L 4 VG 10/07

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 33 VG 10/06
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 VG 10/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. Juni 2007 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten, ob der Kläger gegenüber der Beklagten Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) hat.

Der im XXXXX 1988 geborene Kläger stammt aus Afghanistan. Er lebt seit Oktober 1997 in der Bundesrepublik Deutschland. Zunächst wurde sein Aufenthalt gem. § 55 Abs. 2 Ausländergesetz 1990 (AuslG) geduldet, Nach Stellung eines Asylantrags im November 2001 erhielt der Kläger Aufenthaltsgestattungen nach § 63 Asylverfahrensgesetz; das Asylverfahren dauert – soweit ersichtlich – an.

Durch Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Bergedorf (Jugendgericht) vom 16. Dezember 2004, bestätigt durch das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 27. Juni 2005 (627 Ns 3/05, 4101 Js 117/04, 419 Ls 176/04) wurde der Kläger der gefährlichen Körperverletzung in zwei Fällen und der räuberischen Erpressung in drei Fällen schuldig gesprochen; die Verhängung von Jugendstrafe blieb vorbehalten. Der Kläger war danach Mittäter eines am 19. Oktober 2003 vor einer Diskothek am B. Tor von dem Mitangeklagten S. S1 begangenen Angriffs mit einem Messer auf zwei türkische Jugendliche. Der räuberischen Erpressung war der Kläger deswegen schuldig, weil er zusammen mit dem Mitangeklagten S2 A. am 11., 23. und 24. November 2003 gegenüber den jeweils jungen Geschädigten Geld, Zigaretten und Handys "abzog", indem die beiden unter anderem mit einem Messer drohten.

Am frühen Abend des 31. Januar 2004 wurde der Kläger in der Straße S3 in Hamburg mit einem Messer lebensgefährlich verletzt, weshalb er bis zum 10. Februar 2004 im Universitätsklinikum E. stationär behandelt werden musste. Über den Hergang dieses Ereignisses finden sich in den Akten unterschiedliche Darstellungen des Klägers selbst und mehrerer Zeugen. Insoweit wird auf deren zutreffende Wiedergabe auf Seiten 2 bis 4 des Tatbestandes im angefochtenen Urteil des Sozialgerichts (Bl. 76 bis 78 der Prozessakten) Bezug genommen. Ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen einer Straftat zum Nachteil des Klägers führte zu keinem Ergebnis (Verfahren 4106 U Js 22/04 bei der Staatsanwaltschaft Hamburg).

Am 28. April 2004 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Versorgung für Geschädigte nach dem Opferentschädigungsgesetz. Dabei gab er an, er sei zusammen mit seinem Freund S2 A. am fraglichen Tag auf der Straße gegangen und dabei auf junge deutsche Männer gestoßen. Diese hätten sie angesprochen und aufgehalten; einer von ihnen habe ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Er habe sich gewehrt, woraufhin der Deutsche ihn mit einem Messer in den Bauch gestochen habe. Er habe eine Gesichtsverletzung sowie schwere innere Verletzungen im Bauchbereich erlitten (Magen, Bauchspeicheldrüse, Milz).

Die Beklagte führte Ermittlungen durch und lehnte mit Bescheid vom 11. Februar 2005 den Antrag des Klägers ab. In der Begründung heißt es, die Anspruchsvoraussetzungen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne von § 1 Abs. 1 OEG seien nicht – wie erforderlich – nachgewiesen. Nachweis bedeute, dass für den Ablauf des tatsächlichen Geschehens, wie er geschildert werde, eine solche Wahrscheinlichkeit bestehe, dass die Behörde darauf die Überzeugung von der Wahrheit und nicht nur von der bloßen Wahrscheinlichkeit der Darstellung des Opfers gründen könne. Daran fehle es. Die Angaben des Klägers und der Zeugen seien vage und unstimmig, weshalb sie nicht als glaubhaft erachtet werden könnten. Zwar sei der Kläger zweifelsfrei Opfer einer Messerattacke geworden. Der Hintergrund dieser Tat sei allerdings nicht aufgeklärt worden, da der Kläger und sein Begleiter sich im Verlauf der Ermittlungen nicht kooperativ der Polizei gegenüber gezeigt hätten und die Beschuldigten unbekannt geblieben seien. So sei auch bei der Staatsanwaltschaft der Eindruck entstanden, der Sachverhalt sei konstruiert und die Angaben des Geschädigten nicht glaubhaft. Dabei habe eine Rolle gespielt, dass der Kläger und sein Begleiter selbst als Täter gefährlicher Körperverletzungen und räuberischer Erpressungen in Erscheinung getreten seien. Aus diesem Grunde könne insbesondere eine Notwehrlage des angeblichen Angreifers nicht ausgeschlossen werden. Die Folgen der Beweislosigkeit habe der Kläger als derjenige zu tragen, der aus der unbewiesenen Tatsache die für ihn günstige Rechtsfolge herleiten wolle.

