prothesenschaftlager aufgetreten.
Die Beklagte hat geltend gemacht, die Klage sei bereits unzulässig, da die Klägerin unter Verstoß gegen die maßgebliche landesrechtliche Vereinbarung zu den allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1 und 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) Klage erhoben habe, bevor das MDK-Prüfverfahren mit Durchführung einer Zweitbegutachtung abgeschlossen worden sei. Sie sei zudem unbegründet. Insoweit stütze sie sich auf die ergänzenden Gutachten der Sachverständigen im MDK Dr. K vom 27. Dezember 2010 und Dr. H vom 9. August 2011.
Mit Urteil vom 13. Dezember 2011 hat das SG die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung des Differenzbetrages zuzüglich Zinsen verurteilt. Die Klage sei zulässig und begründet. Zur Begründung hat es sich auf die Ausführungen von Prof. Dr. G gestützt. Der besondere Umstand, dass die Fraktur in einem voroperierten und damit vorbelasteten Bereich eingetreten sei, werde nicht durch die von der Beklagten genannten S-Schlüsselnummern, sondern ausschließlich durch M96.6 zutreffend wiedergegeben. Auch werde der erhöhte Behandlungsaufwand und Ressourcenverbrauch nur durch M96.6 hinreichend abgebildet.
Mit der am 2. März 2012 eingelegten Berufung macht die Beklagte geltend, das SG habe nicht beachtet, dass die Fraktur bei der Versicherten durch einen Sturz entstanden sei. Ohne Berücksichtigung des Sturzes bräche die vom SG aufgestellte Kausalkette in sich zusammen. Da die Fraktur damit maßgeblich durch äußere Umstände verursacht worden sei, scheide als Diagnose eine Schlüsselnummer aus Kapitel XIII der ICD-10-GM ("Krankheiten des Muskel-skelett-Systems und des Bindegewebes") aus. Vielmehr müsse eine Schlüsselnummer aus Kapitel XIX (" Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere folgen äußerer Ursachen") gewählt werden. Dies gelte nicht nur in Bezug auf die Haupt-, sondern auch für die Nebendiagnose. Eine Mehrfachkodierung von M96.6 und S72.11 bzw. S72.2 komme unter Berücksichtigung der Kodierregel D012f gleichfalls nicht in Betracht. Dem Umstand, dass der Frakturbereich bereits endoprothetisch verändert gewesen sei, könne durch die - nicht DRG-relevante - Nebendiagnose Z96.6 ("Vorhandensein von orthopädischen Gelenkimplantaten") hinreichend Rechnung getragen werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 13. Dezember 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und verweist ergänzend auf das im Verfahren vor dem SG Halle (S 16 KR 192/12) eingeholte Gutachten von M E , Arzt, Medizincontroller und Vorstand der DMI Systems AG, vom 9. Juli 2015. Dieser habe bei einem vergleichbaren Sachverhalt zwar die Hauptdiagnose mit einer S-Schlüsselnummer kodiert, jedoch - unter Rückgriff auf eine Stellungnahme des DIMDI aus dem Jahr 2012 - zur vollständigen Abbildung des Sachverhalts die Kodierung M96.6 als Nebendiagnose empfohlen. Auch mit M96.6 als Nebendiagnose werde die von ihr in Rechnung gestellte DRG I08B angesteuert.
Gegenstand der Verhandlung und Entscheidungsfindung waren die Patientenakte der Versicherten, die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Instanzen. Im Übrigen wird auf den gesamten Akteninhalt, insbesondere den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten, Bezug genommen und verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist begründet. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf Zahlung des Differenzbetrages in Höhe von 3.207,87 EUR zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozent über dem Basiszinssatz seit dem 16. Oktober 2008. Hinsichtlich der Prozessvoraussetzungen für die erhobene Klage und der allgemeinen tatbestandlichen Voraussetzungen für den geltend gemachten Vergütungsanspruch wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die insoweit - bezogen auf die Zulässigkeit der Klage zumindest im Ergebnis - zutreffenden Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil Bezug genommen. Das SG hat jedoch zu Unrecht angenommen, die Hauptdiagnose sei mit M96.6 zu verschlüsseln und die Behandlung folglich mit der dadurch angesteuerten DRG I08B zu vergüten. Die Auslegung der maßgeblichen Schlüsselnummern ergibt, dass die Hauptdiagnose mit S72.11 bzw. S72.2 zu verschlüsseln und die Behandlung mit der dadurch angesteuerten DRG I08C zu vergüten ist.
