L 3 U 10/03

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
25 U 125/96
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 U 10/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. November 2002 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist (nur noch) die Anerkennung einer Enzephalopathie als Berufskrankheit nach Nr. 1302 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) und ihre Entschädigung streitig.

Der am XX.XXXXXXXXXX 1951 geborene Kläger war von April 1969 bis Mai 1989 als Buchdrucker und Endlosdrucker bei der Firma C. mit 15monatiger Unterbrechung 1972/1973 wegen der Ableistung des Wehrdienstes beschäftigt. Seit Mai 1989 war der Kläger arbeitsunfähig krank. Vom 26. September bis 24. Oktober 1989 befand er sich zu einem stationären Heilverfahren in der Rheumaklinik Bad B ... In dem Entlassungsbericht hieß es, bei dem Kläger bestünden eine beidseitige Sacroiliitis (entzündliche Gelenkveränderung zwischen Becken und Wirbelsäule) und vielfältige Gelenkbeschwerden. Augenärztlicherseits sei der Verdacht auf ein Sjögren-Syndrom bei verminderter Tränenproduktion geäußert worden.

Im September 1991 erstattete der praktische Arzt F. eine ärztliche Anzeige über eine Berufkrankheit nach Nr. 1302 der Anlage zur BKV, verursacht durch die Einwirkung von Lösemitteln, Tri, Ester, Ketone, Verzögerer B, Hexan und Weichmacher. Die Diagnose lautete: Sjögren- bzw. SICCA-Syndrom. Als Beschwerden wurden Rückenschmerzen, Haarausfall, Haut- und Schleimhautüberempfindlichkeit angegeben. Die im April 1990 und Mai 1991 durchgeführten SPECT-Untersuchungen des regionalen zerebralen Blutflusses hatten nach den Angaben von F. keine sicheren Zeichen einer neurotoxischen Veränderung ergeben.

Bereits 1988 hatte das Universitätskrankenhaus E. (UKE), in dem der Kläger wegen Kopfschmerzen untersucht worden war, beim Z. für A. Hamburg (Professor Dr. L./Professor Dr. S.) eine Beurteilung erbeten, ob die bei dem Kläger bestehende Symptomatik im Zusammenhang mit einer beruflichen Exposition gegenüber Chlorkohlenwasserstoffen stehe. Die dort durchgeführten Blut- und Urinuntersuchungen ergaben, dass bei dem Kläger eine berufliche Exposition gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen, insbesondere gegenüber Trichlormethan, Trichlorethylen und Perchlorethylen gegeben sei. Die Ergebnisse würden jedoch keine gesundheitlich bedenklichen Erhöhungen aufweisen, insbesondere seien die vorhandenen BAT-Werte (biologische Arbeitsstofftoleranzwerte) nicht überschritten worden. Eine Verursachung der Leberenzymwerterhöhungen durch diese insgesamt noch nicht als wesentlich aufzufassende Lösemittelbelastung sei eher unwahrscheinlich. Auch sei ein Zusammenhang des von dem Kläger angegebenen vermehrten Haarausfalls mit der Lösemittelbelastung nicht anzunehmen. Eine Auslösung der geklagten Kopfschmerzen durch die berufliche Lösemittelbelastung sei zwar möglich, wegen des Auftretens der Kopfschmerzen auch außerhalb der Arbeitszeit, wie an Wochenenden oder während des Urlaubs, jedoch nicht wahrscheinlich.

Im Rahmen eines Klagverfahrens gegen das Versorgungsamt Hamburg (31 VS 109/91) wegen der Feststellung des Grades der Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz begutachtete die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Frau Dr. H. auf Veranlassung des Sozialgerichts Hamburg den Kläger nach Untersuchung. Im Gutachten vom 22. September 1992 kam sie zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger eine neurotische Persönlichkeitsstörung vorliege. Zu der selben Einschätzung kam der Neurologe und Psychiater Dr. L1 in seinem Gutachten vom 08. Januar 1993, das er im Auftrag des Sozialgerichts ebenfalls in dem Verfahren 31 VS 109/91 erstellte. Auch bei seiner Untersuchung ergaben sich keine Hinweise auf eine Schädigung des peripheren Nervensystems im Sinne einer Polyneuropathie, keine organische Wesensänderung, keine klinisch-neurologischen Symptome, die auf einen diffusen oder umschriebenen zerebralen Prozess hinweisen würden, und keine vitale Verstimmung als Ausdruck einer affektiven Psychose. Es bestehe aber, so Dr. L1, eine gedankliche und affektive Einengung auf die beschriebenen körperlichen Beschwerden. Dies habe einen eigenständigen Krankheitswert und müsse als neurotische Persönlichkeitsstörung beschrieben werden.

