L 1 R 143/06

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 19 RJ 672/04
Datum
-
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 R 143/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Regelaltersrente unter anderem unter Berücksichtigung sogenannter Ghetto-Beitragszeiten im Streit.

Die Klägerin ist die überlebende Ehefrau des am X.XXXXXXXX 1923 in T., Polen, geborenen und am X.XXXXX 2005 in den Vereinigten Staaten von Amerika verstorbenen M. E ... Der Verstorbene war Jude und besaß die Staatsangehörigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika, in die er 1946 ausgewandert war. Als Verfolgter im Sinne des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung – Bundesentschädigungsgesetz (BEG) war er anerkannt und erhielt eine Rente wegen Schadens an Körper oder Gesundheit aufgrund Bescheides des Bezirksamtes für Wiedergutmachung in Trier vom 12. April 1965 mit nachfolgenden Änderungen. Er hat ferner wegen Freiheitsentziehung bzw. wegen Schadens an der Freiheit eine Entschädigung erhalten. Hierbei wurde unter anderem ein Aufenthalt im Ghetto Tarnow im Zeitraum von Oktober 1939 bis Februar 1940 zugrunde gelegt. In einer eidesstattlichen Versicherung des L. E. und des I. G. vom 13. Juni 1955 (Blatt 13 der Entschädigungsakte) heißt es:

" M. E. war im Ghetto Tarnow von September 1939 bis Januar 1940 Gleich in den ersten Septembertagen musste er sich mit seinem Vater täglich im Gestapogebäude in der U.-Straße zu Schlosserarbeiten einstellen Sobald es keine Schlosserarbeiten mehr gab, wurd er gezwungen, in der Ziegelei zu arbeiten, wohin er unter Eskorte geführt wurde ".

Ferner heißt es dort in einer von dem Verstorbenen unterzeichneten Erklärung (Blatt 14 der Entschädigungsakte):

" Gleich nach der Einnahme der Stadt durch die Nazis wurde ich samt meinem Vater auf Verlangen der Gestapo zu Schlosserarbeiten gezwungen. Wir mussten jeden Tag im Gestapogebäude in der U.-Straße erscheinen, wo uns Schlosserarbeiten zugewiesen wurden, sei es im Gebäude der Gestapo selbst oder in anderen amtlichen Gebäuden, wo wir unter Eskorte hingeführt wurden.Januar 1940 wurde ich zusammen mit anderen ins ZAL Pustkow bei Dembica gebracht, wo ich unter steter Aufsicht von früh morgens bis spät abends schwere Waldarbeit verrichten musste. Das dauerte bis April 1941, zu welcher Zeit ich wieder nach Tarnow gebracht und zurück ins Ghetto gesteckt wurde. Hier wurde ich zusammen mit meinem Vater zur Arbeit in der Ziegelei unter Eskorte hin und zurück ins Ghetto geführt, bis er Juli 1942 von mir abgesondert nach dem Lager KZ-Plaszow gebracht wurde. Ein halbes Jahr später bin auch ich dort eingewiesen worden "

Mit anwaltlichem Schreiben vom 5. November 2002 begehrte der Verstorbene von der Beklagten die Gewährung einer Regelaltersrente unter Beachtung des Fremdrentengesetzes (FRG), des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) und nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten in einem Ghetto (ZRBG). Zur Begründung ließ er vortragen, er sei Verfolgter im Sinne des BEG, habe sich von Juli 1941 bis Januar 1944 in Tarnow aufgehalten und dort während der Existenz des Ghettos Arbeiten als Schmied sowie in einer Eisengießerei verrichtet. Die Tätigkeit sei vom Judenrat empfohlen und vermittelt sowie von diesem mit Gutscheinen zur Bestreitung des Lebensunterhalts entlohnt worden. Zu seinen Beschäftigungszeiten gab der Verstorbene in einer persönlich unterzeichneten Erklärung auf Formblatt der Beklagten im Einzelnen an, von Juli 1941 bis Januar 1944 im Ghetto Tarnow als Schlosser und Stahlarbeiter für die Gestapo und die Schutzpolizei gearbeitet zu haben. In einer Eidesstattlichen Erklärung vom 9. Juni 2003 wird diese Erklärung wiederholt und hinzugefügt, der Judenrat habe Gutscheine gegeben, die nicht als zusätzliche Entlohnung gedient hätten. Sie hätten lediglich für ein erträgliches Leben ausgereicht.

