L 7 AS 1097/17 NZB

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 30 AS 2090/17
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 1097/17 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG ist auch für Untätigkeitsklagen einschlägig (Anschluss an BSG, Urteil vom 06.10.2011 – B 9 SB 45/11 B, Rn. 10 f.).
2. Zur Frage, ob die Bekanntgabe durch Übersendung einer Kopie eines Bescheides erfolgen kann
I. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 25. September 2017 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Zulassung der Berufung. In der Hauptsache war das Vorliegen einer Untätigkeit des Beklagten streitig.

Die 1984 und 2010 geborenen Kläger stehen im laufenden Leistungsbezug beim Beklagten. Mit Bescheid vom 30.10.2015 hob der Beklagte gegenüber den Klägern die zuvor mit Bescheid vom 13.10.2014 i.d.F. des Änderungsbescheides vom 30.11.2014 erfolgte Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 01.04.2015 bis 30.04.2015 teilweise auf und machte Erstattungsforderungen gegenüber der Klägerin zu 1 in Höhe von 555,57 EUR und gegenüber dem Kläger zu 2 in Höhe von 104,52 EUR geltend. Hiergegen richtete sich der Widerspruch der Kläger vom 29.11.2015. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28.04.2016 zurück.

Mit ihrer am 01.06.2017 zum Sozialgericht Chemnitz (SG) erhobenen Klage machen die Kläger die Untätigkeit des Beklagten im Hinblick auf den Widerspruch vom 23.11.2015 (wohl richtig: 29.11.2015) geltend. Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 24.07.2017 auf den bereits beschiedenen Widerspruch hingewiesen und eine Kopie des Widerspruchsbescheids vom 28.04.2016 übersandt.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 25.09.2017 abgewiesen. Der Beklagte sei mit Widerspruchsbescheid vom 28.04.2016 tätig geworden. Soweit die Kläger meinten, ihnen sei der Widerspruchsbescheid nicht zugegangen, sei dieser ausweislich der Postzustellungsurkunde am 07.08.2017 vom Beklagten mit Bekanntgabewillen als Anlage zu seinem Schriftsatz vom 24.07.2017 bekannt gegeben worden. Da die Kläger trotz Aufforderung des Gerichts an ihrem Klageantrag vom 01.06.2017 festgehalten hätten, sei die Klage mangels Untätigkeit des Beklagten abzuweisen. Die Berufung sei nicht statthaft, weil der Wert der Mindestbeschwer von mehr als 750,00 EUR (§§ 143, 144 SGG) nicht erreicht sei.

Gegen den dem Prozessbevollmächtigten der Kläger am 27.09.2017 zugestellten Gerichtsbescheid hat dieser am 26.10.2017 Nichtzulassungsbeschwerde beim Sächsischen Landessozialgericht (SächsLSG) eingelegt. Eine Beschwerdebegründung ist trotz Aufforderung und Erinnerung nicht erfolgt.

Die Kläger beantragen, die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG Chemnitz vom 25.09.2017 zuzulassen und das Verfahren als Berufungsverfahren fortzuführen.

Der Beklagte beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Er erachtet die Nichtzulassung der Berufung für zutreffend.

Dem Senat liegen die Verfahrensakten beider Instanzen und die Verwaltungsakte des Beklagten vor.

II.

Die statthafte Beschwerde der Kläger ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 25.09.2017 die Berufung nicht zugelassen.

1. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist statthaft, weil die Berufung gemäß § 144 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Zulassung bedarf, da der Wert des Beschwerdegegenstandes mit 660,09 EUR den für eine zulassungsfreie Berufung erforderlichen Wert von 750,00 EUR nicht übersteigt. Auch betrifft der Rechtsstreit nicht wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