Bei einer Untersuchung im Fachkrankenhaus N. in B1 am 12. Oktober 1993 äußerte der Kläger folgende Beschwerden: Gelenkschmerzen, Muskelschmerzen, Gefühl von Druck und Verkrampfung und Stechen in Beinen, Füßen und Händen, im Nackenbereich, Schwindel, Tinnitus, Kopfschmerzen, Stechen in der Brust, Schmerzen in der linken Schulter, teilweise kalter Schweiß, Augenschmerzen, Schwellung der Zunge, Lymphknotenschwellungen, oft extremes Ohrjucken, Ohrschmerzen, starke Lichtempfindlichkeit, Atmungsbeschwerden, Niesattacken, Nasennebenhöhlenprobleme, Pruritus, Haarverlust, häufig das Gefühl, krank zu sein (grippig), insgesamt fühle er sich müde und schwach, häufig dabei innere Unruhe. Die Diagnose lautete: Multiple Chemical Sensitivity Disorder sowie depressive Reaktionen.

Im Auftrag der Beklagten erstellte Professor Dr. S. im Juli 1994 ein arbeitsmedizinisches Gutachten nach Untersuchung. Darin führte er aus, dass bei dem Kläger von einer allenfalls mäßigen, gesundheitlich nicht bedenklichen Lösemittelexposition auszugehen sei. Es hätten sich keinerlei Trichlorethen-bedingte Störungen im Bereich der Hirnnerven nachweisen lassen. Es bestünden auch keine Hinweise für das Vorliegen eines lösemittelbedingten hirnorganischen Psychosyndroms. Die geklagte SICCA-Symptomatik sei völlig untypisch für eine lösemittelbedingte hirnorganische Wesensveränderung. Darüber hinaus spreche auch das unveränderte Fortbestehen bzw. die Zunahme der Beschwerden noch mehrere Jahre nach Beendigung der betrieblichen Schadstoffbelastung gegen eine berufliche Verursachung. Als Diagnosen gab er an, es liege eine SICCA-Symptomatik und ein rheumatoides Syndrom unklarer Genese vor. Das hautärztliche Zusatzgutachten von Professor Dr. Dr. R. vom 24. April 1994 ergab, dass die Befunde mit größerer Wahrscheinlichkeit gegen das Vorliegen eines Sjögren-Syndroms sprächen.

In einem für das Sozialgericht Hamburg erstatteten Gutachten in dem Rechtsstreit des Klägers gegen die Landesversicherungsanstalt Hamburg (20 J 50/91) kam der Neurologe und Psychiater Dr. B2 aufgrund einer am 11. August 1995 durchgeführten Untersuchung zu dem Ergebnis, dass keine peripher-neurologische Störung oder zentralnervöse Erkrankung vorliege. In psychischer Hinsicht sei die erhebliche Beschwerdefixierung auffällig. Seit der Untersuchung durch Dr. H. im Juli 1992 sei ein deutliches Fortschreiten der Erkrankung festzustellen.

Mit Bescheid vom 11. Dezember 1995 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit ab. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 29. Februar 1996).

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht einen Befundbericht des praktischen Arztes F. vom 24. September 1996 eingeholt, in dem dieser mitgeteilt hat, dass bei dem Kläger das Sjögren-Syndrom sowie Folgen einer toxischen Enzephalopathie bestünden. Der SPECT-Hirnbefund vom 5. September 1995 sei mit einer toxischen Enzephalopathie zu vereinbaren. Die aktuellen Beschwerden des Klägers, die auch im Bericht der Kurklinik W. über den Aufenthalt des Klägers dort vom 18. Juni bis 16. Juli 1996 geschildert würden, hätten auch Jahre nach der Exposition nicht nachgelassen.