Der Kläger erhob Widerspruch, der mit Bescheid vom 29. März 2006 zurückgewiesen wurde. Zur Begründung führte die Beklagte aus, ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf den Kläger sei nicht bewiesen. Der Täter habe nicht gefasst und daher auch nicht zum Sachverhalt gehört werden können. Die vom Kläger und dem Zeugen A. stammenden Aussagen seien nicht glaubwürdig bzw. widersprächen sich gegenseitig. So habe der Kläger zum einem gegenüber der Polizei angegeben, von "Nazis" auf eine Jacke angesprochen worden zu sein. Es sei zu einer verbalen Auseinandersetzung mit gegenseitigen Beleidigungen und anschließender Schlägerei gekommen. Demgegenüber habe der Zeuge A. angegeben, der Angriff auf den Kläger sei ohne Wortwechsel und ohne vorheriges Wortgefecht oder einen Schlagabtausch entstanden. Bei einer späteren Nachfrage habe der Zeuge nochmals angegeben, sich an einen Wortwechsel zu der Jacke nicht erinnern zu können. Auch der Kläger selbst habe bei einer Vernehmung am 16. Februar 2004 angegeben, der Täter habe nicht gesprochen. Am 3. Februar 2004 habe er jedoch den Täter als jemanden beschrieben, der Deutsch ohne erkennbaren Akzent gesprochen habe. Auch hinsichtlich der Anzahl der "Nazis" wichen die Aussagen voneinander ab. Die Angaben des Klägers schwankten zwischen einer und drei Personen. Nach Angaben des Zeugen A. habe es sich um eine Gruppe von vier bis sechs Männern gehandelt. Des Weiteren sei der Kläger wie auch sein Begleiter A. bemüht gewesen, sich vom Tatort trotz der erheblichen Verletzungen so schnell wie möglich zu entfernen, bzw. hätten sie diesen bei Eintreffen der Polizei bereits verlassen gehabt. A. habe den Kläger, als dieser zusammengesackt sei, noch mit den Worten: "Komm wieder hoch, wir müssen weiter" angetrieben und dies, obwohl angeblich bereits über einen Taxifahrer ein Rettungswagen angefordert gewesen sei. Unstimmig sei weiterhin, dass sowohl der Kläger als auch A. bemüht gewesen seien, die Identität von A. als Begleiter des Klägers zu verschleiern. A. habe sich, bevor der Rettungswagen und die Polizei eingetroffen seien, entfernt und auch beim Eintreffen der Polizei im Krankenhaus nicht erkennen lassen, dass er das Geschehen miterlebt habe.

Der Widerspruchsbescheid wurde dem Bevollmächtigten des Klägers am 10. April 2006 zugestellt. Am 10. Mai 2006 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Hamburg Klage erhoben mit dem Begehren, unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide der Beklagten festzustellen, dass er am 31. Januar 2004 Opfer einer Gewalttat im Sinne von § 1 OEG geworden sei. Der Kläger hat vorgetragen, Widersprüche in seinen Aussagen könnten ihm nicht vorgehalten werden, da sie nicht aus formellen Zeugenvernehmungen stammten und er infolge seiner lebensbedrohlichen Verletzungen erheblich geschwächt gewesen sei.

