S 7 U 77/11

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 7 U 77/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten wegen der Anerkennung eines Versicherungsfalles. Der im Jahre 1976 geborene Kläger war im Frühjahr/Sommer 2000 als Diplomand beim N.-Institut für Kohlenforschung N. im Rahmen von Arbeiten zu seiner Diplomarbeit tätig.

Unter dem 05.03.09 erstattete das N. eine Unternehmeranzeige bei Anhaltspunkten für eine Berufskrankheit und führte als Krankheitserscheinungen eine Störung des Immun-systems in Form multipler Allergien auf, asthmatische Erscheinungen nachts, ein stark ausgeprägtes Sicca-Syndrom (Augen, Nase, Mund, Ohren), apthöse Geschwüre in Mund, Nase, Magen und Genitalbereich, eine Polyneuropathie (insbesondere Hände, Füße und Unterschenkel), Schwindel, Kopfschmerzen, Sehstörungen, Bluthochdruck, Sensibilisierung gegenüber polychlorierten Biphenylen (PCB) sowie diverse Unverträg-lichkeiten auf Waschmittel, Parfüms, Deodorant usw ... Weiter hieß es, der Beginn der Be-schwerden werde vom Kläger und seinem behandelnden Facharzt Prof. Dr. N. in zeitli-chen Zusammenhang mit der Entsorgung von Chemikalien aus einem Kühlschrank im N. gestellt.

Nachdem die Beklagte zahlreiche Unterlagen über den Kläger zu den Akten genommen hatte, ließ sie ihn durch ihre Präventionsabteilung am 04.09.09 persönlich zu seiner Ar-beitsplatzexposition befragen. In einer Stellungnahme vom 11.01.10 meinte Prof. Dr. N. zusammenfassend, dass der Kläger einer extrem großen Anzahl von genotoxi-schen, immuntoxischen und kanzerogenen Substanzen simultan bei der Entsor-gung von mehr als 200 Chemikalien aus einem alten Kühlschrank am N. ausgesetzt ge-wesen sei, was nach genauer anamnestischer Expositionsabschätzung (starker Geruch nach Pyridin, Piperidin und Toluoi über 12 h bei Entsorgungsarbeiten), insbesondere bei Betrachtung der kumulativen Effekte der mehr als 200 Substanzen, bei weiten die Schwelle für eine akute und als Folge chronische Intoxikation überschreite. Nach der Entsorgungsaktion im Jahr-2000 sei es zu Unwohlsein und später Übelkeit und Erbrechen gekommen. Der Kläger beschreibe in seiner genauen Schilderung des Unfallablaufes die weiteren Symptome mit schmerzhaften Durchfällen, Erbrechen sowie starken Schmerzen in Händen, Füßen und Zähnen sowie einer leicht geröteten, stark juckenden Haut. Nach eingehendem Studium des Falles, jahrelangen Gesprächen und Therapie des Klägers, ausführlichem Literaturstudium und jahrzehntelanger Erfahrung als Gutachter bei Sozialgerichten bei Intoxikationen und Erkrankungen des Immunsys-tems, spielten seiner Einschätzung nach mehrere Erkrankungskomponenten eine Rolle: 1. Akute Intoxikation bei Entsorgung des Kühlschrankes mit Folge einer direkten irreversiblen Schädigung der Speichel- und Tränendrüsen als Folge einer Schädigung durch u. a. (chlorierte) aromatisch und aliphatische Lösungsmit-tel, PCB (sowie darin vermutlich enthaltene PCDF, Dioxine), aromatische A-mine, diverse Heterozyklen sowie vermutlich Quecksilberorganyle, 2. Ausbildung einer chemikallen-induzierten M. Behcet und Churg-Strauss-Syndrom -analogen Autoimmunerkrankung bei für eine "natürliche" Autoim-munerkrankung atypischem laboranalytischen Konstellationsbild sowie auch untypischen HLA-Konstellation mit jahrelang progressivem Verlauf, 3. Ausbildung progressiver extrem seltener Kontaktallergien auf Baumwolle (oder enthaltene Einzelkomponenten) und Papier (oder einzelne Inhaltsstoffe), Al-lergien auf Waschmittel, Duftstoffe, Parfüm, Nahrungsmittel in Folge einer chronischen Schädigung des lmmunsystems als Folge der akuten Intoxikation.