Der Arbeitmediziner und Diplompsychologe Dr. P. hat im Gutachten nach Aktenlage vom 05. Februar 1997 ausgeführt, dass das bunte Beschwerdebild des Klägers zu diversen Krankheiten passen könne. Die daraus resultierenden Vermutungsdiagnosen hätten bisher alle nicht eindeutig bestätigt werden können. Es bestehe zwar kein Zweifel an einer erheblichen und langjährigen Lösemittelexposition. Gegen eine berufliche Ursache der Beschwerden sprächen aber das Fortschreiten der Beschwerden nach Expositionsende, der fehlende direkte Bezug zwischen den Beschwerden und der beruflichen Exposition sowie das Fehlen wiederholter Episoden mit akuten bzw. subakuten neurotoxischen Symptomen (pränarkotische Symptome). Die Beschwerden könnten nicht als Ausdruck einer durch organische Lösungsmittel verursachten sogenannten toxischen Enzephalopathie des Schweregrades I bzw. II eingeordnet werden. Auch die übrigen Beschwerden stünden in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der beruflichen Lösemittelexposition.

Auf Antrag des Klägers hat das Sozialgericht ein weiteres arbeitsmedizinisches Gutachten gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von Dr. zum W1 vom 14. März 2000 erstellen lassen. Dr. zum W1 hat ausgeführt, dass Beschwerden wie Kopfschmerzen, Vergesslichkeit, innere Unruhe und die subdepressive Verstimmungslage im Zusammenhang mit den neuropsychologischen Testbefunden und der 1995 erfolgten SPECT-Untersuchung des Hirns Hinweise auf das Vorliegen einer toxischen Enzephalopathie leichten Grades seien. Ohne diese objektiven Befunde könnten die Beschwerden als Ausdruck einer Depression bzw. einer neurotischen Persönlichkeitsstörung missdeutet werden. Insgesamt gesehen sei es hier sicherlich auch zu einer Besserung im Laufe der Jahre der Expositionskarenz gekommen. Die Symptomatik einer MCS-Erkrankung habe sich dagegen erst später entwickelt, nachdem der Kläger bereits seit Jahren fern vom Arbeitsplatz gewesen sei. Im Mai 1988 habe eine Berufskrankheit nach Nr. 1302 vorgelegen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit habe von Mai 1988 bis August 1997 20 % betragen. Danach bemesse sie sich auf 10 %. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 4. Mai 2001 hat Dr. zum W1 ausgeführt, es sei davon auszugehen, dass bei dem Kläger genetisch eine besondere Empfindlichkeit gegenüber chlorierten Kohlenwasserstoffen sowie radikalischen bzw. peroxidischen Abbauprodukten von Lösemitteln vorliege. Auch nach Beendigung der Exposition am Arbeitsplatz könne es daher durch unvermeidbare fortgesetzte Exposition gegenüber potentiell neurotoxischen Substanzen im Alltag zu einer Verschlechterung der zerebralen Leistungsfähigkeit kommen.

Die Beklagte ist aufgrund eines ausführlichen Berichtes des Technischen Aufsichtsdienstes vom 04. Oktober 2001 über die ermittelten Schadstoffe zu dem Ergebnis gekommen, die haftungsbegründende Kausalität sei nicht gegeben, da Grenzwertüberschreitungen bezüglich halogenierter Kohlenwasserstoffe nicht hätten festgestellt werden können.

Mit Urteil vom 28. November 2002 (dem Kläger am 22. Januar 2003 zugestellt) hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Eine Berufskrankheit liege nicht vor. Abgesehen davon, dass die Ergebnisse der 1988 durchgeführten Urin- und Blutuntersuchung gegen das Vorliegen einer für die Hervorrufung einer Enzephalopathie ausreichenden gesundheitsschädigenden Belastung sprächen, fehle es jedenfalls an der haftungsausfüllenden Kausalität, denn bei dem Kläger liege keine toxische Enzephalopathie vor.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger mit Schreiben vom 20. Februar 2003 (Eingang beim Gericht 21. Februar 2003) Berufung eingelegt. Zu Unrecht habe sich das Sozialgericht den Ausführungen von Dr. P. angeschlossen und die Darlegungen von Dr. zum W1 ignoriert. Die Beschwerden des Klägers hätten eine berufliche Ursache. Bei ihm liege nachweisbar eine toxische Enzephalopathie vor. Damit sei sowohl die haftungsbegründende als auch die haftungsausfüllende Kausalität gegeben. Gegen die berufliche Verursachung der Enzephalopathie spreche auch nicht die nach Aufgabe der Tätigkeit eingetretene Verschlechterung. Ebenso wenig sei aus der Krankheits- und Beschwerdeentwicklung zu folgern, dass eine berufliche Ursache nicht wahrscheinlich sei.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. November 2002 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. Dezember 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Februar 1996 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei ihm eine Enzephalopathie als Berufskrankheit nach Nr. 1302 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen und ihn wegen der Folgen dieser Erkrankung zu entschädigen, hilfsweise ein neuropsychologisches Gutachten einzuholen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, das Sozialgericht habe zu Recht ihre Bescheide bestätigt.

Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG hat der den Kläger seinerzeit (seit 1990) behandelnde Praktische Arzt F. das Gutachten vom 19. Februar 2005 nach Untersuchung des Klägers erstattet. Nach der Bemerkung, Befunde seien immer eine subjektive Aussage, ist er im Wesentlichen aufgrund der Selbstangaben des Klägers und – nach seiner Angabe auch - eigener Untersuchungsbefunde, über deren Erhebung er keine Einzelheiten mitteilt, sowie einem Suszeptibilitätsmonitoring zur Ermittlung der Genvariante zu dem Ergebnis gekommen, bei dem Kläger lägen ein funktionelles hirnorganisches Syndrom, eine cerebrale Insuffizienz, eine bronchiale Hyperreagibilität, eine Chemikalienüberempfindlichkeit, eine chronische Müdigkeit und eine sekundäre Depression vor, die allesamt mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % beruflich bedingt seien. Daneben bestehe eine Sicca-Symptomatik, eine Neuroborreliose 2004 und eine Sacroileitis. Die drei erstgenannten Diagnosen würden durch die Berufskrankheit nach Nr. 1302 der Anlage zur BKV erfasst, teilweise in der dortigen Nr. 1317 genauer. Die MdE werde mit 50 v. H. eingeschätzt. Der Kläger zeige eine besondere Empfindlichkeit auf Chemikalien und habe eine genetisch bedingte Variante der Enzyme des Fremdstoffmetabolismus, welche nach entsprechender Exposition zu Stoffwechselentgleisungen führe und eine Entgiftung des Körpers verhindere. So würde der Kläger beispielsweise auf den Kontakt mit Pflanzenschutzmitteln (bei Blumen, Obst usw.) im Alltag reagieren. Dennoch wären die gesundheitlichen Reaktionen vorliegend ohne den berufsbedingten Kontakt zu Chemikalien mit Sicherheit nicht eingetreten. Auch die Weiterentwicklung der Gesundheitsstörungen nach Ende der Exposition sei auf die berufsbedingte Verursachung zurückzuführen.

Die Beklagte hat in ihrer Stellungnahme zu diesem Gutachten die fachliche Qualitfikation des Herrn F. für die erforderliche Diagnostik- und Zusammenhangsbeurteilung bezweifelt und sich im Übrigen auf die Ausführungen des Arbeitsmediziners Dr. H1 vom 21. April 2005 bezogen. Dieser hat dargelegt, Herr F. habe sich zum von ihm angenommenen Beginn der Erkrankung nicht geäußert und erst Recht den zeitlichen Verlauf der Erkrankung im Rahmen der Kausalitätsbeurteilung nicht gewürdigt. Für die vom Gutachter angenommene bronchiale Hyperreagibilität fehle es an einer Befunddokumentation. Demgegenüber liege beim Kläger eine Neigung zur Bronchitis anamnestisch bereits seit Mitte der 70iger Jahre vor. Soweit eine bronchiale Hyperreagibilität bei dem Kläger vorliegen sollte, dürfte sich diese erst nach dem Jahr 2000 entwickelt haben. Es fehle daher ein zeitlicher Zusammenhang zur beruflichen Tätigkeit. Für ein funktionelles hirnorganisches Syndrom, unter dem Herr F. eine Enzephalopathie zu verstehen scheine, fehle es an einem objektivierbaren Befund. Die bei dem Kläger bestehenden Symptome seien nicht spezifisch für eine solche Erkrankung, sondern könnten auch vielfältige andere Ursachen haben. Mit der Behauptung einer solchen Erkrankung stünden Dr. zum W1 und Herr F. auch allein dar, während alle anderen Gutachter das Vorliegen verneinten. Aber selbst wenn man das Vorliegen der Erkrankung unterstellen würde, spräche der Erkrankungsbeginn mehr als 10 Jahre nach Beendigung der versicherten Tätigkeit ohne zwischenzeitliche Brückensymptome gegen einen beruflichen Ursachenzusammenhang. Ebenso wenig sei das Vorliegen einer cerebrale Insuffizienz belegt. "Chemikalienüberempfindlichkeit" sei keine allgemein anerkannte Erkrankung. "Chronische Müdigkeit" bezeichne ein Krankheitssymptom und sei weder eine Gesundheitsstörung noch eine Diagnose. Im Übrigen sei auch dieses Symptom nicht nachgewiesen. Selbst wenn bei dem Kläger eine Depression vorliegen sollte, sei ein zeitlicher Zusammenhang zur beruflichen Tätigkeit nicht erkennbar. Genetische Auffälligkeiten ließen keinerlei Rückschluss auf bestehende Erkrankungen oder deren Verursachung zu. Die Ausführungen von Herrn F. seien insoweit rein spekulativ. Ein erheblicher Mangel des Gutachtens sei das völlige Fehlen der Bewertung der Arbeitsplatzbedingungen und der Wahrscheinlichkeit einer beruflich bedingten Verursachung der Erkrankungen unter Abwägung der versicherten und nicht versicherten Risiken. Aus dem Gutachten könne keine Erkenntnis für das Vorliegen einer Berufskrankheit gewonnen werden.