Mit Bescheid vom 4. August 2003 lehnte die Beklagte das Rentenbegehren ab. Arbeiten für vor Ort stationierte Polizeieinheiten erfüllten regelmäßig nicht die Voraussetzungen eines freien Arbeitsverhältnisses, da die entsprechenden Arbeitskräfte zwangsweise rekrutiert worden seien. Arbeiten, zu denen der Verfolgte unfreiwillig bzw. unentgeltlich herangezogen worden sei, seien nicht vom Anwendungsbereich des ZRBG erfasst, weil es sich um Zwangsarbeiten handele. Die Anrechnung von Ghetto-Beitragszeiten sei somit nicht möglich. Allein aus Ersatzzeiten könne eine Rente nicht geleistet werden.

Hiergegen erhob der Verstorbene Widerspruch. Die Tätigkeit werde verkannt. Es treffe zu, dass diese letztendlich den Besatzungsmächten zugute gekommen sei. Dies gelte jedoch für nahezu sämtliche Tätigkeiten in einem Ghetto, so u.a. auch für diejenige in dem Ghetto Lodz und den ostoberschlesischen Ghettos, wo Kleidungen und andere Gegenstände für die deutsche Wehrmacht hergestellt worden seien. Die ausgeübte Tätigkeit sei von ihm - dem Verstorbenen - angestrebt und letztendlich vom Judenrat vermittelt worden. Diese sei auch durch Gutscheine zur Bestreitung des Lebensunterhalts entlohnt worden. Eine Aufnahme von Zwangsarbeit aufgrund hoheitlicher Anordnung liege nicht vor. In einer beigefügten eidesstattlichen Versicherung des Verstorbenen heißt es, er sei im Ghetto Tarnow von Juni 1941 bis Januar 1944 gewesen. Man habe ihn gezwungen, sich dort aufzuhalten. Sie hätten Lebensmittelgutscheine vom Judenrat bekommen, welcher für sie verantwortlich gewesen sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 16. April 2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie vertrat weiterhin die Auffassung, bei der ausgeübten Tätigkeit habe es sich um Zwangsarbeit und nicht um eine frei gewählte Beschäftigung gehandelt.

Zur Begründung seiner daraufhin fristgerecht erhobenen Klage hat der Ehemann der Klägerin sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt und vertieft. Nachdem er am 16. Januar 2005 verstorben war, hat die Klägerin das Verfahren fortgeführt.

Das Sozialgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 28. Juli 2006 abgewiesen. Es sei nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der verstorbene Ehemann der Klägerin im Ghetto Tarnow in der geltend gemachten Zeit vom Februar 1942 bis Januar 1943 eine rentenversicherungspflichtige Tätigkeit im Sinne des ZRBG aus eigenem Willensentschluss und gegen Entgelt verrichtet habe. So habe er selbst vorgetragen, als "Entlohnung" für seine Arbeiten Lebensmittelgutscheine erhalten zu haben, die gerade zum Überleben ausgereicht hätten. Dies erfülle nicht den Begriff der Entgeltlichkeit im Sinne des ZRBG. Auf die Entscheidung wird ergänzend Bezug genommen. Sie ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 1. August 2006 zugestellt worden.

