L 1 U 539/05

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Meiningen (FST)
Aktenzeichen
S 1 U 1910/03
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 1 U 539/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 26. Mai 2005 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

Der 1944 geborene Kläger stolperte während seiner Beschäftigung bei der S.-R. GmbH am 16. September 2002 auf dem Weg durch das Kesselhaus und fiel auf eine stehende Schubkarre. Ausweislich des Durchgangsarztberichtes von Dr. R. vom gleichen Tag wurde ein stumpfes Thoraxtrauma mit Hautemphysem linker oberer Thoraxapertur diagnostiziert. Bei einem noch im Klinikum M. GmbH durchgeführten Thorax-CT zeigten sich ein progredienter Pneumothorax sowie ein Prolaps der linken Lunge. Es wurde eine Thoraxsaugdrainage gelegt und der Kläger in die Zentralklinikum Bad B. GmbH verlegt. Dort wurde zudem eine Dissektion der Arteria subclavia sinistra infolge des stumpfen Thoraxtraumas festgestellt und mit einem Stentimplantat und einer perkutanen transleminalen Angioplastik (PTA) versorgt. Ab 23. Dezember 2002 war der Kläger wieder arbeitsfähig.

Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens zog die Beklagte die medizinischen Unterlagen des Klägers bei und holte ein Gutachten von Prof. Dr. P. vom 25. April 2003 ein. Dieser schätzte die MdE auf Dauer mit 20 v. H. ein. Zu den Verletzungsfolgen gab der Sachverständige an, dass die Beweglichkeit des linken Schultergelenkes nicht eingeschränkt sei. Beide Arme seien gut durchblutet. Insgesamt könne es durch die erhebliche Belastung des Stents im Bewegungssegment der linken Aorta subclavia zu weiteren Folgekomplikationen in Form von Stentbrüchen und Verschlüssen kommen, sodass weitere gefäßrekonstruktive oder interventionelle Eingriffe zur Widerherstellung der Durchblutungssituation am linken Arm erforderlich würden. Eine Dauermedikamentation sei unausweichlich.

Nachdem Dr. K. als beratender Arzt der Beklagten mit Stellungnahme vom 19. Mai 2003 die MdE mit 15 v. H. bewertet hatte, erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 10. Juni 2003 den Unfall als Arbeitsunfall an, lehnte aber die Rentengewährung ab. Eine MdE in rentenberechtigendem Grade sei nicht gegeben.

Den Widerspruch des Klägers, dass nach dem Gutachten von Prof. Dr. P. die Voraussetzungen für die Rentengewährung gegeben seien, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2003 zurück.

Auf die Klageerhebung hat das Sozialgericht ein Gutachten von Prof. Dr. F., basierend auf einer ambulanten Untersuchung vom 7. Dezember 2004, eingeholt. Dieser hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass bei guter Durchblutungsfunktion, lokalisierten Schmerzen, sporadisch auftretend und unterschiedlichen Ausmaßes, insgesamt wenig ausgeprägt sowie einer präventiven Schulterentlastung, deren Erfordernis nicht zwingend erscheine, eine Gesamt-MdE von 15 v. H. gegeben sei.

Mit Urteil vom 26. Mai 2005 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, unter Abänderung ihrer Bescheide dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 16. September 2002 Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren. Im Sinne der Gleichbehandlung aller Unfallverletzten erscheine es ausnahmsweise in Ermangelung originär unfallrechtlicher Tabellenwerte gerechtfertigt, auf die "Anhaltspunkte für die ärztliche Begutachtung im sozialen Entschädigungsrecht und im Schwerbehindertenrecht", Ausgabe 2004, zurückzugreifen, weil sie in Kapitel 26.9 eine entsprechende Funktionsbeeinträchtigung enthielten. Richtigerweise sei zwar aufgrund des unterschiedlichen Orientierungsrahmens bei der Festsetzung des Grades der Behinderung (GdB) im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung nicht auf dieses Regelwerk zurückzugreifen. Solange es jedoch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung keine allgemein anerkannten MdE-Tabellen zu diesem Sachverhalt gebe, sei der Rückgriff auf die "Anhaltspunkte" gerechtfertigt (so Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23. Mai 2003, Az.: L 2 U 259/02). Danach würden Arterienverschlüsse an den Armen nach größeren gefäßchirurgischen Eingriffen mit vollständiger Kompensation einschließlich Dauerbehandlung mit Antikoagulantien mit einem MdE-Grad von 20 v. H. bewertet.