Die möglichst schnelle Anerkennung der schwerwiegenden Erkrankung des Klägers als Berufskrankheit halte er für dringend angezeigt. In einer arbeitsmedizinischen Stellungnahme vom 26.04.10 meinte der Facharzt für Inne-re Medizin, Facharzt für Arbeitsmedizin - Umweltmedizin – Dr. T. von der Präventionsabteilung der Beklagten, dass die arbeitstechnischen Ermittlungen der Beklagten umfassend und vollständig seien. Da die Arbeitsplätze des Klägers im MPI nicht mehr beständen, seien keine weiteren Details über die bereits ermittel-ten Sachverhalte hinaus feststellbar. Bei der jetzigen Vorlage sei die Akte auch unter dem Aspekt der Zuordnung der (Verdachts-)Diagnosen zur Listen-Berufskrankheits-Ziffern durchgesehen worden. Eine "Intoxikation mit Schädi-gung des Immunsystems mit Immundysfunktion" beschreibe Prof. Dr. N ...Andererseits hätten immunologische Befundberichte mehrfach objektivierbare Beschädigungen des Immunsystems ausgeschlossen. Zuletzt werde ein komple-xes Krankheitssyndrom diskutiert, das sich einer Listen-Berufskrankheits-Ziffer nicht widerspruchsfrei zuordnen lasse. Nunmehr lehnte die Beklagte durch Be-scheid vom 09.08.10 die Anerkennung der Erkrankung des Klägers als Berufs-krankheit (§ 9 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - SGB II) sowie wie eine Berufskrankheit (§ 9 Abs. 2 SGB VII) ab. Auf den hiergegen vom Kläger am 16.06.10 eingelegten Widerspruch betrachtete die Beklagte den Be-scheid vom 09.06.10 als nichtig und sagte dem Kläger einen neuen Bescheid zu.