Das Sozialgericht hat Ermittlungen zum Sachverhalt angestellt und den Kläger persönlich angehört. Dabei hat der Kläger angegeben, er habe an dem fraglichen Tag die Wohnung von Freunden zusammen mit dem Zeugen A. verlassen, um eine Telefonzelle aufzusuchen. An diesem dunklen und regnerischen Tag seien ihnen auf der Straße Männer entgegen gekommen. Er wisse nur noch, dass vor seinen Augen alles weiß gewesen sei; er habe einen Schlag ins Gesicht bekommen. Gesprochen worden sei nichts. Der Täter sei dann über die Straße gelaufen, er, der Kläger, sei hinterhergelaufen und habe ihn auch erwischt. Er habe ihn geschlagen, dann habe er ein Brennen im Bauch gespürt und gesehen, dass darin ein Messer stecke. Der Zeuge A. habe den Täter dann noch geschlagen, welcher anschließend über die Straße gelaufen sei.

Der Zeuge S2 A. hat vor dem Sozialgericht ausgesagt, er habe damals mit dem Kläger zusammen telefonieren gehen wollen. Sie seien auf der Straße gewesen und hätten gelacht. Dann seien sie auf eine Gruppe Männer getroffen, von denen sie "angemacht" worden seien. Diese hätten etwas gesagt und sie hätten die Worte erwidert, so sei es zu einer Schlägerei gekommen. Die anderen hätten angefangen. Er, der Zeuge, habe etwas ins Gesicht bekommen, die Gegner seien geflüchtet, er habe sodann den Kläger gerufen. Er habe zunächst nicht gesehen, dass der Kläger ein Messer im Bauch gehabt habe und es gar nicht glauben können. Er, der Zeuge, sei weggelaufen, weil er mit der Polizei nichts zu tun zu haben wolle.

Mit Urteil vom 28. Juni 2007 hat das Sozialgericht Hamburg den Bescheid der Beklagten vom 11. Februar 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. Februar 2006 aufgehoben und festgestellt, dass der Kläger am 31. Januar 2004 Opfer einer Gewalttat im Sinne von § 1 OEG geworden sei. In den Entscheidungsgründen heißt es, die Klage sei als Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und begründet. Der Kläger habe am 31. Januar 2004 eine Messerstichverletzung durch einen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff erlitten. Die Körperverletzung (Messerstichverletzung) indiziere die Rechtswidrigkeit des Angriffs im Sinne des Anscheinsbeweises. Nach den im Kern glaubhaften Angaben des Klägers und des Zeugen A. sei der Kläger von einer männlichen Person, die mit einer weiteren männlichen Person unterwegs gewesen sei, durch einen Messerstich verletzt worden, nachdem es aus ungeklärten Gründen zu einer Schlägerei zwischen der Gruppe einerseits und dem Kläger sowie dem Zeugen A. andererseits gekommen sei. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass der damals 15-jährige Kläger und sein 15-jähriger Freund bewaffnet gewesen seien, spreche nichts dafür, dass der Kläger den unbekannten Täter so angegriffen haben könnte, dass dieser berechtigterweise in einer Notwehrhandlung zum Messer gegriffen und auf den Kläger eingestochen habe. Dass der Kläger mit seinem Freund tatsächlich auf mehrere junge Männer getroffen sei, die er als "Nazis" bezeichnet habe, sei glaubwürdig. Der Kläger habe eine entsprechende Aussage gegenüber der Polizei am 2. Februar 2004 gemacht, als er sich noch im Krankenhaus befunden habe. Der Zeuge A. habe ebenfalls bei seiner ersten Vernehmung durch die Polizei am 4. Februar 2004 von mehreren jungen Männern ("Nazis") gesprochen, auf die sie getroffen seien. Dass der Kläger und der Zeuge diese Version abgesprochen haben könnten, sei abwegig. Hinzu komme, dass der den Rettungswagen anfordernde Passant der Polizei gegenüber angegeben habe, der Zeuge A. habe damals gesagt, Nazis hätten den Kläger abgestochen. Diese Äußerung, unmittelbar nach der Tat und unter dem Schock des Tatgeschehens abgegeben, lasse keinen Zweifel daran zu, dass es zu einer solchen Begegnung tatsächlich gekommen sei. Ob es vor dem Messerstich zu Wortwechsel oder gegenseitigen Beleidigungen gekommen und wie viele junge Männer es genau gewesen seien, sei irrelevant. Die unterschiedlichen Angaben dazu seien nicht geeignet, Zweifel an einem rechtswidrigen Angriff aufkommen zu lassen. Angesichts des Umstands, dass der Kläger lebensgefährlich verletzt worden sei, sei erklärlich, dass Einzelheiten des Ablaufs weder ihm noch dem Zeugen in genauer Erinnerung geblieben seien, sondern allein die Todesgefahr durch den Messerstich einen bleibenden Eindruck hinterlassen habe. Aus den vorherigen Straftaten des Klägers und des Zeugen ließen sich keine Schlüsse auf das Geschehen am 31. Januar 2004 ziehen; ein Zusammenhang sei nicht ersichtlich. Die Tatsache, dass der Zeuge A. nicht von sich aus nach der Tat zur Polizei gegangen sei und zunächst seine Anwesenheit bei der Tat sogar verschwiegen habe, ändere nichts an seiner Glaubwürdigkeit. Er sei nach einer schwierigen langjährigen Flucht aus Afghanistan nach Deutschland gekommen, habe hier erhebliche Probleme und habe nach seinen Straftaten offenbar möglichst wenig mit der Polizei zu tun haben wollen. Sein Verhalten sei vor diesem Hintergrund nachvollziehbar. Das Verhalten des Klägers und des Zeugen sowie die vorangegangenen Straftaten könnten lediglich Anlass sein, die Aussagen besonders kritisch zu prüfen. Dies habe das Gericht getan und sei zu dem Schluss gekommen, dass die Aussagen im Kern glaubwürdig seien und aufgrund dessen ein vorsätzlicher rechtwidriger Angriff feststehe. Anhaltspunkte dafür, dass sie sich in krimineller Absicht einem Dritten genähert und dieser sich in einer Notwehrhandlung mit dem Messer verteidigt habe, gebe es nicht. Insbesondere die Angaben des völlig unbeteilten Passanten S4 dahingehend, dass A. gesagt habe, Nazis hätten den Kläger abgestochen, hätten zur Überzeugung des Gerichts beigetragen, dass das Geschehen vom 31. Januar 2004 nichts mit den früheren Straftaten des Klägers und des Zeugen zu tun habe.