Die Klägerin hat am 9. August 2006 Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, das Sozialgericht habe unzutreffend entschieden, dass die gewährten Gutscheine kein Entgelt im Sinne des ZRBG darstellten. Ihrem verstorbenen Ehemann sei es mit diesen Gutscheinen genauso möglich gewesen, Waren zu erwerben, wie mit dem sogenannten Ghetto-Geld. Aus sei nicht geprüft worden, ob dem Verstorbenen aus anderen rentenrechtlichen Vorschriften ein Anspruch auf Gewährung einer Altersrente erwachsen sein könnte.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 28. Juli 2006 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 4. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. April 2004 zu verurteilen, für ihren Ehemann bis zu dessen Tode Regelaltersrente zu gewähren und an sie als Ehefrau auszuzahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Angaben der Rechtsnachfolgerin des Verstorbenen seien nicht geeignet, eine andere Entscheidung herbeizuführen. Der Erhalt von Essengutscheinen reiche nicht aus, um eine Entgeltlichkeit im Sinne des ZRBG zu bejahen. Insoweit bestehe auch keine Vergleichbarkeit mit dem "Ghetto-Geld", mit welchem auch andere Güter als Lebensmittel hätten erworben werden können. Auch sei von Bedeutung, dass der Verstorbene vorgetragen habe, Gutscheine erhalten zu haben, die gerade zum Überleben gereicht hätten. Aus weiteren rentenrechtlichen Vorschriften erwachse ein Anspruch nicht. Da die Zugehörigkeit des Verstorbenen zum deutschen Sprach- und Kulturkreis weder behauptet noch nachgewiesen sei, unterfalle er nicht dem § 1 FRG und damit komme auch § 20 WGSVG nicht zum Tragen. Allein aus dem ZRBG könnten Ansprüche aus der Rentenversicherung abgeleitet werden. Die hierfür erforderlichen Voraussetzungen seien jedoch nicht glaubhaft gemacht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die ausweislich der Niederschrift über die öffentliche Senatssitzung vom 5. September 2007 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte und zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtlich nicht zu beanstanden. Der Ehemann der Klägerin konnte die von ihm begehrte Rente nicht beanspruchen. Eine Nachzahlung an die Klägerin aus dieser Rente kommt deshalb nicht in Betracht.

Nach § 35 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Regelaltersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren rentenrechtlicher Zeiten (§ 50 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI) erfüllt haben. Auf diese allgemeine Wartezeit werden Beitragszeiten und Ersatzzeiten angerechnet (§ 51 Abs. 1 und Abs. 4 SGB VI). Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten (§ 55 Abs. 1 SGB VI). Für Staatsangehörige der Vereinigten Staaten von Amerika reicht nach Art. 7 Abs. 2 USA-SVA i.d.F. des Zusatzabkommens vom 2. Oktober 1986 (BGBl. 1988 II, S. 83) und des Zweiten Zusatzabkommens vom 6. März 1995 (BGBl. 1996 II, S. 302) eine Mindestversicherungszeit nach deutschen Rechtsvorschriften von 18 Monaten aus.

Hiernach hatte der Versicherte keinen Rentenanspruch. Für ihn sind keine Versicherungszeiten auf die Wartezeit anzurechnen. Er hat Pflichtbeitragszeiten in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung nicht zurückgelegt und ist deshalb in der deutschen Rentenversicherung nicht versichert gewesen. Er mag Ersatzzeiten zurückgelegt haben. Nur mit Ersatzzeiten besteht jedoch kein Rentenanspruch, weil nach § 250 Abs. 1 SGB VI nur Versicherte rentenrechtliche Zeiten als Ersatzzeiten haben können. Versichert im Sinne dieser Vorschrift ist aber nur derjenige, für den wenigstens ein Beitrag vor Beginn der Rente wirksam gezahlt worden ist oder als entrichtet gilt. Hieran fehlt es. Dafür, dass Beiträge für die streitigen Zeiträume entrichtet wurden, finden sich im Sachverhalt keinerlei Anhaltspunkte. Der Verstorbene hat aber auch keine Zeiten zurückgelegt, für die Beiträge im Sinne des § 55 SGB VI als gezahlt gelten.

Allerdings können nach § 2 Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 ZRBG Beitragszeiten zur gesetzlichen Rentenversicherung ausnahmsweise dann fingiert werden, wenn ein Verfolgter sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten hat, dort aus eigenem Willensentschluss eine Beschäftigung aufgenommen hat und diese Beschäftigung gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder in dieses eingegliedert war. Diese Voraussetzungen für die Fiktion einer Beitragsentrichtung müssen lediglich glaubhaft gemacht werden. Dies folgt aus § 1 Abs. 2 ZRBG, wonach die Vorschriften des ZRBG die rentenrechtlichen Vorschriften des WGSVG ergänzen. Sonach finden die Vorschriften der Glaubhaftmachung des WGSVG im Rahmen der Anerkennung von Beitragszeiten nach dem ZRBG unmittelbar Anwendung. Nach § 3 Abs. 2 WGSVG ist eine Tatsache glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist.