Der Kläger hält die Ausführungen von Dr. H1 für unzutreffend.

Der Arbeitsmediziner Dr. P. ist in seiner Stellungnahme vom 16. Mai 2006 bei der bisherigen Einschätzung geblieben. Die bei dem Kläger gemessene Belastung an relevanten Schadstoffen im Blut liege weit unterhalb der toxikologisch begründeten Biologischen Arbeitsplatztoleranzwerte. Wesentlich fuße die Beurteilung von Herrn F. auf der Selbsteinschätzung des Klägers. Daraus könne weder die Schlussfolgerung, es liege eine neurotoxische Enzephalopathie vor, abgeleitet werden, noch ersetze eine Selbsteinschätzung objektivierbare Befunde. Das subjektive Beschwerdebild deute auf ein in der Medizin umstrittenes Krankheitsbild – die sogenannte Multiple Chemikalienüberempfindlichkeit (MCS) – ,über deren Ursachen noch keine gesicherten Erkenntnisse bestünden. Bisher hätten Studien jedenfalls noch keinen Zusammenhang mit einer Lösemittelexposition belegen können. Die von Herrn F. durch das Suszeptibilitäts-Monitoring festgestellte Genvariante bei dem Kläger lasse nach dem medizinischen Erkenntnisstand keine Aussage für eine Zusammenhangsbeurteilung zu.

Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung vom 13. Juni 2006 sowohl Dr. P. als auch Dr. zum W1 gehört. Hinsichtlich des Inhalts ihrer Aussagen wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf die in der Sitzungsniederschrift vom 13. Juni 2006 aufgeführten Akten und Unterlagen verwiesen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers (vgl. §§ 143, 144, 151 SGG) ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung des Vorliegens einer Enzephalopathie als Berufskrankheit nach Nr. 1302 der Anlage zur BKV, weil bereits das Vorliegen einer Enzephalopathie nicht festgestellt werden kann. Damit scheidet eine Entschädigung ebenfalls aus.

Auf den Rechtsstreit finden noch die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) Anwendung, weil ein Versicherungsfall aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs, Siebtes Buch, Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) am 1. Januar 1997 geltend gemacht wird (vgl. Artikel 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 SGB VII).

Der Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung setzt das Vorliegen einer Berufskrankheit voraus (§§ 547, 551 Abs. 1 RVO). Berufskrankheiten sind die in der Anlage zur BKV aufgeführten Krankheiten, die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO). Voraussetzung für das Vorliegen einer Berufskrankheit ist, dass die schädigende Einwirkung ursächlich auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen ist (sog. haftungsbegründende Kausalität) und die schädigende Einwirkung die Krankheit wesentlich (mit-) verursacht hat (sog. haftungsausfüllende Kausalität). Während die einzelnen Glieder dieser Kausalkette (versicherte Tätigkeit, schädigende Einwirkung, Gesundheitsschaden) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen müssen, genügt für den Ursachenzusammenhang eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, d. h. es müssen mehr Gesichtspunkte dafür als dagegen sprechen. Allerdings reicht die bloße Möglichkeit eines Zusammenhanges nicht aus.

Zu den Berufskrankheiten zählen nach Nr. 1302 der Anlage zur BKV Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe.