Sodann nahm die Beklagte weitere Arztberichte über den Kläger zu den Akten und zog eine Auskunft des N. vom 21.10.10 bei. Darin hieß es zur Abschätzung der Exposition des Klägers gegenüber elementarem Quecksilber, dass insgesamt betrachtet der vom Kläger geäußerte Verdacht einer erhöhten Quecksilberexposi-tion als Folge einer entsprechenden Kontamination im Laborbereich des N. nicht bestätigt werden könne. Wichtig erscheine zudem, dass im experimentellen Teil der Doktorarbeit des Klägers keinerlei quecksilberhaltigen Gerätschaften erwähnt würden. Durch Bescheid vom 16.11.10 lehnte schließlich die Beklagte die Anerkennung der Er-krankungen des Klägers als Berufskrankheiten und wie eine Berufskrankheit ab. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, eine Berufskrankheit nach Ziffer 1102 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) (Erkrankungen durch Quecksil-ber oder seine Verbindungen), bestehe beim Kläger nicht, da während seiner Tätigkeit am N. nur sehr geringfügige Einwirkungsmöglichkeiten durch Quecksilber bestanden hätten, die auch nicht im erforderlichen Vollbeweis zu sichern seien. Der frühere Mitar-beiter Prof. Dr. C. habe zwar die Möglichkeit der Lagerung von nicht mehr näher identifi-zierten Organoquecksilberverbindungen in dem vom Kläger an zwei Tagen gereinigten Kühlschrank bestätigt. Allerdings könne auch diese sehr kurzzeitige Einwirkung in 2000 nicht mehr bewiesen werden. Insbesondere fehlten aus der unmittelbaren zeitlichen Nähe zur Kühlschrankräumung eindeutige ärztliche Diagnosen im Sinne einer akuten Quecksilberintoxikation, die ja im engen zeitlichen Kontext zur Einwirkung zu erwarten gewesen wäre. Andere Quellen einer Quecksilberintoxikation könnten ausgeschlossen werden. Manifeste Vergiftungen seien in der Regel Folge eines längeren und wieder-holten, erheblichen Überschreitens der arbeitsmedizinischen Grenzwerte. Aufgrund der arbeitstechnischen Ermittlungen und angesichts des sieben bis zehn Jahre zurücklie-genden Zeitraumes der Tätigkeiten am N. sei nunmehr die Höhe der damaligen vermu-teten Quecksilber-Exposition nicht mit Gewissheit zu beweisen. Aus dem Institut seien von vergleichbaren Arbeitsplatzen keine Erkrankungen durch Quecksilber oder seiner Verbindungen gemeldet worden. Aufgrund einer Halbwertzeit von circa 65 Tagen für im Urin nachweisbares Quecksilber nach Expositionen seien lange zurückliegende Vergif-tungen nicht mehr anhand erhöhter Konzentrationen nachweisbar. Bezüglich der chro-nischen Toxizität von metallischem Quecksilber und anorganischen Quecksilberverbin-dungen seien die Nieren, vor allem die proximalen Tubuli (Hauptstücke der Nierenkanä-lchen), von der toxischen Wirkung, besonders betroffen. Die quecksilberbedingten neu-rologischen Symptome beim Erwachsenen seien insbesondere Gefühlsstörungen und Hirnnervenschädigungen (vor allem Seh- und Hörnerv) mit krankhaft gesteigerter Er-regbarkeit und Tremor. In vielen Fällen entwickle sich eine Polyneuropathie. Fachärzt-lich seien jedoch neurologisch und nephrologisch bisher keine Erkrankungen diagnos-tiziert worden, die auf Quecksilber zurückgeführt würden. Das expositionsunabhängige Fortschreiten der beim Kläger beschriebenen Krankheitserscheinungen spreche eben-falls gegen die Verursachung durch Einwirkungen während der Tätigkeiten am N ... Prof. Dr. N. habe eine akute Intoxikation durch Quecksilber in seinem Bericht vom 11.01.10 selbst ausgeschlossen. Aufgrund der arbeitstechnischen Ermittlungen könne auch sei-ne Argumentation zu einer möglichen chronischen Quecksilberintoxikation nicht nach-vollzogen werden. Eine Berufskrankheit nach Ziffer 1302 der Anlage 1 zur BKV (Er-krankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe) bestehe ebenfalls nicht. Beim Ausräu-men des Kühlschranks im Jähre 2000 hätten nach Angaben des N. möglicherweise kurzzeitige Kontakte zu PCB-haltigen Behältnissen bestanden. Sieben Jahre nach En-de der praktischen Tätigkeit am N. seien weder chronisch neurologische noch andere halogenkohlenwasserstoffbedingte Krankheiten gesichert diagnostiziert worden. PCB-Blutwerte zum Beleg einer gegenüber der allgemeinen Bevölkerung erhöhten und kli-nisch relevanten Belastung lagen nicht vor. n-Hexan habe bei ausreichend hoher Ex-position insbesondere neurotoxische Langzeit-Effekte. Eine Enzephalopathie oder Po-lyneuropathie seien nicht diagnostiziert worden. Auch die Voraussetzungen für die Anerkennung der Erkrankung wie eine Berufskrank-heit seien nicht erfüllt. Dies setze nämlich voraus, dass eine bestimmte Personengruppe infolge ihrer versicherten Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölke-rung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sei, diese Einwirkungen nach neuen Er-kenntnissen der Medizinischen Wissenschaft geeignet seien, Krankheiten solcher Art zu verursachen, und der tatsächliche Zusammenhang der Erkrankung mit der versicherten Tätigkeit im Einzelfall wahrscheinlich sei. Der Kläger habe auch Acetylendicarbonsäure-dimethylester (DMAD) in kleinen Mengen eingesetzt. Es habe sich um einen akut ätzen-den Stoff aus der Gruppe der Alkine und Carbonsäureester gehandelt. Aktuell seien kei-ne Erkrankungen diagnostiziert worden, die auf die Einwirkung von DMAD gesichert zu-rückgeführt werden könnten. Langzeitschäden würden von der Berufskrankheiten-Liste nicht abgebildet. Neue gesicherte Erkenntnisse im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB Vll zu DMAD lägen nicht vor. Ein "Multi-Toxin-Syndrom", wie von Dr. F. , Universitätsklinikum G., Institut-für Umweltmedizin, am 13.08.10 in seinem Bericht vermutet, sei nicht als Be-rufskrankheit in der Liste der BKV aufgeführt. Es lägen auch keine gesicherten neuen Erkenntnisse vor, um eine solche Erkrankung "wie eine Berufskrankheit" nach § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen. Gegen Bescheid legte der Kläger mit Schriftsatz vom 17.11.10 Widerspruch ein. Am 23.02.11 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch des Klägers zurück.