Das Urteil des Sozialgerichts ist der Beklagten am 13. Juli 2007 zugestellt worden. Am 30. Juli 2007 hat sie Berufung eingelegt.

Zur Begründung ihrer Berufung führt die Beklagte aus, dem Sozialgericht könne nicht darin gefolgt werden, dass der Kläger Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Die unterschiedlichen Angaben des Klägers und der Zeugen ließen eine solche Überzeugung nicht zu. Betrachte man die tatnahen Aussagen des Klägers und des Zeugen A. gegenüber der Polizei und sehe man von den sich widersprechenden Angaben (Gruppe von 1 bis 3 Personen / Gruppe von 4 bis 6 Personen; verbale Auseinandersetzung und Schlägerei / keine dem Messerstich vorangehende Auseinandersetzung; Taxifahrer um Hilfe gebeten / Passanten um Hilfe gebeten) ab, so verbleibe als übereinstimmender Kern der Aussagen nur, der Kläger sei von einem "Nazi" mit dem Messer gestochen worden. Da beide Beteiligte in der Zeit kurz vor diesem Ereignis selbst Gewaltdelikte begannen hätten, bei denen ein Messer zum Einsatz gekommen oder zumindest damit gedroht worden sei, erscheine es sehr gut möglich, dass es sich hierbei um eine Schutzbehauptung handele, um eine missglückte eigene Raubtat zu verdecken. Der Eigentümer des Messers habe nicht festgestellt werden können, es sei also nicht ausgeschlossen, dass dieses dem Kläger selbst oder dem Zeugen A. gehört habe. Zu einem solchen Hergang würde passen, dass sich der Zeuge A. vor Eintreffen des Krankenwagens vom Ort des Geschehens entfernt habe, statt seinem verletzten Freund beizustehen, und dass er später im Krankenhaus gegenüber der Polizei geleugnet habe, vom Hergang der Verletzung Kenntnis zu haben. Auch dass der Zeuge A. nach Aussage des unbeteiligten Zeugen S4 versucht habe, den verletzten Kläger zum Verlassen des Tatorts zu bewegen, statt selbst von der nahen Telefonzelle aus Hilfe zu holen, unterstütze diese Annahme. Wenn sich auch ein solcher Hergang nicht beweisen lasse, so gelte dies ebenso für den Geschehensablauf, den der Kläger schildere. In einer solchen Betrachtung der Angelegenheit liege keine unzulässige Spekulation und Konstruktion irgendwelcher Geschehensabläufe; vielmehr sei lediglich darauf hinzuweisen, dass sich ein eindeutiges Tatgeschehen gerade nicht mehr feststellen lasse. Die Schilderung eines bestimmten Tatablaufs sei im Übrigen nicht Aufgabe der Beklagten. Es obliege dem Kläger, die anspruchsbegründenden Tatsachen vorzutragen und einen Geschehensablauf darzulegen, der das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs glaubhaft erscheinen lasse, wobei alle anspruchsbegründenden Tatsachen zur Überzeugung nachzuweisen seien.