Es kann dahingestellt bleiben, ob die sonstigen Voraussetzungen vorliegen, denn die geltend gemachten Ansprüche auf Anerkennung und Entschädigung scheitern daran, dass sich das Vorliegen einer Enzephalopathie nicht mit der erforderlichen, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit feststellen lässt. Nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. P. passen die vom Kläger angegebenen Symptome nicht nur zu einer Enzephalopathie, sondern auch zu anderen Erkrankungen wie einer Depression, einer Somatisierungsstörung und einer MCS. Weder die durchgeführten Testverfahren noch die SPECT-Untersuchung können das Vorliegen einer Enzephalopathie beweisen. Der Senat folgt mit Dr. P. nicht der von der allgemeinen Auffassung in der medizinischen Wissenschaft abweichenden Meinung der Gutachter F. und Dr. zum W1, die SPECT-Untersuchung habe einen Aussagewert für die Funktionsfähigkeit des Gehirns als Organ. Vielmehr lässt sich mit ihr allenfalls die Aktivität bestimmter Gehirnregionen im Moment der Untersuchung belegen. Damit lässt sie keine verlässlichen Schlussfolgerungen auf eine Hirnerkrankung zu. Mit den durchgeführten Tests kann nur ein Bild der vorliegenden (größtenteils vom Probanten angegebenen, für den Tester nicht sicher überprüfbaren) Befindlichkeitsstörungen und ggfs. den einzelnen Fähigkeiten (wie Gedächtnisleistung) gezeichnet werden. Gestützt wird die Auffassung Dr. P.’s durch die von anderen Ärzten und Kliniken aufgrund der vom Kläger angegebenen Symptome diagnostizierten Erkrankungen. Sowohl Dr. H. als auch Dr. L1 nehmen eine neurotische Persönlichkeitsstörung an. Zusammen mit Dr. B2 schließen alle drei Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie das Vorliegen einer hirnorganischen Erkrankung und damit auch eine Enzephalopathie aus. Auch die Klinik in B1 ordnet die Beschwerden des Klägers einer MCS und einer depressiven Reaktion zu. Demgegenüber bringt Dr. zum W1 keine überzeugenden Argumente für das Vorliegen einer Enzephalopathie, sondern führt selbst in seinem schriftlichen Gutachten aus, es lägen "Hinweise" auf eine Enzephalopathie vor, die Symptome könnten auch als Ausdruck einer Depression bzw. einer neurotischen Persönlichkeitsstörung (miss)deutet werden. Damit gesteht auch er die Nähe der Krankheitsbilder zu. In seiner mündlichen Vernehmung konnte er ebenfalls keine Kriterien benennen, welche im Falle des Klägers eine Enzephalopathie als sicher vorliegend belegen. Er musste sogar zugestehen, dass auch er an andere Diagnosen denken würde, wenn er nicht von einer beruflichen Exposition mit entsprechenden Schadstoffen ausginge. Das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten von F. bringt – abgesehen von der berechtigten Kritik der Beklagten und der zutreffend von Dr. P. herausgestellten Mängel – insoweit keine neuen Erkenntnisse, denn die vielfältigen Diagnosen – wobei er unter dem Begriff "hirnorganisches Syndrom" wohl eine Enzephalopathie versteht – werden nicht näher begründet.

Der Senat hat von der Einholung eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens gemäß § 106 SGG auf neuropsychologischem Fachgebiet abgesehen, weil hiervon kein weiterer Erkenntnisgewinn zu erwarten ist. Selbst wenn man unterstellte, entsprechend den Ausführungen von Dr. zum W1 sei bei den im Universitätskrankenhaus vorzunehmenden "Testbatterien" eine manipulative Beeinflussung durch den Probanten weitgehend auszuschließen, kann mit solchen Tests lediglich das Bild der vorliegenden Befindlichkeitsstörungen und der kognitiven Defizite näher differenziert werden. Nach der Darlegung von Dr. P., welcher der Senat folgt, lässt sich über eine solche differenziertere Feststellung das Vorliegen einer Enzephalopathie aber schon vom Ansatz her nicht beweisen, weil bei dem Kläger nur in geringem Ausmaß Auffälligkeiten vorliegen und sich die bei ihm feststellbaren Symptome den oben genannten anderen – psychischen – Erkrankungen mindestens ebenso wie einer Enzephalopathie zuordnen lassen, wobei Persönlichkeitsstruktur, Zeitpunkt und Verlauf der Erkrankung sogar eher auf eine psychische Erkrankung deuten. Dabei hat der Senat das Vorliegen sämtlicher vom Kläger behaupteten Symptome als zutreffend unterstellt. Unter diesen Umständen kann offen bleiben, ob es überhaupt möglich wäre, aufgrund einer heutigen Untersuchung Rückschlüsse auf die Verhältnisse vor über zehn Jahren (Ende der Exposition) zu ziehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG ist nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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