Am 10.03.11 hat der Kläger Klage erhoben. Er meint, dass von dem Vorhandensein von Orga noquecksilberverbindungen in dem von ihm entsorgten Kühlschrank auszugehen sei. Eine beruflich relevante Exposition sei zugrundezulegen. Aus seinem Krankheitsbild - namentlich dem schweren Sicca-Syndrom in Kombination mit hart-wachsartigen wei-ßen Sekreten im Augenbereich - könne auf Intoxikationen mit PCB geschlossen werden. Nach der Entsorgungsaktion am Freitag dem 30.06.2000 sowie am Montag dem 03.07.2000 sei ihm noch gegen Ende dieser Tätigkeit schlecht geworden und es sei noch im N. zu Durchfall und Erbrechen sowie starken Schmerzen an Händen, Füßen und Zähnen/Zahnfleisch gekommen.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 16.11.10 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.02.11 zu verurteilen, bei ihm eine Be-rufskrankheit nach Ziffer 1102 sowie 1302 der Anlage 1 zur BKV anzuerken-nen sowie eine Quasi-Berufskrankheit im Sinne von § 9 Abs. 2 SGB VIl.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten sowie die den Kläger betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten, die ihrem wesentli-chen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist nicht rechtswidrig, und der Kläger wird durch ihn nicht beschwert, § 54 Abs. 2 Sozi-algerichtsgesetz (SGG). Zu Recht hat die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden die Anerkennung eines Versicherungsfalles beim Kläger abgelehnt. Denn der Kläger hat gegen die Beklagte weder einen Anspruch auf Anerkennung von Berufskrankheiten nach den Ziffern 1102 bzw. 1302 der Anlage 1 zur BKV noch auf Anerkennung einer Quasi-Berufskrankheit gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII. Zur Überzeugung der Kammer ist nämlich aufgrund der ausführlichen und umfassen-den Ermittlungen der Beklagten zum einen weder belegt, dass der Kläger während seiner Tätigkeit im N. im Frühjahr/Sommer 2000, insbesondere bei der Entsorgung von Chemikalien aus einem Kühlschrank, einer schädigenden Einwirkung durch Quecksil-ber oder seine Verbindungen bzw. durch Halogenkohlenwasserstoffe ausgesetzt war noch dass beim Kläger eine Krankheit besteht, die durch solche schädigenden Einwir-kungen versucht werden kann.

Auch der Kläger selbst trägt nur vor, dass von solchen Einwirkungen auszugehen b2W. eine beruflich relevante Exposition zugrundezulegen sei. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Vorliegen des insoweit erforderlichen Vollbeweises. Der Kläger irrt des Weiteren, wenn er meint, dass aus dem Bestehen einer Erkrankung auf eine Intoxikation zu schließen sei. Zum anderen bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger an einer Er-krankung leidet, die wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen wäre, Die Beklagte ist zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass insoweit nicht die erfor-derlichen neuen gesicherten Erkenntnisse vorliegen.

Die Kammer folgt daher den zutreffenden Gründen des angefochtenen Bescheides vom 16.11.10 und des Widerspruchsbescheides vom 23.02.11, weshalb von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen wird, § 136 Abs. 3 SGG.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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