Vorab ist festzustellen, dass bezüglich des bei der Versicherten vorhandenen Krankheitsbildes der medizinische Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht bereits zum Zeitpunkt der Behandlung und nachfolgenden Rechnungslegung geklärt und zwischen den Beteiligten auch unstreitig war. Streitig war und ist ausschließlich die Kodierung der (unstreitigen) Erkrankung. Bei einem derartigen Sachverhalt bedarf es grundsätzlich nicht der Inanspruchnahme (medizinischer) Sachverständiger (ebenso: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12. August 2011 - L 4 KR 5345/09 - juris Rn. 32). Sachverständige haben lediglich die Aufgabe, dem Gericht Fachwissen zur Beurteilung von Tatsachen sowie die Kenntnis abstrakter Erfahrungssätze zu vermitteln und, soweit dazu besondere Fachkenntnis erforderlich ist, Tatsachen festzustellen und in Anwendung ihres Fachwissens im Wege der Wertung aus diesen Tatsachen Schlussfolgerungen zu ziehen; sie beurteilen also die Tatsachen (vgl. Reichold in: Thomas/Putzo, ZPO [33. Aufl. 2012], § 402 Rn. 1). Entsprechend bestehen die wechselseitigen Auskunfts-, Prüf- und Mitwirkungspflichten zwischen Krankenhäusern, Krankenkassen und dem MDK auf drei Ebenen und eine Einschaltung des MDK ist erst dann zur Klärung von (medizinischen) Zweifelsfragen erforderlich, wenn die auf der ersten Stufe vom Krankenhaus gegenüber der Krankenkasse zu machenden Angaben nach § 301 Abs. 1 SGB V zur (nicht-medizinischen) Beurteilung der Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung oder der weiteren Abrechnungsvoraussetzungen nicht ausreichen (BSG, Urteil vom 21. März 2013 - B 3 KR 28/12 R - juris Rn. 12; Urteil vom 16. Mai 2012 - B 3 KR 14/11 R - juris Rn. 18 ff.). Die vorliegend streitige Kodierung erforderte ausschließlich die Anwendung und Auslegung der ICD-10-GM sowie der DKR (jeweils in der Version 2008) durch das Gericht nach den allgemeinen Auslegungsmethoden der Rechtswissenschaft. Folglich sind die eingeholten und beigezogenen Gutachten und Stellungnahmen der medizinischen Sachverständigen - ebenso wie die Stellungnahmen des DIMDI aus den Jahren 2006 und 2012 - nur insoweit von Belang, als sie dem Gericht einen Überblick über das in der medizinischen Wissenschaft und Praxis vorhandene (unterschiedliche) Kodierverständnis verschaffen.
Es bleibt somit festzuhalten, dass die vorliegend streitige Anwendung der ICD-10-GM und ihrer Schlüsselnummern grundsätzlich den allgemeinen Auslegungsmethoden der Rechtswissenschaft unterliegt. Abrechnungsbestimmungen sind allerdings wegen ihrer Funktion im Gefüge der Ermittlung des Vergütungstatbestandes innerhalb eines vorgegebenen Vergütungssystems streng nach ihrem Wortlaut und - nur soweit der Wortlaut zweifelhaft und mehrdeutig ist - zur Unterstützung und Klarstellung mittels systematischer Interpretation auszulegen. Ergeben sich bei der Abrechnung Wertungswidersprüche und sonstige Ungereimtheiten, sind in erster Linie die Vertragsparteien berufen, diese durch Änderungen im Fallpauschalenkatalog, im OPS-301 und in den Kodierrichtlinien für die Zukunft zu beseitigen, wenn sie Handlungsbedarf sehen (BSG, Urteil vom 13. November 2012 - B 1 KR 14/12 R - juris Rn. 14; Urteil vom 8. November 2011 - B 1 KR 8/11 R - juris Rn. 27; Urteil vom 25. November 2010 - B 3 KR 4/10 R - juris Rn. 18; zur Auslegung vertragsärztlicher Vergütungsbestimmungen: BSG, Urteil vom 10. Dezember 2008 - B 6 KA 66/07 R - juris Rn. 17).