Der Vortrag des Klägers entspreche diesen Anforderungen nicht. Aufgrund widersprüchlicher Zeugenaussagen sei nicht nachvollziehbar, wie sich das Geschehen tatsächlich abgespielt habe. Zwar möge nach den Regeln des Anscheinsbeweises davon auszugehen sein, dass ein vorsätzlicher tätlicher Angriff gegeben gewesen sei. Damit sei über dessen Rechtswidrigkeit jedoch noch nichts gesagt. Diese sei hier zweifelhaft, weil einige Indizien für das Vorliegen einer Notwehrlage sprächen. Der Kläger habe mehrere sogenannte Abziehdelikte begangen. Es sei daher nicht auszuschließen, dass er auch hier eine solche Tat habe verüben wollen und das Opfer sich mit einem Messer hiergegen zur Wehr gesetzt habe. Entscheidend sei jedoch, dass sich wegen der unterschiedlichen Schilderungen des Tatgeschehens nicht feststellen lasse, ob eine Notwehrlage vorgelegen habe oder nicht. Hierbei könne auch nicht auf die Regeln des Anscheinbeweises zurückgegriffen werden. Diese ermöglichten lediglich die Anwendung von Erfahrungswissen, dienten aber nicht der Interpretation verschiedener Sachverhaltsvarianten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. Juni 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger hält der Berufung entgegen, die Beklagte stelle mit ihren Überlegungen zu einem möglichen Tathergang unzulässige Spekulationen an. Dass er vorsätzlich tätlich angegriffen worden sei, sei nicht zweifelhaft. Damit aber sei die Rechtswidrigkeit des Angriffs, wie auch im Strafrecht, indiziert, und seine Beweislast beziehe sich auf das Fehlen von dem Täter zur Seite stehenden Rechtfertigungsgründen nicht. Andernfalls wäre er zum Nachweis einer negativen Tatsache verpflichtet; dies fordere die Rechtsordnung regelmäßig nicht. Wenn also die Beklagte von der Möglichkeit eines durch Notwehr gerechtfertigten Angriffs ausgehe, trage sie dafür die Darlegungs- und Beweislast.

Die den Kläger betreffenden Krankenakten des Universitätsklinikums Hamburg-E. und seine Ausländerakten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Des Weiteren hat das Gericht die Akten der Strafverfahren 4106 U Js 22/04 und 4106 Js 117/04 beigezogen. Auf ihren sowie auf den Inhalt der Prozessakten wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Auf die Berufung der Beklagten hin ist das angefochtene Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Berufung der Beklagten ist nach den Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes form- und fristgerecht eingereicht worden und daher zulässig. Sie ist auch begründet.

Das Sozialgericht hätte der Klage nicht stattgeben dürfen. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten nicht dem Grunde nach Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz. Ein Entschädigungsanspruch des afghanischen Klägers dürfte zwar nicht bereits an den Voraussetzungen des § 1 Abs. 4, Abs. 5 OEG scheitern. Es fehlt jedoch am Nachweis eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen die Person des Klägers im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG.