Es ist nicht glaubhaft gemacht, dass der Verstorbene so genannte Ghetto-Beitragszeiten zurückgelegt hat. Allerdings ist er Verfolgter im Sinne des BEG gewesen. Keinem Zweifel unterliegt auch, dass in Tarnow ein Ghetto im Sinne des ZRBG bestanden hat, und ferner, dass sich der verstorbene Ehemann der Klägerin dort zwangsweise aufgehalten hat. Die Verfolgteneigenschaft steht für den Senat aufgrund der Bescheide des Bezirksamtes für Wiedergutmachung in Trier fest. Errichtung und Auflösung des Ghettos Tarnow sind durch die Forschungsarbeiten des Karl Ernst Osthaus-Museums (www.keom.de/denkmal) dokumentiert. Dort ist die Eröffnung des Ghettos für den 1. Februar 1942 und seine Liquidierung für den 2. September 1943 vermerkt. Diesen Angaben folgt der Senat. Mit ihnen und den Angaben des Klägers zu den Verfolgungszeiten im Entschädigungsverfahren ist weiter glaubhaft, dass er sich seit 1. Februar 1942 zwangsweise im Sinne des § 43 Abs. 2 BEG, d.h. bei vollständiger und nachhaltiger Absonderung von der Umwelt im Sinne besonders intensiver und unter Strafdrohung erzwungener Beeinträchtigung der Freiheit (vgl. BSG 14.12.2006 – B 4 R 29/06 R, Juris (zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen)) im Ghetto Tarnow aufgehalten hat und ferner, dass dieser Aufenthalt im Juli 1942 mit dem Transport in das Konzentrationslager Plaszow endete. Das Ghetto war auch in einem vom Deutschen Reich besetzten Gebiet, nämlich im so genannten Generalgouvernement und dort im Distrikt Krakow gelegen, welcher durch Erlass des Führers und Reichskanzlers vom 12. Oktober 1939 (RGBl I 2077) über die Überleitung der Verwaltung im Generalgouvernement zum 26. Oktober 1939 unter deutsche Zivilverwaltung gestellt wurde.

Glaubhaft ist mit den Angaben des Klägers im Entschädigungsverfahren auch, dass dieser einer Beschäftigung nachgegangen ist, während er sich im Ghetto aufhielt. Unschädlich für die Einordnung dieser Beschäftigung als Ghetto-Arbeit im Sinne von § 1 ZRBG ist auch, dass die Tätigkeit nicht im Ghetto selbst, sondern aus dem Ghetto heraus verrichtet wurde. Denn nach dem zu diesem Gesetz in den Abschlussberatungen im Deutschen Bundestag zutage getretenen Willen des Gesetzgebers sollten auch Arbeiten, die außerhalb des räumlichen Bereichs eines Ghettos verrichtet wurden, vom ZRBG erfasst werden, wenn sie "Ausfluss der Beschäftigung im Ghetto" waren (vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 14/233, S. 23281).

Nicht glaubhaft ist indessen, dass die beschriebene Tätigkeit aus freiem Willensentschluss im Sinne von § 1 Abs. 1 ZRBG aufgenommen wurde. Überwiegendes spricht vielmehr dafür, dass es sich um eine Beschäftigung aufgrund obrigkeitlichen Zwanges handelte.