Mit der hiergegen erhobenen Berufung trägt die Beklagte vor, dass maßgeblich für die MdE-Einschätzung die Beeinträchtigung des körperlichen Leistungsvermögens sei. Dabei komme es auf die gegenwärtige körperliche Einbuße an. Zukünftige, gegebenenfalls aufgrund gesicherter Erfahrungen absehbare Schäden, beispielsweise der mögliche Bruch eines Stents, könnten nicht berücksichtigt werden. Anders als das Sozialgericht dargestellt habe, seien im Schrifttum (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. S. 1142) Angaben zur MdE-Bewertung bei einem Pneumothorax enthalten. Die MdE-Bewertung betrage 10 bis 30 v. H. Die von Prof. Dr. F. begründete MdE von 15 v. H. liege in der Spannweite der Bewertungsmöglichkeiten. Der Rückgriff auf die "Anhaltspunkte" sei unzulässig. Selbst das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz habe ausgeführt, dass die "Anhaltspunkte" im Unfallversicherungsrecht nicht einschränkungslos heranzuziehen seien. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Bedeutungen von MdE/GdB stehe einer abweichenden MdE-Empfehlung für das Unfallversicherungsrecht grundsätzlich nichts im Wege. Dies sei aber nicht zwangsläufig mit der Folge verbunden, dass die Erfahrungen im sozialen Entschädigungsrecht im Unfallversicherungsrecht nicht mit einbezogen werden könnten. Im Übrigen müsse bezweifelt werden, ob die Kammer des Sozialgerichts über das erforderliche medizinische Wissen verfüge, in eigener Wertung und Würdigung die MdE aufgrund von "Anhaltspunkten" festzustellen. Unter Berücksichtigung der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts sei dann, wenn dem Gutachter nicht gefolgt werde, im Zweifelsfall ein weiterer Gutachter zu hören.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 26. Mai 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Anders als die Beklagte gehe er davon aus, dass es durchaus zulässig sei, in Ermangelung allgemein anerkannter MdE-Tabellen auch auf andere Begutachtungsrichtlinien zurückgreifen zu dürfen und diese entsprechend anzuwenden. Eine einschränkungslose und diskussionslose Heranziehung der "Anhaltspunkte" werde vom Sozialgericht gerade nicht vorgenommen. Dem Sozialgericht stehe es auch frei, medizinische Gutachten zu interpretieren und auszulegen. An die Beurteilung der MdE durch den Sachverständigen sei es nicht gebunden.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird verwiesen auf den Inhalt der Gerichts- und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen vor.

Die Berufung der Beklagten ist begründet. Die erstinstanzliche Entscheidung war aufzuheben. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig. Sie verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Eine Rentengewährung kommt nicht in Betracht. Eine MdE in rentenberechtigendem Grade ist gerade nicht nachgewiesen.

Nach § 56 Abs. 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte in Folge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus Anspruch auf Gewährung von Rente, wenn die Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v. H. gemindert ist. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

Die durch den Arbeitsunfall verursachte MdE ist mit maximal 15 v. H. einzuschätzen. In zutreffender Weise hat die Beklagte dabei das Ausmaß der gesundheitlichen Beeinträchtigungen berücksichtigt. Insbesondere das im erstinstanzlichen Verfahren eingeholte Gutachten von Prof. Dr. F. rechtfertigt keine MdE von 20 v. H.

Bei dem Kläger sind keine funktionellen Störungen vorhanden, die eine MdE in rentenberechtigendem Grade rechtfertigen oder vergleichbar sind mit solchen Einschränkungen, die eine MdE im rentenberechtigendem Grade bedingen.