Das Gewaltopferentschädigungsgesetz macht die Entschädigung grundsätzlich davon abhängig, dass ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff nachgewiesen und nicht nur wahrscheinlich ist. Ebenso wie allgemein im Sozialrecht müssen auch für eine soziale Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz alle anspruchsbegründenden Tatsachen zur Überzeugung des Tatrichters erwiesen sein, d.h. ohne vernünftige Zweifel oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen. Fehlt es daran, geht das zu Lasten des Klägers (objektive Beweis- oder Feststellungslast (Bundessozialgericht, BSG, Urteil vom 22.6.1988, BSGE Bd. 63 S. 270; siehe auch Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 19.12.1989, 1 BvR 1444/89; BSG, Urteil vom 6.9.1989, VdKMitt 1989 Nr. 11, 6; Urteil vom 10.11.1993, Die Leistungen 1995 S. 44)). In vielen Fällen eintretende Beweisschwierigkeiten rechtfertigen keine generelle Beweiserleichterung, etwa durch eine stets gebotene Annahme der Voraussetzungen des sogenannten Anscheins des Beweises oder durch geringere Anforderungen an die Beweiskraft. Denn den Beweisschwierigkeiten, die typischerweise in der sozialen Entschädigung vorkommen, hat der Gesetzgeber bereits durch begrenzte Regeln zugunsten der Geschädigten entsprochen. Vor allem braucht der ursächliche Zusammenhang zwischen einer Gesundheitsschädigung und einer bleibenden Gesundheitsstörung, die einen Entschädigungsanspruch begründet, nur wahrscheinlich zu sein (vgl. § 1 Abs. 3 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz). Außerdem sind nach § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung im Kriegsopferrecht (VfG-KOV) und deshalb auch für die Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (§ 6 Abs. 3 OEG) Beweiserleichterungen vorgesehen. Daraus folgt, dass es im sozialen Entschädigungsrecht eine weitere Beweiserleichterung, die sich auf alle zweifelhaften, aber nicht beweisbaren Tatsachen erstreckt, nicht gibt. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Sinn des Opferentschädigungsgesetzes. Zwar ist es richtig, dass das Gesetz gerade auch die Opfer entschädigen will, bei denen ein Täter nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass das Gesetz in allen Fällen einer unbekannten Täterschaft Anwendung finden müsste (BSG, Urteil vom 22.6.1988, a.a.O.; Urteil vom 27.4.1989, SozR 3800 § 1 Nr. 13; Urteil vom 31.5. 1989, BSGE Bd. 65 S. 123).

Lediglich die allgemein anerkannten Beweisgrundsätze können zu Beweiserleichterungen führen. Dazu zählen die Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins, die im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbar sind. Der Anscheinsbeweis ermöglicht bei sogenannten typischen Geschehensabläufen, von einer festgestellten Ursache auf einen bestimmten Erfolg oder von einem festgestellten Erfolg auf eine bestimmte Ursache zu schließen. Er beruht auf Erfahrungswissen. Es muss also ein Hergang zugrunde liegen, der erfahrungsgemäß in bestimmtem Sinne abläuft. Sind aber mehrere Geschehensabläufe oder Vorgänge möglich, dann ist diese Beweisregel ausgeschlossen, mag auch eine von mehreren Möglichkeiten, die für den Kläger günstig wäre, wahrscheinlicher sein als eine andere. Speziell zur Feststellung willensgesteuerter Verhaltensweisen, die regelmäßig durch die Individualität des Handelnden geprägt sind, eignet sich der Anscheinsbeweis häufig nicht (BSG, a.a.O.).

Was die Rechtswidrigkeit eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs angeht, so ist diese gesetzliche Anspruchsvoraussetzung als rechtliches Abstraktum allerdings auch im Opferentschädigungsrecht im Falle eines den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllenden Angriffs regelmäßig "indiziert", weshalb der Verletzte grundsätzlich das Fehlen von Rechtfertigungsgründen (oder genauer: rechtfertigenden Tatsachen) nicht zu beweisen hat (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 28.11.1984, Breithaupt 1986 S. 523, 525; dem folgend Kunz/Zellner, OEG, 4. Aufl., § 1 Rn. 13). Freilich handelt es sich bei dieser Regel nur um eine indizbegründende (vgl. Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch, 52. Aufl., vor § 13, Rn. 27 und 8), die nicht hilft, wenn Anhaltspunkte für einen Rechtfertigungsgrund vorhanden sind (Bayerisches Landessozialgericht, a.a.O., S. 526). Das Indiz bezeichnet nämlich keine beweisrechtliche Kategorie, sondern charakterisiert nur die prinzipiell unrechtsbegründende Bedeutung der Tatbestandsverwirklichung (Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, 26. Aufl., vor § 13 Rn. 17). Es trägt dem Umstand Rechnung, dass ein Verhalten, welches der abstrakten Umschreibung des Unrechtstypus entspricht, in der Regel auch rechtswidrig ist, weil der Unrechtstatbestand bereits alle für das Delikt charakteristischen Unrechtsmerkmale liefert. Das Indiz versagt, wenn im Einzelfall Umstände hinzukommen, die, gemessen am Unrechtstypus, atypisch sind (Lenckner in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 26. Aufl., Vorbem. zu §§ 13 ff. Rn. 46/47).