§ 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG ist auch auf Untätigkeitsklagen anzuwenden. Das hat das BSG u.a. im Urteil vom 06.10.2011 – B 9 SB 45/11 B, Rn. 10 f. entscheiden: "Von der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 2. Alt SGG werden auch Untätigkeitsklagen erfasst, denn diese sind entweder auf die Vornahme eines beantragten, aber ohne zureichenden Grund innerhalb von sechs Monaten nicht erlassenen Verwaltungsakts gerichtet (§ 88 Abs 1 SGG), oder sie haben den Erlass eines Widerspruchsbescheides zum Gegenstand, wenn ohne zureichenden Grund innerhalb von drei Monaten über einen Widerspruch nicht entschieden worden ist (§ 88 Abs 2 SGG). Betreffen die zu erlassenden Verwaltungsakte Geld-, Dienst- oder Sachleistungen, die einen Wert von 750 Euro nicht übersteigen, unterliegt auch die Untätigkeitsklage der Berufungsbeschränkung. Diese sich aus dem Wortlaut des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 2. Alt SGG ergebende Auslegung wird auch vom Sinn und Zweck der durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993 (BGBl I 50) eingeführten Regelung gestützt. Danach sollen die Berufungsgerichte von vermögensrechtlichen Streitsachen von geringem Wert (sog Bagatellfälle) entlastet werden (vgl BT-Drucks 12/1217, S 52, 71; BT-Drucks 16/7716, S 21; BSG SozR 3-1500 § 144 Nr 16 S 45; BSG SozR 3-2500 § 81 Nr 8 S 40). Die gewählte Klageart ist mithin für die Anwendung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG bedeutungslos (so bereits Kummer, NZS 1993, 285, 288; vgl auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 144 RdNr 8). Entscheidend ist, dass die Berufung einen Rechtsstreit von geringem Wert betrifft. Demnach kann auch eine Untätigkeitsklage der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG unterliegen, etwa wenn die Untätigkeit der Verwaltung darin besteht, dass sie über einen geltend gemachten Leistungsanspruch von geringem Wert nicht entscheidet oder einen Widerspruch, der einen sog Bagatellfall betrifft, nicht bescheidet (im Ergebnis ebenso LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 5.9.2008 - L 1 KR 13/08 NZB - RdNr 11; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 29.4.2010 - L 12 AL 5449/09 - Breith 2010, 877, 879 = NZS 2011, 77, 78). So liegt der Fall hier." Der Wert des Beschwerdegegenstandes beträgt vorliegend 660,09 EUR (Summe aus der gegenüber der Klägerin zu 1 geltend gemachten Erstattungsforderung in Höhe von 555,57 EUR und der gegenüber dem Kläger zu 2 erhobenen Erstattungsforderung in Höhe von 104,52 EUR), weil bei subjektiver Klagehäufung die geltend gemachten Ansprüche zusammenzurechnen sind (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG. 12. Auflage, § 144, Rn. 16).

2. Es kann dahinstehen, ob die Klägerin zu 1 zur Alleinvertretung des minderjährigen Klägers zu 2 berechtigt ist (BSG, Urteil vom 02.07.2009 – B 14 AS 54/08 R, Rn. 21 ff.), weil die Beschwerde jedenfalls nicht begründet ist.

3. Die Berufung ist vorliegend nicht zuzulassen. Gemäß § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1), das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr. 2), oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Nr. 3).

a) Eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung liegt nicht vor. Eine Rechtssache hat dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Ein Indivi¬dualinteresse genügt nicht (vgl. Leitherer, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 144 Rn. 28). Die Klärungsbedürftigkeit ist zu verneinen, wenn die Rechtsfrage bereits höchstrichterlich beantwortet ist, wenn die Antwort unmittelbar aus dem Gesetz zu ersehen ist, wenn sie so gut wie unbestritten ist, wenn sie praktisch außer Zweifel steht oder wenn sich für die Antwort in anderen Entscheidungen bereits ausreichende Anhaltspunkte ergeben (vgl. BSG, Beschluss vom 22.07.2013 – B 9 SB 15/13 B, juris, Rn. 5 m.w.N). Die für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Rechtsfrage muss nicht nur klärungsbedürftig, sondern im vorliegenden Rechtsstreit auch klärungsfähig sein, d.h. sie muss entscheidungserheblich sein (Leitherer, a.a.O., § 144 Rn. 28 mit Verweis auf § 160 Rn. 9 ff. m.w.N.).

Die Rechtsfrage, unter welchen Umständen eine Untätigkeit vorliegt, ist durch das Bundessozialgericht geklärt (u.a. BSG, Urteil vom 04.11.2009 – B 8 SO 38/09 B, Rn. 6; Urteil vom 26.08.1994 – 13 RJ 17/94, Rn. 19 f.). Zur Frage, ob eine Bekanntgabe durch Übersendung einer Kopie eines Bescheides erfolgen kann, hat das BSG im Urteil vom 17.09.2008 – B 6 KA 28/07 R, Rn. 25 entschieden:

Tenor:

"Nach diesen Maßstäben stellen die Honorarbescheide, mit denen die Vergütungen für die psychotherapeutischen Leistungen in den streitbefangenen Quartalen festgesetzt worden waren, auch im Verhältnis zur Klägerin Verwaltungsakte gemäß § 31 Satz 1 SGB X dar. Denn sie waren ihr, wie das LSG in seinem Urteil festgestellt hat (§ 163 SGG), in Kopie zur Kenntnis gebracht und somit auch ihr gegenüber wirksam geworden (§ 37 Abs 1 Satz 1, § 39 Abs 1 SGB X)." (ebenso BSG, Urteil vom 03.07.2013 – B 12 KR 8/11 R, Rn. 21)

Ob der Widerspruchsbescheid vom 28.04.2016 dem Prozessbevollmächtigten bekanntgegeben wurde, ist zudem keine abstrakt zu klärende, sondern eine im konkreten Einzelfall zu bewertende Sachfrage.

b) Das SG ist auch nicht von einer Entscheidung des SächsLSG (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2012, § 144 RdNr. 30), des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG abgewichen.

c) Einen Verfahrensfehler im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG hat die Klägerseite ebenfalls nicht geltend gemacht.

Nach alledem ist die Beschwerde der Klägerseite zurückzuweisen.

4. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.

Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

Weinholtz Lang Dr. Anders
Rechtskraft
Aus
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