Die Bemessung des Grades der MdE, als die durch eine Schätzung vorzunehmende Festlegung des konkreten Umfanges der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (BSGE 4, 147, 149; BSG Urteil vom 23. April 1987 – 2 Ru 42/86-Hv-Info 1988, 1210; BSG in SozR 3-2200, § 581 Nr. 7 und 8, jeweils m.w.N.). Neben der Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ist dabei die Anwendung medizinischer oder sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkung bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens erforderlich. Als Ergebnis dieser Wertung ergibt sich die Erkenntnis über den Umfang der dem Versicherten versperrten Arbeitsmöglichkeiten. Hierbei kommt es stets auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an (BSGE in SozR 3-2200 § 581 Nr. 8 m.w.N.).

Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Folgen des Unfalls beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Hierbei sind aber auch die zumindest in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie von den versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend sind, aber Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden und einem ständigem Wandel unterliegen (vgl. BSG in SozR 2200 § 581 Nr. 23 und 27; BSG in SozR 3-2200 § 581 Nr. 5 und 8).

Die Festlegung der Höhe der MdE erfordert als tatsächliche Feststellung stets die Würdigung der hierfür notwendigen Beweismittel im Rahmen freier richterlicher Beweiswürdigung nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG (vgl. BSG in SozR 3-2200 § 581 Nr. 8).

Ausweislich des Gutachtens von Prof. Dr. F. sind die Einschränkungen des Klägers lediglich in einem Umfang vorhanden, dass sie maximal eine MdE von 15 v. H. rechtfertigen können. So hat der Sachverständige eine gute Durchblutungssituation vorfinden können und nur geringe, sporadisch auftretende Schmerzen attestiert. Die Schulterentlastung wird lediglich als vorbeugend und nicht als zwingend erforderlich gewertet. Hinsichtlich des Unfallfolgezustandes befindet sich Professor Dr. F. im Einklang mit dem im Verwaltungsverfahren befragten Sachverständigen.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist, wie die Beklagte ausgeführt hat, die MdE für einen Pneumothorax nach Ablauf von sechs Monaten mit 10 bis 30 v. H. einzuschätzen In diesem Zusammenhang liegt eine MdE-Einschätzung von 15. v. H. in der Spannbreite des Beurteilungsspielraumes. Letztlich ist für die MdE-Einschätzung aber von Bedeutung, dass der Sachverständige keine gravierenden gesundheitlichen Einschränkungen bei dem Kläger festgestellt hat. Darauf kommt es hier an. Zukünftige Komplikationen, die durchaus auftreten können, können bei der Einschätzung nicht berücksichtigt werden. Sie werden berücksichtigt, wenn der Komplikationsfall eintreten würde.

Nicht entscheidend kommt es darauf an, ob für den konkret zu bewertenden Fall ein Tabellenwert vorliegt. Das Vorhandensein eines Tabellenwertes kann die Einschätzung der MdE-Höhe vereinfachen. Das bedeutet aber nicht, dass der Tabellenwert immer der medizinischen Einschätzung vorzuziehen ist. Gerade in einem solchen Fall ist der Mediziner gefragt, der die medizinischen Einschränkungen für den Versicherten genau benennt und zur Höhe der MdE-Bewertung aus seinem medizinischen Wissen schöpft, indem er die gegebenen Einschränkungen mit Einschränkungen von Personen vergleicht, die ein rentenberechtigendes Maß erreichen.

Nicht zurückgegriffen werden kann in einem solchen Fall auf die "Anhaltspunkte". Inwieweit die "Anhaltspunkte" im Einzelfall auf einen Sachverhalt anzuwenden sein könnten, muss der Senat an dieser Stelle nicht entscheiden. Ein Rückgriff ist hier nicht erforderlich, weil eine medizinische Einschätzung existiert und der Senat von dieser medizinischen Einschätzung auch nicht abzuweichen gedenkt. Grundsätzlich bestehen aber Bedenken zur Übertragbarkeit, gerade wenn es um einen Grenzbereich geht, wo nach dem SGB VII schon Rente gewährt wird und nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) i.V.m. den "Anhaltspunkten" noch nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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