Die an Wortlaut und Systematik der ICD-10-GM orientierte Auslegung bestätigt im Ergebnis die Auffassung der Beklagten, dass vorliegend nicht M96.6 als Hauptdiagnose zu kodieren war. Zu Beginn des Kapitels XIII ("Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes", M00-M99) sind zahlreiche Exklusiva aufgeführt, u. a. "Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)". Da unter den genannten Schlüsselnummern die - vorliegend in Folge eines Sturzes eingetretene - per- bzw. subtrochantäre Fraktur des Femurs (S72.1 bzw. S72.2) genannt wird, scheidet bereits aus diesem Grund eine Verschlüsselung mit M96.6 aus. Dies wird untermauert durch die Kodierregel D002f, in welcher unter der Überschrift "Erkrankungen bzw. Störungen nach medizinischen Maßnahmen" ausgeführt wird: " [ ] Diese Kodes sind nur dann als Hauptdiagnose zu verschlüsseln, wenn kein spezifischerer Kode in Bezug auf die Erkrankung bzw. Störung existiert oder die Verschlüsselung dieses spezifischeren Kodes durch ein Exklusivum der ICD-10-GM Version 2008 ausgeschlossen ist.". Diese Kodierregel gibt, bezogen auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation, im Grunde die bereits in der ICD-10-GM angelegte Ausschlussregelung - lediglich mit anderen Worten - wieder. Daraus folgt, dass M96.6 nur dann kodiert werden kann, wenn das Implantat - sei es intra- oder postoperativ - allein für sich betrachtet die Knochenfraktur verursacht hat, nicht jedoch dann, wenn zusätzlich äußere Ursachen (z. B. Sturz, Einklemmung, Stauchung etc.) für den konkreten Eintritt der Fraktur verantwortlich sind. Bestätigt wird dieses Ergebnis ferner durch die übrigen unter M96.- ("Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems nach medizinischen Maßnahmen, andernorts nicht klassifiziert") aufgeführten Krankheitsbilder (M96.0-9), bei denen es sich stets um schädliche (Neben-)Folgen - gewissermaßen: die "Kehrseite" - kurativer medizinischer Behandlungen handelt.
Eine Mehrfachkodierung kommt vorliegend unter Berücksichtigung der Kodierregel D012f nicht in Betracht. Dies ist ersichtlich zwischen den Beteiligten unstreitig. Aber auch eine Kodierung M96.6 als Nebendiagnose ist nicht möglich. Es erscheint bereits generell fraglich, ob ein und dieselbe Krankheit allein mit der Begründung, dies diene der genaueren (und erlösgerechteren) Beschreibung bzw. der Verdeutlichung der Komplexität, mit zwei unterschiedlichen Schlüsselnummern kodiert werden kann. Dagegen spricht bereits die Definition der Nebendiagnose in der Kodierregel D003d als "Eine Krankheit oder Beschwerde, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Krankenhausaufenthaltes entwickelt". Sie wird dort ferner als "Begleitkrankheit" bezeichnet. Im Fall der Versicherten ist jedoch M96.6 ("Knochenfraktur nach Einsetzen einer Gelenkprothese") keine Begleiterkrankung zu S72.1 bzw. S72.2 ("per- bzw. subtrochantäre Fraktur des Femurs"), sondern vielmehr die Beschreibung derselben Krankheit mit anderem Schwerpunkt. Ungeachtet des Vorstehenden scheidet jedenfalls vorliegend die Kodierung M96.6 als Nebendiagnose aus, da sich die Kodierung von Nebendiagnosen im Wesentlichen nach den für die Kodierung von Hauptdiagnosen geltenden Grundsätzen richtet. Sie sind ebenfalls "nach Analyse" zu kodieren (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 2015 - B 1 KR 13/14 R - juris Rn. 19); auch hier sind die in der ICD-10-GM vorgegebenen Exklusiva zu beachten.
Als Hauptdiagnose war damit S72.11 bzw. S72.2 zu kodieren mit der Folge, dass die Behandlung nur, wie von der Beklagten durchgeführt, mit der dadurch angesteuerten DRG I08C zu vergüten war. Soweit die Klägerin bei diesem Vorgehen die fehlende Berücksichtigung der liegenden Endoprothese bemängelt, könnte dem durch die - nicht erlösrelevante - Nebendiagnose Z96.6 ("Vorhandensein von orthopädischen Gelenkimplantaten") Rechnung getragen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG).
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen für die Zulassung nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Schanzenbach Richter am Landessozialgericht
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