In diesem Sinne mag zwar nach allgemeiner Erfahrung grundsätzlich einem Geschehen, bei dem sich ein unbescholtener Bürger mit einem Messer im Bauch auf der Straße liegend wiederfindet, typischerweise ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff zugrunde liegen. Ein solch typischer Sachverhalt ist hier jedoch nicht gegeben, denn bei dem Kläger handelte es sich jedenfalls zur Zeit des Geschehens gerade nicht um einen Menschen, in dessen Sphäre das Hantieren mit Messern und anderen Waffen ungewöhnlich gewesen wäre. So ist er selbst wegen kurz zuvor mittels eines Messers begangener Straftaten bzw. wegen Drohens mit einem Messer verurteilt worden, und das trifft auch auf seinen Begleiter, den Zeugen A., zu. Nicht zuletzt kann nicht daran vorbeigesehen werden, dass der Freund des Klägers namens S1, mit dem zusammen er wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt wurde und der sich kurz nach Einlieferung des Klägers in das Universitätsklinikum E. dort einfand, im Jahre 2005 einen versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung begangen hat (Urteil des Landgerichts Hamburg vom 10.8.2007, 604 Ks 34/05). All dies zeigt, in welchem Umfeld sich der Kläger damals bewegte, und lässt die Überlegungen der Beklagten zu einem Geschehensablauf, bei dem dem Kläger in rechtfertigender Notwehr entgegengetreten worden sein könnte, nicht als abwegig erscheinen. Lassen nach alledem die Regeln des Anscheinsbeweises (bzw. die Regeln zur indizierten Rechtswidrigkeit) eine Überzeugungsbildung zu Gunsten des Klägers nicht zu, so gilt das erst recht im Hinblick auf seine eigenen Angaben zum Tathergang und diejenigen des Zeugen A. Insoweit weist nämlich die Beklagte zutreffend auf verschiedene Widersprüche zur Zahl der Angreifer, zu deren Verhalten usw. hin, die hier im Einzelnen nicht wiederholt zu werden brauchen. Schließlich können die Vorschriften des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung die Beweissituation des Klägers nicht verbessern. Nach § 6 Abs. 3 OEG in Verbindung mit § 15 VfG-KOV kann allerdings auf die Angaben des Geschädigten zu den Umständen der Schädigung abgestellt werden, soweit diese glaubhaft erscheinen. Glaubhaft gemacht ist diejenige Handlung, die unter mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Es muss dieser Möglichkeit das Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit der Handlung reicht nicht aus. Die subjektive Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit ist im Rahmen der Glaubhaftmachung nicht erforderlich. Das Gericht muss aber das Überwiegen einer Möglichkeit, wie es gewesen sein kann, feststellen können. Daran fehlt es. Der Kläger ist im vorliegenden Fall zwar in der Lage, Angaben zum Tatgeschehen zu machen (vgl. BSG, Urteil vom 28.6.2000, SozR 3-3900 § 15 Nr. 3). Schon diese Angaben für sich betrachtet reichen jedoch nicht aus, um die Rechtswidrigkeit eines auf ihn verübten Angriffs als die wahrscheinlichere Variante ansehen zu können. Der Kläger hat nämlich vor dem Sozialgericht ausgesagt, er sei dem Täter, nachdem er einen Schlag ins Gesicht bekommen habe, noch über die Straße nachgelaufen und habe ihn auch erwischt und ihn geschlagen. Erst dann habe er das Messer im Bauch gespürt. Diese Angaben hat er im Verhandlungstermin vor dem Senat nochmals bekräftigt. Wenn aber der Täter den Ort des ersten Angriffs bereits verlassen hatte, so dürfte dieser Angriff beendet gewesen sein, und der Messerstich stellt sich mit Wahrscheinlichkeit als Reaktion auf das Nacheilen und die Attacke des Klägers gegenüber dem Täter dar. In diesem Falle aber spräche selbst nach der Darstellung des Klägers vieles für eine Notwehrsituation. Nach alldem kommen Ansprüche des Klägers nach Opferentschädigungsrecht nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, ist nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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