Das Merkmal des Zustandekommens aus eigenem Willensentschluss soll die zur Fiktion einer Beitragszeit führende Beschäftigung im Sinne des ZRBG von der Zwangsarbeit im Ghetto bzw. aus dem Ghetto heraus abgrenzen. Allerdings ist dieses Merkmal im ZRBG selbst nicht definiert. Hinweise zur Abgrenzung lassen sich aber der Zusammenschau mit dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" vom 2. August 2000 (BGBl I 1263 – Zwangsarbeiter-Stiftungsgesetz) entnehmen. Nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 dieses Gesetzes ist unter anderem derjenige leistungsberechtigt, der in einem Ghetto inhaftiert war und zur Arbeit gezwungen wurde. Demgegenüber sollte das ZRBG denjenigen Ghetto-Insassen zur Anerkennung von Beitragszeiten verhelfen, die in der Zwangssituation des Ghettos einer entlohnten Beschäftigung nachgingen, um überleben zu können (vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 14/233, S. 23281). Insoweit sollten die Kriterien aufgegriffen werden, die in der Rechtsprechung vor Erlass des ZRBG zur Abgrenzung nicht versicherungspflichtiger Zwangsarbeit (vgl. BSG 14.07.1999 - B 13 RJ 71/98 R, SozR 3-5070 § 14 Nr. 3) von versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen in den besetzten Gebieten entwickelt wurden. Diese Rechtsprechung kann daher auch hier zur Abgrenzung herangezogen werden. Hiernach ist kennzeichnend für ein freies Beschäftigungsverhältnis, dass auf Seiten des Arbeitnehmers und auf Seiten des Arbeitgebers jeweils eigene Entschlüsse zur Beschäftigung vorliegen und auszutauschende Werte – Arbeitsleistung einerseits und das dafür zu zahlende Entgelt andererseits – einander gegenüber stehen, wobei vorbehaltlich eines gewissen Mindestumfanges der Entlohnung weder fehlende Äquivalenz der sich gegenüberstehenden Leistungen noch unter den besonderen Umständen des Ghettoaufenthalts die Beschränkung des Beschäftigten in seiner Freizügigkeit der Annahme eines "freien" Beschäftigungsverhältnisses grundsätzlich entgegenstehen (BSG 18.06.1997 - 5 RJ 66/95, SozR 3-2200 § 1248 Nr. 15 – Ghetto Lodz). In gleichem Maße wie das Beschäftigungsverhältnis von hoheitlichem Zwang überlagert wird, nähert es sich der Zwangsarbeit an, so dass die Entscheidung zur Abgrenzung für jeden Einzelfall gesondert zu treffen ist (vgl. BSG 14.07.1999 - B 13 RJ 71/98 R, SozR 3-5070 § 14 Nr. 3).

Danach ist hier von einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss nicht auszugehen. Wie der Kläger im Entschädigungsverfahren selbst erklärt hat, wurde er in dem hier in Rede stehenden Zeitraum zusammen mit seinem Vater zur Arbeit in einer Ziegelei gezwungen, wohin er "unter Eskorte" geführt wurde. Dies wird im Entschädigungsverfahren auch durch eidesstattliche Versicherungen zweier Zeugen belegt. Bereits diese Angaben sprechen gegen eine Beschäftigungsaufnahme aus freiem Willensentschluss, sondern für Arbeit aufgrund allgemeinen obrigkeitlichen Zwanges, der nach der erwähnten Rechtsprechung die Einstufung als versicherungspflichtige Beschäftigung hindert. Bestätigt wird diese Sicht durch einen Blick auf die seinerzeitige Rechtslage. So unterlagen nach § 1 der Verordnung über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung des Generalgouvernements vom 26. Oktober 1939 (VOBlGGP 1939, Seite 6) die im Generalgouvernement ansässigen Juden dem "Arbeitszwang" und wurden zu diesem Zweck in "Zwangsarbeitertrupps" zusammengefasst, während Polen lediglich der Arbeitspflicht unterlagen. Nähere Bestimmungen für die Erfassung und Gestellung der Juden zur Zwangsarbeit enthielt der auf der Grundlage der genannten Verordnung erlassene Dienstbefehl des Höheren SS – und Polizeiführers vom 20. Januar 1940. Dieser richtete sich an die Judenräte und gab ihnen auf, alle männlichen Juden vom vollendeten 12. bis vollendeten 60. Lebensjahr auf Karteikarten zu erfassen und mit genau beschriebener persönlicher Ausrüstung und Verpflegung, die aus eigenen Mitteln zu beschaffen war, nach entsprechendem Aufruf an Sammelplätzen zur Verfügung zu stellen. Aus diesen Regelungen ergibt sich in der Zusammenschau mit den von dem Kläger gemachten Angaben, dass dieser seine Tätigkeit gleich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Erfüllung des Aufrufes zur Zwangsarbeit und damit in Erfüllung eines obrigkeitlichen Zwanges aufgenommen und nach Errichtung und Abschluss des Ghettos von dort fortgesetzt hat. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens spricht nichts dafür, dass dem Arbeitszwang nach Beendigung der zwangsweisen Waldarbeit und Einweisung in das Ghetto innerhalb eines freiwilligen Beschäftigungsverhältnisses nachgegangen wurde. Vielmehr hatten sich nach allen im Verfahren zutage getretenen Umständen im Februar 1942 lediglich der Aufenthaltsort und Beschäftigungsstelle geändert. Der Marsch zur Arbeit in der Ziegelei in bewachten Kolonnen ist weiteres Indiz für die Ausübung obrigkeitlichen Zwanges bei der Ableistung der Arbeit.

Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Erlass des Generalgouverneurs vom 4. Juli 1940 (Documenta Occupationis Band IV, Seite 568). Zwar heißt es dort, dass wegen des Arbeitskräftemangels versucht werden solle, "in geeigneten Fällen" den Versuch einer Beschäftigung von Juden in freien Arbeitsverhältnissen zu unternehmen. Jedoch kam dies nach dem Wortlaut des Erlasses nur bei denjenigen Juden in Betracht, die nicht bereits zur Zwangsarbeit aufgerufen waren. Insoweit heißt es dort nämlich weiter, dass die Beschäftigung der Juden weiterhin "grundsätzlich auf der Grundlage der Verordnung vom 26.10.1939 und der Durchführungsvorschrift vom 12.12.1939" erfolgen solle. Die Beschäftigung der Juden habe zum Ziel, zum einen die bestmögliche Ausnutzung ihrer Arbeitskraft im Allgemeininteresse und zum anderen die Sicherung des eigenen und des Lebensunterhaltes der Familie. Sie könne sich demgemäß einerseits in der Form der Zwangsarbeit, welche eine Entlohnung nicht vorsehe, und andererseits in der Form der nicht zur Zwangsarbeit aufgerufenen Juden im freien Arbeitsverhältnis vollziehen, für die eine Tarifordnung zu schaffen sei. Letzteres war aber bei dem Kläger nach eigenem Vorbringen der Fall. Er kam nach seiner Einweisung ins Ghetto offenbar für ein solches freiwilliges Beschäftigungsverhältnis nicht in Frage, da er bereits zwangsweise zur Arbeit herangezogen worden war und weiterhin entsprechend verwendet wurde.

Den anderslautenden Angaben des Verstorbenen, wonach er während des Aufenthalts im Ghetto "auf Vermittlung des Judenrates" als Schmied sowie in einer Eisengießerei gearbeitet habe, welche Tätigkeit vom Judenrat empfohlen und vermittelt sowie von diesem mit Gutscheinen zur Bestreitung des Lebensunterhalts entlohnt worden sei, vermag der Senat keinen Glauben zu schenken. Sie stehen in unauflöslichem Widerspruch zu den Erstangaben im Entschädigungsverfahren, die zudem noch zeugenschaftlich belegt sind und welchen der Senat deshalb Glauben schenkt. Während der Zeit des Aufenthalts im Ghetto hat der Kläger solche Arbeiten jedenfalls nicht verrichtet.

Beitragszeiten in Anwendung von § 17 a des Fremdrentengesetzes (FRG) und § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung sind schließlich nicht festzustellen, weil – worauf die Beklagte zutreffend hinweist – es für die hierfür erforderliche Zugehörigkeit des Verstorbenen zum deutschen Sprach- und Kulturkreis keinerlei Anhaltspunkte gibt. Keinerlei Anhaltspunkte gibt es auch für die Zurücklegung von Beitrags- und Beschäftigungszeiten nach §§ 15, 16 FRG vor dem deutschen Einmarsch in Polen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Der Senat hat die Revision gegen dieses Urteil nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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